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Das Konzept Stadtguerilla

Zwischen uns und dem Feind einen klaren Trennungsstrich ziehen!

Mao


Wenn der Feind uns bekämpft, ist das gut und nicht schlecht:
Ich bin der Meinung, daß es für uns - sei es für den Einzelnen, für eine
Partei, eine Armee oder eine Schule - schlecht ist, wenn der Feind nicht
gegen uns Front macht - denn in diesem Fall würde es doch bedeuten, daß
wir mit dem Feind unter einer Decke steckten. Wenn wir vom Feind bekämpft
werden, dann ist das gut; denn es ist ein Beweis, daß wir zwischen uns und
dem Feind einen klaren Trennungsstrich gezogen haben. Wenn uns der Feind
energisch entgegentritt, uns in den schwärzesten Farben malt und gar
nichts bei uns gelten läßt, dann ist das noch besser; denn es zeugt davon,
daß wir nicht nur zwischen uns und dem Feind eine klare Trennungslinie
gezogen haben, sondern daß unsere Arbeit auch glänzende Erfolge gezeitigt
hat.

Mao Tse Tung, 26. Mai 1939









I.

Konkrete Antworten auf konkrete Fragen


Ich beharre fest darauf, daß jemand, der keine Untersuchung angestellt
hat, auch kein Mitspracherecht haben kann. Mao Einige Genossen sind mit
ihrem Urteil über uns schon fertig. Für sie ist es eine "Demagogie der
bürgerlichen Presse", diese "anarchistische Gruppe" mit der
sozialistischen Bewegung überhaupt in Verbindung zu bringen. Indem sie ihn
falsch und denunziatorisch benutzen, hebt sich ihr Anarchismusbegriff von
dem der Springerpresse nicht ab. Auf einem so miesen Niveau möchten wir
uns mit niemandem unterhalten.


Viele Genossen wollen wissen, was wir uns dabei denken. Der Brief an "883"
vom Mai 70 war zu allgemein; das Tonband, das Michele Ray 1 hatte, wovon
Auszüge im "Spiegel" erschienen sind, war ohnehin nicht authentisch und
stammte aus dem Zusammenhang privatistischer Diskussion. Die Ray wollte es
als Gedächtnisstütze für einen selbständigen Artikel von sich benutzen.
Sie hat uns reingelegt, oder wir haben sie überschätzt. Wäre unsere Praxis
so überstürzt wie einige Formulierungen dort, hätten sie uns schon. Der
"Spiegel" hat der Ray ein Honorar von 1000 Dollar dafür bezahlt.
Daß fast alles, was die Zeitungen über uns schreiben - und wie sie es
schreiben: alles -, gelogen ist, ist klar. Entführungspläne mit Willy
Brandt sollen uns zu politischen Hornochsen stempeln, die Verbindung
zwischen einer Kindsentführung und uns zu Verbrechern, die in der Wahl der
Mittel skrupellos sind. Das geht bis in die "gesicherten Einzelheiten" in
"Konkret", wo allerdings schon die für die Sache belanglosen Details nur
zusammengeschludert wurden. Daß es bei uns "Offiziere und Soldaten" gäbe,
daß jemand jemandem "hörig" sei, daß jemals jemand "liquidiert" werden
sollte, daß Genossen, die sich von uns getrennt haben, noch was von uns zu
befürchten hätten, daß wir uns mit der vorgehaltenen Knarre Zutritt zu
Wohnungen oder Pässe verschafft hätten, daß "Gruppenterror" ausgeübt würde
- das alles ist nur Dreck.


Wer sich die illegale Organisation von bewaffnetem Widerstand nach dem
Muster von Freikorps und Feme vorstellt, will selbst das Pogrom.
Psychische Mechanismen, die solche Projektionen produzieren, sind in
Horkheimer/Adornos "Autoritärer Persönlichkeit" und in Reichs
"Massenpsychologie des Faschismus" im Zusammenhang mit dem Faschismus
analysiert worden. Der revolutionäre Zwangscharakter ist eine contradictio
in adjecto - ein Widerspruch, der nicht geht. Eine revolutionäre
politische Praxis unter den herrschenden Bedingungen - wenn nicht
überhaupt - setzt die permanente Integration von individuellem Charakter
und politischer Motivation voraus, d.h. politische Identität. Marxistische
Kritik und Selbstkritik hat mit "Selbstbefreiung" nichts, dagegen mit
revolutionärer Disziplin sehr viel zu tun. Wer hier "nur Schlagzeilen
machen" wollte, waren ganz sicher nicht einmal irgendwelche "linken
Organisationen", die - anonym - als Verfasser firmieren, sondern "Konkret"
selbst, dessen Herausgeber auch sonst als linke Hand von Eduard Zimmermann
Image-Pflege treibt, um diese bestimmte Wichsvorlage in einer bestimmten
Marktlücke zu behaupten.


Auch viele Genossen verbreiten Unwahrheiten über uns. Sie machen sich
damit fett, daß wir bei ihnen gewohnt hätten, daß sie unsere Reise in den
Nahen Osten organisiert hätten, daß sie über Kontakte informiert wären,
über Wohnungen, daß sie was für uns täten, obwohl sie nichts tun. Manche
wollen damit nur zeigen, daß sie "in" sind. So hat es Günther Voigt
erwischt, der sich gegenüber Dürrenmatt zum Baader-Befreier aufgeblasen
hatte, was er bereut haben wird, als die Bullen kamen. Das Dementi, auch
wenn es der Wahrheit entspricht, ist dann gar nicht so einfach. Manche
wollen damit beweisen, daß wir blöde sind, unzuverlässig, unvorsichtig,
durchgeknallt. Damit nehmen sie andere gegen uns ein. In Wirklichkeit
schließen sie nur von sich auf uns. Sie konsumieren. Wir haben mit diesen
Schwätzern, für die sich der antiimperialistische Kampf beim
Kaffee-Kränzchen abspielt, nichts zu tun. - Solche, die nicht schwatzen,
die einen Begriff von Widerstand haben, denen genug stinkt, um uns eine
Chance zu wünschen, die uns unterstützen, weil sie wissen, daß ihr Kram
lebenslängliche Integration und Anpassung nicht wert ist, gibt es viele.
Die Wohnung in der Knesebeckstraße 89 (Mahler-Verhaftung) ist nicht durch
eine Schlamperei von uns hochgegangen, sondern durch Verrat. Der
Denunziant war einer von uns. Dagegen gibt es für die, die das machen, was
wir machen, keinen Schutz; dagegen, daß Genossen von den Bullen fertig
gemacht werden, daß einer den Terror nicht aushalten kann, den das System
gegen die entfaltet, die es tatsächlich bekämpfen. Sie hätten nicht die
Macht, wenn sie nicht die Mittel hätten, die Schweine.


Manche geraten durch uns in einen unerträglichen Rechtfertigungsdruck. Um
der politischen Auseinandersetzung mit uns auszuweichen, der
Infragestellung der eigenen Praxis durch unsere Praxis, werden sogar
einfache Fakten verdreht. So wird z.B. immer noch behauptet, Baader hätte
nur drei oder neun oder zwölf Monate abzusitzen gehabt, obwohl die
richtigen Daten leicht zu ermitteln sind: drei Jahre für Brandstiftung,
sechs Monate von früher auf Bewährung, sechs Monate schätzungsweise für
Urkundenfälschung etc. - der Prozeß stand noch bevor. Von diesen 48
Monaten hatte Andreas Baader 14 in zehn hessischen Gefängnissen abgesessen
- neun Verlegungen wegen schlechter Führung, d.h. Organisierung von
Meuterei, Widerstand. Das Kalkül, mit dem die verbleibenden 34 Monate auf
drei, neun und zwölf heruntergefeilscht worden sind, hatte den Zweck, der
Gefangenenbefreiung vom 14. Mai auch noch den moralischen Wind aus den
Segeln zu nehmen. So rationalisieren einige Genossen ihre Angst vor den
persönlichen Konsequenzen, die die politische Auseinandersetzung mit uns
für sie haben würde.


Die Frage, ob die Gefangenenbefreiung auch dann gemacht worden wäre, wenn
wir gewußt hätten, daß ein Linke 2 dabei angeschossen wird - sie ist uns
oft genug gestellt worden -, kann nur mit Nein beantwortet werden. Die
Frage: was wäre gewesen, wenn, ist aber vieldeutig - pazifistisch,
platonisch, moralisch, unparteiisch. Wer ernsthaft über
Gefangenenbefreiung nachdenkt, stellt sie nicht, sondern sucht sich die
Antwort selbst. Mit ihr wollen Leute wissen, ob wir so brutalisiert sind,
wie uns die Springerpresse darstellt, da soll uns der Katechismus
abgefragt werden. Sie ist ein Versuch, an der Frage der revolutionären
Gewalt herumzufummeln, revolutionäre Gewalt und bürgerliche Moral auf
einen Nenner zu bringen, was nicht geht. Es gab bei Berücksichtigung aller
Möglichkeiten und Umstände keinen Grund für die Annahme, daß ein Ziviler
sich noch dazwischenwerfen könnte und würde. Daß die Bullen auf so einen
keine Rücksicht nehmen würden, war uns klar. Der Gedanke, man müßte eine
Gefangenenbefreiung unbewaffnet durchführen, ist selbstmörderisch.
Am 14. Mai, ebenso wie in Frankfurt, wo zwei von uns abgehauen sind, als
sie verhaftet werden sollten, weil wir uns nicht einfach verhaften lassen
- haben die Bullen zuerst geschossen. Die Bullen haben jedesmal gezielte
Schüsse abgegeben. Wir haben z.T. überhaupt nicht geschossen, und wenn,
dann nicht gezielt: in Berlin, in Nürnberg, in Frankfurt. Das ist
nachweisbar, weil es wahr ist. Wir machen nicht "rücksichtslos von der
Waffe Gebrauch". Der Bulle, der sich in dem Widerspruch zwischen sich als
"kleinem Mann" und als Kapitalistenknecht, als kleinem Gehaltsempfänger
und Vollzugsbeamten des Monopolkapitals befindet, befindet sich nicht im
Befehlsnotstand. Wir schießen, wenn auf uns geschossen wird. Den Bullen,
der uns laufen läßt, lassen wir auch laufen.


Es ist richtig, wenn behauptet wird, mit dem immensen Fahndungsaufwand
gegen uns sei die ganze sozialistische Linke in der Bundesrepublik und
Westberlin gemeint. Weder das bißchen Geld, das wir geklaut haben sollen,
noch die paar Auto- und Dokumentendiebstähle, derentwegen gegen uns
ermittelt wird, auch nicht der Mordversuch, den man uns anzuhängen
versucht, rechtfertigen für sich den Tanz. Der Schreck ist den
Herrschenden in die Knochen gefahren, die schon geglaubt hatten, diesen
Staat und alle seine Einwohner und Klassen und Widersprüche bis in den
letzten Winkel im Griff zu haben, die Intellektuellen wieder auf ihre
Zeitschriften reduziert, die Linken wieder in ihre Zirkel eingeschlossen,
den Marxismus-Leninismus entwaffnet, den Internationalismus demoralisiert
zu haben. So zimperlich freilich, wie die sich aufführten, so verletzbar
ist die Machtstruktur, die sie repräsentieren, nicht. Man sollte sich von
ihrem Gezeter nicht dazu verleiten lassen, selbst große Töne zu spucken.
Wir behaupten, daß die Organisierung von bewaffneten Widerstandsgruppen zu
diesem Zeitpunkt in der Bundesrepublik und Westberlin richtig ist, möglich
ist, gerechtfertigt ist. Daß es richtig, möglich und gerechtfertigt ist,
hier und jetzt Stadtguerilla zu machen. Daß der bewaffnete Kampf als "die
höchste Form des Marxismus-Leninismus" (Mao) jetzt begonnen werden kann
und muß, daß es ohne das keinen antiimperialistischen Kampf in den
Metropolen gibt.


Wir sagen nicht, daß die Organisierung illegaler bewaffneter
Widerstandsgrupen legale proletarische Organisationen ersetzen könnte und
Einzelaktionen Klassenkämpfe, und nicht, daß der bewaffnete Kampf die
politische Arbeit im Betrieb und im Stadtteil ersetzen könnte. Wir
behaupten nur, daß das eine die Voraussetzung für den Erfolg und den
Fortschritt des anderen ist. Wir sind keine Blanquisten und keine
Anarchisten, obwohl wir Blanqui für einen großen Revolutionär halten und
den persönlichen Heroismus vieler Anarchisten für ganz und gar nicht
verächtlich.
Unsere Praxis ist kein Jahr alt. Die Zeit ist zu kurz, um schon von
Ergebnissen reden zu können. Die große Öffentlichkeit, die uns die Herren
Genscher, Zimmermann & Co. 3 verschafft haben, läßt es uns aber
propagandistisch opportun erscheinen, schon jetzt einiges zu bedenken zu
geben.
"Wenn ihr allerdings wissen wollt, was die Kommunisten denken, dann seht
auf ihre Hände und nicht auf ihren Mund", sagt Lenin.









II.

Metropole Bundesrepublik


Die Krise entsteht nicht so sehr durch den Stillstand der
Entwicklungsmechanismen als vielmehr durch die Entwicklung selbst. Da sie
einzig das Anwachsen von Profit zum Ziel hat, speist diese Entwicklung
mehr und mehr den Parasitismus und die Vergeudung, benachteiligt sie ganze
soziale Schichten, produziert sie wachsende Bedürfnisse, die sie nicht
befriedigen kann, und beschleunigt sie den Zerfall des gesellschaftlichen
Lebens. Nur ein monströser Apparat kann die provozierten Spannungen und
Revolten durch Meinungsmanipulation und offene Repression kontrollieren.
Die Rebellion der Studenten und der Negerbewegung in Amerika, die Krise,
in die die politische Einheit der amerikanischen Gesellschaft geraten ist,
die Ausdehnung der studentischen Kämpfe in Europa, der heftige
Wiederbeginn und die neuen Inhalte des Arbeiter- und Massenkampfes bis hin
zur Explosion des "Mai" in Frankreich, zur tumultuarischen
Gesellschaftskrise in Italien und zum Wiederaufkommen von Unzufriedenheit
in Deutschland kennzeichnen die Situation.

Il Manifesto: Notwendigkeit des Kommunismus
Aus These 33

Die Genossen von Il Manifesto 4 nennen bei dieser Aufzählung die
Bundesrepublik zurecht an letzter Stelle und benennen das, was die
Situation hier kennzeichnet, nur vage als "Unzufriedenheit". Die
Bundesrepublik, von der Barzel (5) vor sechs Jahren noch gesagt hat, sie
sei ein wirtschaftlicher Riese, aber ein politischer Zwerg - ihre
ökonomische Stärke ist seither nicht weniger geworden, ihre politische
Stärke mehr, nach innen und außen. Mit der Bildung der Großen Koalition
1966 kam man der politischen Gefahr, die aus der damals bevorstehenden
Rezession hätte spontan entstehen können, zuvor. Mit den Notstandsgesetzen
hat man sich das Instrument geschaffen, das einheitliches Handeln der
Herrschenden auch in zukünftigen Krisensituationen sichert - die Einheit
zwischen politischer Reaktion und allen, denen an Legalität noch gelegen
sein würde. Der sozial-liberalen Koalition ist es gelungen, die
"Unzufriedenheit", die sich durch Studentenbewegung und
außerparlamentarische Bewegung bemerkbar gemacht hatte, weitgehend zu
absorbieren, insofern der Reformismus der Sozialdemokratischen Partei im
Bewußtsein ihrer Anhänger noch nicht abgewirtschaftet hat, sie mit ihren
Reformversprechen auch für große Teile der Intelligenz die Aktualität
einer kommunistischen Alternative aufschieben, dem antikapitalistischen
Protest die Schärfe nehmen konnte. Ihre Ostpolitik erschließt dem Kapital
neue Märkte, besorgt den deutschen Beitrag zum Ausgleich und Bündnis
zwischen US-Imperialismus und Sowjetunion, den die USA brauchen, um freie
Hand für ihre Aggressionskriege in der Dritten Welt zu haben. Dieser
Regierung scheint es auch zu gelingen, die Neue Linke von den alten
Antifaschisten zu trennen und damit die Neue Linke einmal mehr von ihrer
Geschichte, der Geschichte der Arbeiterbewegung, zu isolieren. Die DKP,
die ihre Zulassung der neuen Komplizenschaft
US-Imperialismus/Sowjetrevisionismus verdankt, veranstaltet
Demonstrationen für die Ostpolitik dieser Regierung; Niemöller -
antifaschistische Symbolfigur - wirbt für die SPD in bevorstehenden
Wahlkämpfen. -
Unter dem Vorwand "Gemeinwohl" nahm staatlicher Dirigismus mit
Lohnleitlinien und Konzertierter Aktion 6 die Gewerkschaftsbürokratien an
die Kandare. Die Septemberstreiks '69 (7) zeigten, daß man den Bogen
zugunsten des Profits überspannt hatte, zeigten in ihrem Verlauf als
nur-ökonomische Streiks, wie fest man das Heft in der Hand hat.
Die Tatsache, daß die Bundesrepublik mit ihren annähernd zwei Millionen
ausländischen Arbeitern in der sich abzeichnenden Rezession eine
Arbeitslosigkeit bis zu annähernd 10 Prozent dazu wird benutzen können,
den ganzen Terror, den ganzen Disziplinierungsmechanismus, der
Arbeitslosigkeit für das Proletariat bedeutet, zu entfalten, ohne ein Heer
von Arbeitslosen verkraften zu müssen, ohne die politische Radikalisierung
dieser Massen am Hals zu haben, verschafft einen Begriff von der Stärke
des Systems.
Durch Entwicklungs- und Militärhilfe an den Aggressionskriegen der USA
beteiligt, profitiert die Bundesrepublik von der Ausbeutung der Dritten
Welt, ohne die Verantwortung für diese Kriege zu haben, ohne sich deswegen
mit einer Opposition im Innern streiten zu müssen. Nicht weniger aggressiv
als der US-Imperialismus, ist sie doch weniger angreifbar.
Die politischen Möglichkeiten des Imperialismus sind hier weder in ihrer
reformistischen noch in ihrer faschistischen Variante erschöpft, seine
Fähigkeiten, die von ihm selbst erzeugten Widersprüche zu integrieren oder
zu unterdrücken, nicht am Ende.
Das Konzept Stadtguerilla der Roten Armee Fraktion basiert nicht auf einer
optimistischen Einschätzung der Situation in der Bundesrepublik und
Westberlin.









III.

Studentenrevolte


Aus der Erkenntnis des einheitlichen Charakters des kapitalistischen
Herrschaftssystems resultiert, daß es unmöglich ist, die Revolution "in
den Hochburgen" von der "in den rückständigen Gebieten" zu trennen. Ohne
eine Wiederbelebung der Revolution im Westen kann nicht mit Sicherheit
verhindert werden, daß der Imperialismus durch seine Logik der Gewalt dazu
fortgerissen wird, seinen Ausweg in einem katastrophischen Krieg zu
suchen, oder daß die Supermächte der Welt ein erdrückendes Joch
aufzwingen. Il Manifesto.

Aus These 52



Die Studentenbewegung als kleinbürgerliche Revolte abtun heißt: sie auf
die Selbstüberschätzungen, die sie begleiten, reduzieren; heißt: ihren
Ursprung aus dem konkreten Widerspruch zwischen bürgerlicher Ideologie und
bürgerlicher Gesellschaft leugnen; heißt: mit der Erkenntnis ihrer
notwendigen Begrenztheit das theoretische Niveau verleugnen, das ihr
antikapitalistischer Protest schon erreicht hatte.


Gewiß war das Pathos übertrieben, mit dem sich die Studenten, die sich
ihrer psychischen Verelendung in Wissenschaftsfabriken bewußt geworden
waren, mit den ausgebeuteten Völkern Lateinamerikas, Afrikas und Asiens
identifizierten; stellte der Vergleich zwischen der Massenauflage der
"Bild"-Zeitung hier und dem Massenbombardement auf Vietnam eine grobe
Vereinfachung dar; war der Vergleich zwischen ideologischer Systemkritik
hier und bewaffnetem Kampf dort überheblich; war der Glaube, selbst das
revolutionäre Subjekt zu sein - soweit er unter Berufung auf Marcuse 8
verbreitet war -, gegenüber der tatsächlichen Gestalt der bürgerlichen
Gesellschaft und den sie begründenden Produktionsverhältnissen ignorant.
Es ist das Verdienst der Studentenbewegung in der Bundesrepublik und
Westberlin - ihrer Straßenkämpfe, Brandstiftungen, Anwendung von
Gegengewalt, ihres Pathos, also auch ihrer Übertreibungen und Ignoranz,
kurz: ihrer Praxis, den Marxismus-Leninismus im Bewußtsein wenigstens der
Intelligenz als diejenige politische Theorie rekonstruiert zu haben, ohne
die politische, ökonomische und ideologische Tatsachen und ihre
Erscheinungsformen nicht auf den Begriff zu bringen sind, ihr innerer und
äußerer Zusammenhang nicht zu beschreiben ist.


Gerade weil die Studentenbewegung von der konkreten Erfahrung des
Widerspruchs zwischen der Ideologie der Freiheit der Wissenschaft und der
Realität der dem Zugriff des Monopolkapitals ausgesetzten Universität
ausging, weil sie nicht nur ideologisch initiiert war, ging ihr die Puste
nicht aus, bis sie dem Zusammenhang zwischen der Krise der Universität und
der Krise des Kapitalismus wenigstens theoretisch auf den Grund gegangen
war. Bis ihnen und ihrer Öffentlichkeit klar war, daß nicht "Freiheit,
Gleichheit, Brüderlichkeit", nicht Menschenrechte, nicht UNO-Charta den
Inhalt dieser Demokratie ausmachen; daß hier gilt, was für die
kolonialistische und imperialistische Ausbeutung Lateinamerikas, Afrikas
und Asiens immer gegolten hat: Disziplin, Unterordnung und Brutalität für
die Unterdrückten, für die, die sich auf deren Seite stellen, Protest
erheben, Widerstand leisten, den antiimperialistischen Kampf führen.
Ideologiekritisch hat die Studentenbewegung nahezu alle Bereiche
staatlicher Repression als Ausdruck imperialistischer Ausbeutung erfaßt:
in der Springerkampagne, in den Demonstrationen gegen die amerikanische
Aggression in Vietnam, in der Kampagne gegen die Klassenjustiz, in der
Bundeswehrkampagne, gegen die Notstandsgesetze, in der Schülerbewegung.
Enteignet Springer!, Zerschlagt die Nato!, Kampf dem Konsumterror!, Kampf
dem Erziehungsterror!, Kampf dem Mietterror! waren richtige politische
Parolen. Sie zielten auf die Aktualisierung der vom Spätkapitalismus
selbst erzeugten Widersprüche im Bewußtsein aller Unterdrückten, zwischen
neuen Bedürfnissen und den durch die Entwicklung der Produktivkräfte neuen
Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung auf der einen Seite und dem Druck
irrationaler Unterordnung in der Klassengesellschaft als Kehrseite.
Was ihr Selbstbewußtsein gab, waren nicht entfaltete Klassenkämpfe hier,
sondern das Bewußtsein, Teil einer internationalen Bewegung zu sein, es
mit demselben Klassenfeind hier zu tun zu haben wie der Vietcong dort, mit
demselben Papiertiger, mit denselben Pigs.


Die provinzialistische Abkapselung der alten Linken durchbrochen zu haben,
ist das zweite Verdienst der Studentenbewegung: Die Volksfrontstrategie
der alten Linken als Ostermarsch, Deutsche Friedensunion, "Deutsche
Volkszeitung", als irrationale Hoffnung auf den "großen Erdrutsch" bei
irgendwelchen Wahlen, ihre parlamentarische Fixierung auf Strauß hier,
Heinemann da, ihre pro- und antikommunistische Fixierung auf die DDR, ihre
Isolation, ihre Resignation, ihre moralische Zerrissenheit: zu jedem Opfer
bereit, zu keiner Praxis fähig zu sein. Der sozialistische Teil der
Studentenbewegung nahm - trotz theoretischer Ungenauigkeiten - sein
Selbstbewußtsein aus der richtigen Erkenntnis, daß "die revolutionäre
Initiative im Westen auf die Krise des globalen Gleichgewichts und auf das
Heranreifen neuer Kräfte in allen Ländern vertrauen kann" (These 55 von Il
Manifesto). Sie machten zum Inhalt ihrer Agitation und Propaganda das,
worauf sie sich angesichts der deutschen Verhältnisse hauptsächlich
berufen konnten: daß gegenüber der Globalstrategie des Imperialismus die
Perspektive nationaler Kämpfe internationalistisch zu sein hat, daß erst
die Verbindung nationaler Inhalte mit internationalen, traditioneller
Kampfformen mit internationalistischen revolutionäre Initiative
stabilisieren kann. Sie machten ihre Schwäche zu ihrer Stärke, weil sie
erkannt hatten, daß nur so erneute Resignation, provinzialistische
Abkapselung, Reformismus, Volksfrontstrategie, Integration verhindert
werden können - die Sackgassen sozialistischer Politik unter post- und
präfaschistischen Bedingungen, wie sie in der Bundesrepublik und
Westberlin bestehen.


Die Linken wußten damals, daß es richtig sein würde, sozialistische
Propaganda im Betrieb mit der tatsächlichen Verhinderung der Auslieferung
der "Bild"-Zeitung zu verbinden. Daß es richtig wäre, die Propaganda bei
den GI's, sich nicht nach Vietnam schicken zu lassen, mit tatsächlichen
Angriffen auf Militärflugzeuge für Vietnam zu verbinden, die
Bundeswehrkampagne mit tatsächlichen Angriffen auf Nato-Flughäfen. Daß es
richtig wäre, die Kritik an der Klassenjustiz mit dem Sprengen von
Gefängnismauern zu verbinden, die Kritik am Springerkonzern mit der
Entwaffnung seines Werkschutzes, richtig, einen eigenen Sender in Gang zu
setzen, die Polizei zu demoralisieren, illegale Wohnungen für
Bundeswehrdeserteure zu haben, für die Agitation bei ausländischen
Arbeitern Personalpapiere fälschen zu können, durch Betriebssabotage die
Produktion von Napalm zu verhindern.
Und falsch, seine eigene Propaganda von Angebot und Nachfrage abhängig zu
machen: keine Zeitung, wenn die Arbeiter sie noch nicht finanzieren, kein
Auto, wenn die "Bewegung" es noch nicht kaufen kann, keinen Sender, weil
es keine Lizenz dafür gibt, keine Sabotage, weil der Kapitalismus davon
nicht gleich zusammenbricht.


Die Studentenbewegung zerfiel, als ihre spezifisch
studentisch-kleinbürgerliche Organisationsform, das "Antiautoritäre
Lager", sich als ungeeignet erwies, eine ihren Zielen angemessene Praxis
zu entwickeln, ihre Spontaneität weder einfach in die Betriebe zu
verlängern war noch in eine funktionsfähige Stadtguerilla noch in eine
sozialistische Massenorganisation. Sie zerfiel, als der Funke der
Studentenbewegung - anders als in Italien und Frankreich - nicht zum
Steppenbrand entfalteter Klassenkämpfe geworden war. Sie konnte die Ziele
und Inhalte des antiimperialistischen Kampfes benennen - selbst nicht das
revolutionäre Subjekt, konnte sie deren organisatorische Vermittlung nicht
leisten.

Die Rote Armee Fraktion leugnet im Unterschied zu den "proletarischen
Organisationen" der Neuen Linken ihre Vorgeschichte als Geschichte der
Studentenbewegung nicht, die den Marxismus-Leninismus als Waffe im
Klassenkampf rekonstruiert und den internationalen Kontext für den
revolutionären Kampf in den Metropolen hergestellt hat.





IV.

Primat der Praxis


Wer ein bestimmtes Ding oder einen Komplex von Dingen direkt kennenlernen
will, muß persönlich am praktischen Kampf zur Veränderung der
Wirklichkeit, zur Veränderung des Dinges oder des Komplexes von Dingen
teilnehmen, denn nur so kommt er mit der Erscheinung der betreffenden
Dinge in Berührung, und erst durch die persönliche Teilnahme am
praktischen Kampf zur Veränderung der Wirklichkeit ist er imstande, das
Wesen jenes Dinges bzw. jenes Komplexes von Dingen zu enthüllen und sie zu
verstehen.
Aber der Marxismus legt der Theorie darum und nur darum ernste Bedeutung
bei, weil sie die Anleitung zum Handeln sein kann. Wenn man über eine
richtige Theorie verfügt, sie aber nur als etwas behandelt, worüber man
einmal schwatzt, um es dann in die Schublade zu legen, was man jedoch
keineswegs in die Praxis umsetzt, dann wird diese Theorie, so gut sie auch
sein mag, bedeutungslos.

Mao Tse Tung: Über die Praxis


Die Hinwendung der Linken, der Sozialisten, die zugleich die Autoritäten
der Studentenbewegung waren, zum Studium des wissenschaftlichen
Sozialismus, die Aktualisierung der Kritik der politischen Ökonomie als
ihrer Selbstkritik an der Studentenbewegung, war gleichzeitig die Rückkehr
zu ihren studentischen Schreibtischen. Nach ihrer Papierproduktion zu
urteilen, ihren Organisationsmodellen, dem Aufwand, den sie mit und in
ihren Erklärungen treiben, könnte man meinen, hier beanspruchten
Revolutionäre die Führung in gewaltigen Klassenkämpfen, als wäre das Jahr
1967/68 das 1905 des Sozialismus in Deutschland. Wenn Lenin 1903 in "Was
tun?" das Theoriebedürfnis der russischen Arbeiter hervorhob und gegenüber
Anarchisten und Sozialrevolutionären die Notwendigkeit von Klassenanalyse
und Organisation und entlarvender Propaganda postulierte, dann, weil
massenhafte Klassenkämpfe im Gange waren. "Das ist es ja gerade, daß die
Arbeitermassen durch die Niederträchtigkeit des russischen Lebens sehr
stark aufgerüttelt werden, wir verstehen es nur nicht, alle jene Tropfen
und Rinnsale der Volkserregung zu sammeln und - wenn man so sagen darf -
zu konzentrieren, die aus dem russischen Leben in unermeßlich größerer
Menge hervorquellen, als wir alle es uns vorstellen und glauben, die aber
zu einem gewaltigen Strom vereinigt werden müssen."

(Lenin: Was tun?)


Wir bezweifeln, ob es unter den gegenwärtigen Bedingungen in der
Bundesrepublik und Westberlin überhaupt schon möglich ist, eine die
Arbeiterklasse vereinigende Strategie zu entwikkeln, eine Organisation zu
schaffen, die gleichzeitig Ausdruck und Initiator des notwendigen
Vereinheitlichungsprozesses sein kann. Wir bezweifeln, daß sich das
Bündnis zwischen der sozialistischen Intelligenz und dem Proletariat durch
programmatische Erklärungen "schweißen", durch ihrem Anspruch nach
proletarische Organisationen erzwingen läßt. Die Tropfen und Rinnsale über
die Niederträchtigkeiten des deutschen Lebens sammelt bislang noch der
Springer-Konzern und leitet sie neuen Niederträchtigkeiten zu.
Wir behaupten, daß ohne revolutionäre Initiative, ohne die praktische
revolutionäre Intervention der Avantgarde, der sozialistischen Arbeiter
und Intellektuellen, ohne den konkreten antiimperialistischen Kampf es
keinen Vereinheitlichungsprozeß gibt, daß das Bündnis nur in gemeinsamen
Kämpfen hergestellt wird oder nicht, in denen der bewußte Teil der
Arbeiter und Intellektuellen nicht Regie zu führen, sondern voranzugehen
hat.


In der Papierproduktion der Organisationen erkennen wir ihre Praxis
hauptsächlich nur wieder als den Konkurrenzkampf von Intellektuellen, die
sich vor einer imaginären Jury, die die Arbeiterklasse nicht sein kann,
weil ihre Sprache schon deren Mitsprache ausschließt, den Rang um die
bessere Marx-Rezeption ablaufen. Es ist ihnen peinlicher, bei einem
falschen Marx-Zitat ertappt zu werden als bei einer Lüge, wenn von ihrer
Praxis die Rede ist. Die Seitenzahlen, die sie in ihren Anmerkungen
angeben, stimmen fast immer, die Mitgliederzahlen, die sie für ihre
Organisationen angeben, stimmen fast nie. Sie fürchten sich vor dem
Vorwurf der revolutionären Ungeduld mehr als vor ihrer Korrumpierung in
bürgerlichen Berufen, mit Lukacz langfristig zu promovieren, ist ihnen
wichtig, sich von Blanqui kurzfristig agitieren zu lassen, ist ihnen
suspekt. Ihrem Internationalismus geben sie in Zensuren Ausdruck, mit
denen sie die eine palästinensische Kommandoorganisation vor der anderen
auszeichnen - weiße Herren, die sich als die wahren Sachwalter des
Marxismus aufspielen; sie bringen ihn in den Umgangsformen von
Mäzenatentum zum Ausdruck, indem sie befreundete Reiche im Namen der Black
Panther Partei 9 anbetteln und das, was die für ihren Ablaß zu geben
bereit sind, sich selbst beim lieben Gott gutschreiben lassen - nicht den
"Sieg im Volkskrieg" im Auge, nur um ihr gutes Gewissen besorgt. Eine
revolutionäre Interventionsmethode ist das nicht.


Mao stellte in seiner "Analyse der Klassen in der chinesischen
Geselschaft" (1926) den Kampf der Revolution und den Kampf der
Konterrevolution einander gegenüber als "das Rote Banner der Revolution,
hoch erhoben von der III. Internationale, die alle unterdrückten Klassen
in der Welt aufruft, sich um ihr Banner zu scharen; das andere ist das
Weiße Banner der Konterrevolution, erhoben vom Völkerbund, der alle
Konterrevolutionäre aufruft, sich um sein Banner zu scharen." Mao
unterschied die Klassen in der chinesischen Gesellschaft danach, wie sie
sich zwischen Rotem und Weißem Banner beim Fortschreiten der Revolution in
China entscheiden würden. Es genügte ihm nicht, die ökonomische Lage der
verschiedenen Klassen in der Chinesischen Gesellschaft zu analysieren.
Bestandteil seiner Klassenanalyse war ebenso die Einstellung der
verschiedenen Klassen zur Revolution.


Eine Führungsrolle der Marxisten-Leninisten in zukünftigen Klassenkämpfen
wird es nicht geben, wenn die Avantgarde selbst nicht das Rote Banner des
Proletarischen Internationalismus hochhält und wenn die Avantgarde selbst
die Frage nicht beantwortet, wie die Diktatur des Proletariats zu
errichten sein wird, wie die politische Macht des Proletariats zu
erlangen, wie die Macht der Bourgeoisie zu brechen ist, und durch keine
Praxis darauf vorbereitet ist, sie zu beantworten. Die Klassenanalyse, die
wir brauchen, ist nicht zu machen ohne revolutionäre Praxis, ohne
revolutionäre Initiative.


Die "revolutionären Übergangsforderungen", die die proletarischen
Organisationen landauf landab aufgestellt haben, wie Kampf der
Intensivierung der Ausbeutung, Verkürzung der Arbeitszeit, gegen die
Vergeudung von gesellschaftlichem Reichtum, gleicher Lohn für Männer und
Frauen und ausländische Arbeiter, gegen Akkordhetze etc., - diese
Übergangsforderungen sind nichts als gewerkschaftlicher Ökonomismus,
solange nicht gleichzeitig die Frage beantwortet wird, wie der politische,
militärische und propagandistische Druck zu brechen sein wird, der sich
schon diesen Forderungen aggressiv in den Weg stellen wird, wenn sie in
massenhaften Klassenkämpfen erhoben werden. Dann aber - wenn es bei ihnen
bleibt - sind sie nur noch ökonomistischer Dreck, weil es sich um sie
nicht lohnt, den revolutionären Kampf aufzunehmen und zum Sieg zu führen,
wenn "siegen heißt, prinzipiell akzeptieren, daß das Leben nicht das
höchste Gut des Revolutionärs ist" (Debray - 10). Mit diesen Forderungen
kann man gewerkschaftlich intervenieren - "die tradeunionistische Politik
der Arbeiterklasse ist aber eben bürgerliche Politik der Arbeiterklasse"
(Lenin). Eine revolutionäre Interventionsmethode ist sie nicht.


Die sogenannten proletarischen Organisationen unterscheiden sich, wenn sie
die Frage der Bewaffnung als Antwort auf die Notstandsgesetze, die
Bundeswehr, den Bundesgrenzschutz, die Polizei, die Springerpresse nicht
aufwerfen, opportunistisch verschweigen, nur insoweit von der DKP, als sie
noch weniger in den Massen verankert sind, als sie wortradikaler sind, als
sie theoretisch mehr drauf haben. Praktisch begeben sie sich auf das
Niveau von Bürgerrechtlern, die es auf Popularität um jeden Preis
abgesehen haben, unterstützen sie die Lügen der Bourgeoisie, daß in diesem
Staat mit den Mitteln der parlamentarischen Demokratie noch was
auszurichten sei, ermutigen sie das Proletariat zu Kämpfen, die angesichts
des Potentials an Gewalt in diesem Staat nur verloren werden können - auf
barbarische Weise. "Diese marxistisch-leninistischen Fraktionen oder
Parteien" - schreibt Debray über die Kommunisten in Lateinamerika -
"bewegen sich innerhalb derselben politischen Fragestellungen, wie sie von
der Bourgeoisie beherrscht werden. Anstatt sie zu verändern, haben sie
dazu beigetragen, sie noch fester zu verankern ..."


Den Tausenden von Lehrlingen und Jugendlichen, die aus ihrer Politisierung
während der Studentenbewegung erstmal den Schluß gezogen haben, sich dem
Ausbeutungsdruck im Betrieb zu entziehen, bieten diese Organisationen
keine politische Perspektive mit dem Vorschlag, sich dem kapitalistischen
Ausbeutungsdruck erstmal wieder anzupassen. Gegenüber der
Jugendkriminalität nehmen sie praktisch den Standpunkt von
Gefängnisdirektoren ein, gegenüber den Genossen im Knast den Standpunkt
ihrer Richter, gegenüber dem Untergrund den Standpunkt von
Sozialarbeitern.


Praxislos ist die Lektüre des "Kapital" nichts als bürgerliches Studium.
Praxislos sind programmatische Erklärungen nur Geschwätz. Praxislos ist
proletarischer Internationalismus nur Angeberei. Theoretisch den
Standpunkt des Proletariats einnehmen heißt, ihn praktisch einnehmen.
Die Rote Armee Fraktion redet vom Primat der Praxis. Ob es richtig ist,
den bewaffneten Widerstand jetzt zu organisieren, hängt davon ab, ob es
möglich ist; ob es möglich ist, ist nur praktisch zu ermitteln.









V.

Stadtguerilla


Somit muß man von seinem Wesen her, aus einer langen Perspektive, in
strategischer Hinsicht den Imperialismus und alle Reaktionäre als das
betrachten, was sie in Wirklichkeit sind: als Papiertiger. Darauf müssen
wir unser strategisches Denken gründen. Andererseits sind sie aber
wiederum lebendige, eisenharte, wirkliche Tiger, die Menschen fressen.
Darauf müssen wir unser taktisches Denken gründen.

Mao Tse Tung, 1.12.1958


Wenn es richtig ist, daß der amerikanische Imperialismus ein Papiertiger
ist, d.h. daß er letzten Endes besiegt werden kann; und wenn die These der
chinesischen Kommunisten richtig ist, daß der Sieg über den amerikanischen
Imperialismus dadurch möglich geworden ist, daß an allen Ecken und Enden
der Welt der Kampf gegen ihn geführt wird, so daß dadurch die Kräfte des
Imperialismus zersplittert werden und durch ihre Zersplitterung schlagbar
werden - wenn das richtig ist, dann gibt es keinen Grund, irgendein Land
und irgendeine Region aus dem antiimperialistischen Kampf deswegen
auszuschließen oder auszuklammern, weil die Kräfte der Revolution dort
besonders schwach, weil die Kräfte der Reaktion dort besonders stark sind.
Wie es falsch ist, die Kräfte der Revolution zu entmutigen, indem man sie
unterschätzt, ist es falsch, ihnen Auseinandersetzungen vorzuschlagen, in
denen sie nur verheizt und kaputtgemacht werden können. Der Widerspruch
zwischen den ehrlichen Genossen in den Organisationen - lassen wir die
Schwätzer mal raus - und der Roten Armee Fraktion ist der, daß wir ihnen
vorwerfen, die Kräfte der Revolution zu entmutigen, und daß sie uns
verdächtigen, wir würden die Kräfte der Revolution verheizen. Daß damit
die Richtung angegeben wird, in der die Fraktion der in Betrieben und
Stadtteilen arbeitenden Genossen und die Rote Armee Fraktion den Bogen
überspannen, wenn sie ihn überspannen, entspricht der Wahrheit.
Dogmatismus und Abenteurertum sind seit je die charakteristischen
Abweichungen in Perioden der Schwäche der Revolution in einem Land. Da
seit je die Anarchisten die schärfsten Kritiker des Opportunismus waren,
setzt sich dem Anarchismus-Vorwurf aus, wer die Opportunisten kritisiert.
Das ist gewissermaßen ein alter Hut.


Das Konzept Stadtguerilla stammt aus Lateinamerika. Es ist dort, was es
auch hier nur sein kann: die revolutionäre Interventionsmethode von
insgesamt schwachen revolutionären Kräften.
Stadtguerilla geht davon aus, daß es die preußische Marschordnung nicht
geben wird, in der viele sogenannte Revolutionäre das Volk in den
revolutionären Kampf führen möchten. Geht davon aus, daß dann, wenn die
Situation reif sein wird für den bewaffneten Kampf, es zu spät sein wird,
ihn erst vorzubereiten. Daß es ohne revolutionäre Initiative in einem
Land, dessen Potential an Gewalt so groß, dessen revolutionäre Traditionen
so kaputt und so schwach sind wie in der Bundesrepublik, auch dann keine
revolutionäre Orientierung geben wird, wenn die Bedingungen für den
revolutionären Kampf günstiger sein werden, als sie es jetzt schon sind -
aufgrund der politischen und ökonomischen Entwicklung des Spätkapitalismus
selbst.


Stadtguerilla ist insofern die Konsequenz aus der längst vollzogenen
Negation der parlamentarischen Demokratie durch ihre Repräsentanten
selbst, die unvermeidliche Antwort auf Notstandsgesetze und
Handgranatengesetz, die Bereitschaft, mit den Mitteln zu kämpfen, die das
System für sich bereitgestellt hat, um seine Gegner auszuschalten.
Stadtguerilla basiert auf der Anerkennung der Tatsachen statt der Apologie
von Tatsachen.
Was Stadtguerilla machen kann, hat die Studentenbewegung teilweise schon
gewußt. Sie kann die Agitation und Propaganda, worauf linke Arbeit noch
reduziert ist, konkret machen. Das kann man sich für die Springerkampagne
von damals vorstellen und für die Carbora-Bassa-Kampagne 11 der
Heidelberger Studenten, für die Hausbesetzungen in Frankfurt, in bezug auf
die Militärhilfen, die die Bundesrepublik den Kompradoren-Regimes in
Afrika gibt, in bezug auf die Kritik am Strafvollzug und an der
Klassenjustiz, am Werkschutz und innerbetrieblicher Justiz. Sie kann den
verbalen Internationalismus konkretisieren als die Beschaffung von Waffen
und Geld. Sie kann die Waffe des Systems, die Illegalisierung von
Kommunisten, stumpf machen, indem sie einen Untergrund organisiert, der
dem Zugriff der Polizei entzogen bleibt. Stadtguerilla ist eine Waffe im
Klassenkampf.


Stadtguerilla ist bewaffneter Kampf, insofern es die Polizei ist, die
rücksichtslos von der Schußwaffe Gebrauch macht, und die Klassenjustiz,
die Kurras 12 freispricht und die Genossen lebendig begräbt, wenn wir sie
nicht daran hindern. Stadtguerillla heißt, sich von der Gewalt des Systems
nicht demoralisieren zu lassen.
Stadtguerilla zielt darauf, den staatlichen Herrschaftsapparat an
einzelnen Punkten zu destruieren, stellenweise außer Kraft zu setzen, den
Mythos von der Allgegenwart des Systems und seiner Unverletzbarkeit zu
zerstören.


Stadtguerilla setzt die Organisierung eines illegalen Apparates voraus,
das sind Wohnungen, Waffen, Munition, Autos, Papiere. Was dabei im
einzelnen zu beachten ist, hat Marighela in seinem "Minihandbuch der
Stadtguerilla" beschrieben. Was dabei noch zu beachten ist, sind wir
jederzeit jedem bereit zu sagen, der es wissen muß, wenn er es machen
will. Wir wissen noch nicht viel, aber schon einiges.


Wichtig ist, daß man, bevor man sich entschließt, bewaffnet zu kämpfen,
legale politische Erfahrungen gemacht hat. Wo der Anschluß an die
revolutionäre Linke auch noch einem modischen Bedürfnis entspricht,
schließt man sich besser nur da an, von wo man wieder zurück kann.
Rote Armee Fraktion und Stadtguerilla sind diejenige Fraktion und Praxis,
die, indem sie einen klaren Trennungsstrich zwischen sich und dem Feind
ziehen, am schärfsten bekämpft werden. Das setzt politische Identität
voraus, das setzt voraus, daß einige Lernprozesse schon gelaufen sind.
Unser ursprüngliches Organisationskonzept beinhaltete die Verbindung von
Stadtguerilla und Basisarbeit. Wir wollten, daß jeder von uns gleichzeitig
im Stadtteil oder im Betrieb in den dort bestehenden sozialistischen
Gruppen mitarbeitet, den Diskussionsprozeß mit beeinflußt, Erfahrungen
macht, lernt. Es hat sich gezeigt, daß das nicht geht. Daß die Kontrolle,
die die politische Polizei über diese Gruppen hat, ihre Treffen, ihre
Termine, ihre Diskussionsinhalte, schon jetzt so weit reicht, daß man dort
nicht sein kann, wenn man auch noch unkontrolliert sein will. Daß der
einzelne die legale Arbeit nicht mit der illegalen verbinden kann.
Stadtguerilla setzt voraus, sich über seine eigene Motivation im klaren zu
sein, sicher zu sein, daß "Bild"-Zeitungsmethoden bei einem nicht mehr
verfangen, daß das Antisemitismus-Kriminellen-Untermenschen-Mord&Brand-Syndrom,

das sie auf Revolutionäre anwenden, die ganze Scheiße, die nur die abzusondern und zu
artikulieren imstande sind und die immer noch viele Genossen in ihrem
Urteil über uns beeinflußt, daß die einen nicht trifft.
Denn natürlich überläßt uns das System nicht das Terrain, und es gibt kein
Mittel - auch keines der Verleumdung -, das sie nicht gegen uns anzuwenden
entschlossen wären.


Und es gibt keine Öffentlichkeit, die ein anderes Ziel hätte, als die
Interessen des Kapitals auf die eine oder andere Art wahrzunehmen, und es
gibt noch keine sozialistische Öffentlichkeit, die über sich selbst, ihre
Zirkel, ihren Handvertrieb, ihre Abonnenten hinausreichte, die sich nicht
noch hauptsächlich in zufälligen, privaten, persönlichen, bürgerlichen
Umgangsformen abspielte. Es gibt keine Publikationsmittel, die nicht vom
Kapital kontrolliert würden, über das Anzeigengeschäft, über den Ehrgeiz
der Schreiber, sich in das ganz große Establishment reinzuschreiben, über
die Rundfunkräte, über die Konzentration auf dem Pressemarkt. Herrschende
Öffentlichkeit ist die Öffentlichkeit der Herrschenden, in Marktlücken
aufgeteilt, schichtenspezifische Ideologien entwickelnd, was sie
verbreiten, steht im Dienst ihrer Selbstbehauptung auf dem Markt.

Die journalistische Kategorie heißt: Verkauf. Die Nachricht als Ware, die
Information als Konsum. Was nicht konsumierbar ist, muß sie ankotzen.
Leserblattbindung bei den anzeigenintensiven Publikationsmitteln,
ifas-Punktsysteme beim Fernsehen - das kann keine Widersprüche zwischen
sich und dem Publikum aufkommen lassen, keine antagonistischen, keine mit
Folgen. Den Anschluß an den mächtigsten Meinungsbildner am Markt muß
halten, wer sich am Markt halten will; d.h. die Abhängigkeit vom
Springerkonzern wächst in dem Maße, als der Springerkonzern wächst, der
angefangen hat, auch die Lokalpresse einzukaufen. Die Stadtguerilla hat
von dieser Öffentlichkeit nichts anderes zu erwarten als erbitterte
Feindschaft. An marxistischer Kritik und Selbstkritik hat sie sich zu
orientieren, an sonst nichts. "Wer keine Angst vor Vierteilung hat, wagt
es, den Kaiser vom Pferd zu zerren", sagt Mao dazu.
Langfristigkeit und Kleinarbeit sind Postulate, die für die Stadtguerilla
erst recht gelten, insofern wir nicht nur davon reden, sondern auch danach
handeln. Ohne den Rückzug in bürgerliche Berufe offen zu halten, ohne die
Revolution noch mal an den Nagel im Reihenhaus hängen zu können, ohne also
auch das zu wollen, also mit dem Pathos, das Blanqui ausgedrückt hat: "Die
Pflicht eines Revolutionärs ist, immer zu kämpfen, trotzdem zu kämpfen,
bis zum Tod zu kämpfen."
- Es gibt keinen revolutionären Kampf und hat noch keinen gegeben, dessen
Moral nicht diese gewesen wäre: Rußland, China, Kuba, Algerien, Palästina,
Vietnam.


Manche sagen, die politischen Möglichkeiten der Organisierung, der
Agitation, der Propaganda seien noch längst nicht erschöpft, aber erst
dann, wenn sie erschöpft seien, könnte man die Frage der Bewaffnung
aufwerfen. Wir sagen: Die politischen Möglichkeiten werden solange nicht
wirklich ausgenutzt werden können, solange das Ziel, der bewaffnete Kampf,
nicht als das Ziel der Politisierung zu erkennen ist, solange die
strategische Bestimmung, daß alle Reaktionäre Papiertiger sind, nicht
hinter der taktischen Bestimmung, daß sie Verbrecher, Mörder, Ausbeuter
sind, zu erkennen ist.
Von "bewaffneter Propaganda" werden wir nicht reden, sondern werden sie
machen. Die Gefangenenbefreiung lief nicht aus propagandistischen Gründen,
sondern um den Typ rauszuholen. Banküberfälle, wie man sie uns in die
Schuhe zu schieben versucht, würden auch wir nur machen, um Geld
aufzureißen. Die "glänzenden Erfolge", von denen Mao sagt, daß wir sie
erzielt haben müssen, "wenn der Feind uns in den schwärzesten Farben
malt", sind nur bedingt unsere eigenen Erfolge. Das große Geschrei, das
über uns angestimmt worden ist, verdanken wir mehr den
lateinamerikanischen Genossen - aufgrund des klaren Trennungsstrichs
zwischen sich und dem Feind, den sie schon gezogen haben -, so daß die
Herrschenden hier uns wegen des Verdachts von ein paar Banküberfällen so
"energisch entgegentreten", als gäbe es schon das, was aufzubauen wir
angefangen haben: die Stadtguerilla der Roten Armee Fraktion.





VI.

Legalität und Illegalität


Die Revolution im Westen, die Herausforderung der kapitalistischen Macht
in den Hochburgen, ist das Gebot der Stunde. Sie ist von entscheidender
Bedeutung. Die derzeitige Weltsituation kennt keinen Ort und keine Kräfte,
die in der Lage wären, eine friedliche Entwicklung und eine demokratische
Stabilisierung zu garantieren. Die Krise spitzt sich tendenziell zu. Sich
jetzt provinzialistisch abzukapseln oder den Kampf auf später zu
verschieben, bedeutet: Man wird in den Strudel des umfassenden Niedergangs
hineingerissen.

Il Manifesto. Aus These 55



Die Parole der Anarchisten "Macht kaputt, was Euch kaputt macht" zielt auf
die direkte Mobilisierung der Basis, der Jugendlichen in Gefängnissen und
Heimen, in Schulen und in der Ausbildung, richtet sich an die, denen es am
dreckigsten geht, zielt auf spontanes Verständnis, ist die Aufforderung
zum direkten Widerstand. Die Black Power-Parole von Stokely Carmichael 13:
"Vertrau deiner eigenen Erfahrung!" meinte eben das. Die Parole geht von
der Einsicht aus, daß es im Kapitalismus nichts, aber auch nichts gibt,
das einen bedrückt, quält, hindert, belastet, was seinen Ursprung nicht in
den kapitalistischen Produktionsverhältnissen hätte, daß jeder
Unterdrücker, in welcher Gestalt auch immer er auftritt, ein Vertreter des
Klasseninteresses des Kapitals ist, das heißt: Klassenfeind.
Insofern ist die Parole der Anarchisten richtig, proletarisch,
klassenkämpferisch. Sie ist falsch, soweit sie das falsche Bewußtsein
vermittelt, man brauchte bloß zuzuschlagen, denen in die Fresse zu
schlagen, Organisierung sei zweitrangig, Disziplin bürgerlich, die
Klassenanalyse überflüssig. Schutzlos der verschärften Repression, die auf
ihre Aktionen folgt, ausgesetzt, ohne die Dialektik von Legalität und
Illegalität organisatorisch beachtet zu haben, werden sie legal verhaftet.
Der Satz einiger Organisationen "Kommunisten sind nicht so einfältig, sich
selbst zu illegalisieren," redet der Klassenjustiz zum Munde, sonst
niemandem. Soweit er besagt, daß die legalen Möglichkeiten kommunistischer
Agitation und Propaganda, von Organisierung, von politischem und
ökonomischen Kampf unbedingt genutzt werden müssen und nicht leichtfertig
aufs Spiel gesetzt werden dürfen, ist er richtig - aber das beinhaltet er
ja gar nicht. Er beinhaltet, daß die Grenzen, die der Klassenstaat und
seine Justiz der sozialistischen Arbeit setzen, ausreichen, um alle
Möglichkeiten auszunutzen, daß man sich an die Begrenzungen zu halten hat,
daß vor illegalen Übergriffen dieses Staates, da sie ja allemal
legalisiert werden, unbedingt zurückzuweichen ist - Legalität um jeden
Preis. Illegale Inhaftierung, Terrorurteile, Übergriffe der Polizei,
Erpressung und Nötigung durch den Staatsanwalt - Friß Vogel oder stirb,
Kommunisten sind nicht so einfältig ...


Der Satz ist opportunistisch. Er ist unsolidarisch. Er schreibt die
Genossen im Knast ab, er schließt die Organisierung und Politisierung all
derer aus der sozialistischen Bewegung aus, die aufgrund ihrer sozialen
Herkunft und Lage nicht anders als kriminell überleben können: den
Untergrund, das Subproletariat, unzählige proletarische Jugendliche,
Gastarbeiter. Er dient der theoretischen Kriminalisierung all derer, die
sich den Organisationen nicht anschließen. Er ist ihr Bündnis mit der
Klassenjustiz. Er ist dumm.


Legalität ist eine Machtfrage. Das Verhältnis von Legalität und
Illegalität ist an dem Widerspruch von reformistischer und faschistischer
Herrschaftsausübung zu bestimmen, deren Bonner Repräsentanten gegenwärtig
die sozial-liberale Koalition hier, Barzel/Strauß da sind, deren
publizistische Repräsentanten z.B. die "Süddeutsche Zeitung", der "Stern",
das Dritte Programm des WDR und des SFB, die "Frankfurter Rundschau" hier
sind, der Springerkonzern, der Sender Freies Berlin, das Zweite Deutsche
Fernsehen, der Bayernkurier da, deren Polizei die Münchner Linie hier, das
Berliner Modell da ist, deren Justiz das Bundesverwaltungsgericht hier,
der Bundesgerichtshof da ist.


Die reformistische Linie zielt darauf, Konflikte zu vermeiden, durch
Institutionalisierung (Mitbestimmung), durch Reformversprechen (im
Strafvollzug z.B.), indem sie überalterten Konfliktstoff ausräumt (der
Kniefall des Kanzlers in Polen z.B.), indem sie Provokationen vermeidet
(die weiche Linie der Münchner Polizei und des Bundesverwaltungsgerichts
in Berlin z.B.), durch die verbale Anerkennung von Mißständen (in der
öffentlichen Erziehung in Hessen und Berlin z.B.). Es gehört zur
konfliktvermeidenden Taktik des Reformismus, sich etwas innerhalb und
etwas weniger außerhalb der Legalität zu bewegen, das gibt ihm den Schein
von Legitimation, von Grundgesetz unterm Arm, das zielt auf Integration
von Widersprüchen, das läßt linke Kritik totlaufen, leer laufen, das will
die Jungsozialisten in der SPD halten. Daß die reformistische Linie im
Sinne von langfristiger Stabilisierung kapitalistischer Herrschaft die
effektivere Linie ist, wird nicht bezweifelt, nur ist sie an bestimmte
Voraussetzungen gebunden. Sie setzt wirtschaftliche Prosperität voraus,
weil die weiche Linie der Münchner Polizei z.B. sehr viel kostspieliger
ist als die harte Tour der Berliner - wie es der Münchner Polizeipräsident
sinnfällig dargetan hat: "Zwei Beamte mit Maschinengewehr können 1000
Leute in Schach halten, 100 Beamte mit Gummiknüppeln können 1000 Leute in
Schach halten. Ohne derartige Instrumente benötigt man 300 bis 400
Polizeibeamte." Die reformistische Linie setzt die nicht bis gar nicht
organisierte antikapitalistische Opposition voraus - wie man ebenfalls vom
Beispiel München her weiß.


Unter dem Deckmantel des politischen Reformismus nimmt im übrigen die
Monopolisierung von staatlicher und wirtschaftlicher Macht zu, was
Schiller mit seiner Wirtschaftspolitik betreibt und Strauß mit seiner
Finanzreform 14 durchgesetzt hat - die Verschärfung der Ausbeutung durch
Arbeitsintensivierung und Arbeitsteilung im Bereich der Produktion, durch
langfristige Rationalisierungsmaßnahmen im Bereich der Verwaltung und der
Dienstleistungen.


Daß die Akkumulation von Gewalt in den Händen weniger widerstandsloser
funktioniert, wenn man sie geräuschloser durchführt, wenn man dabei
unnötige Provokationen vermeidet, die unkontrollierbare
Solidarisierungsprozesse zur Folge haben können - das hat man aus der
Studentenbewegung und dem Mai in Paris gelernt. Deshalb werden die Roten
Zellen noch nicht verboten, deshalb wurde die KP als DKP - ohne Aufhebung
des KP-Verbots - zugelassen, deshalb gibt es noch liberale
Fernsehsendungen, und deshalb können es sich einige Organisationen noch
leisten, sich nicht für so einfältig zu halten, wie sie es sind.
Der Legalitätsspielraum, den Reformismus bietet, ist die Antwort des
Kapitals auf die Attacken der Studentenbewegung und der APO - solange man
sich die reformistische Antwort leisten kann, ist sie die effektivere. Auf
diese Legalität setzen, sich auf sie verlassen, sie metaphysisch
verlängern, sie statistisch hochrechnen, sie nur verteidigen wollen,
heißt, die Fehler der Strategie der Selbstverteidigungszonen in
Lateinamerika wiederholen, nichts gelernt haben, der Reaktion Zeit lassen,
sich zu formieren, zu reorganisieren, bis sie die Linke nicht
illegalisiert, sondern zerschlägt.


Willy Weyer 15 macht eben nicht auf Toleranz, sondern macht Manöver und
setzt der Kritik der liberalen Presse, daß er mit seinen Alkoholkontrollen
alle Autofahrer zu potentiellen Straftätern macht, nur frech entgegen:
"Wir machen weiter!" - womit er der liberalen Öffentlichkeit ihre
Bedeutungslosigkeit nachweist. Eduard Zimmermann macht ein ganzes Volk zu
Polizisten, der Springerkonzern hat die Berliner Polizeiführung gemacht,
"BZ"-Kolumnist Reer schreibt den Berliner Haftrichtern die Haftbefehle
vor. Die Massenmobilisierung im Sinn von Faschismus, von Durchgreifen, von
Todesstrafe, von Schlagkraft, von Einsatz findet statt - der New Look, den
die Brandt/Heinemann/Scheel-Administration der Politik in Bonn gegeben
hat, ist die Fassade dazu.


Die Genossen, die mit der Frage von Legalität und Illegalität so
oberflächlich umgehen, haben offenbar auch die Amnestie in den falschen
Hals gekriegt, mit der der Studentenbewegung noch nachträglich der Zahn
gezogen worden ist. 16 Indem man die Kriminalisierung Hunderter von
Studenten aufhob, kamen diese mit dem Schrecken davon, wurde weiterer
Radikalisierung vorgebeugt, wurden sie energisch daran erinnert, was die
Privilegien bürgerlichen Studentseins wert sind, trotz Wissenschaftsfabrik
Universität, der soziale Aufstieg. So wurde die Klassenschranke zwischen
ihnen und dem Proletariat wieder aufgerichtet, zwischen ihrem
privilegierten Alltag als Studium und dem Alltag des Akkordarbeiters, der
Akkordarbeiterin, die nicht amnestiert wurden vom gleichen Klassenfeind.
So blieb einmal mehr die Theorie von der Praxis getrennt. Die Rechnung:
Amnestie gleich Befriedung ging auf.


Die sozialdemokratische Wählerinitiative von einigen honorablen
Schriftstellern - nicht nur dem abgefuckten Grass -, als Versuch
positiver, demokratischer Mobilisierung, als Abwehr also von Faschismus
gemeint und deshalb zu beachten, verwechselt die Wirklichkeit von einigen
Verlagen und Redaktionen in Funk- und Fernsehanstalten, die der
Rationalität der Monopole noch nicht unterworfen sind, die als Überbau
nachhinken, mit dem Ganzen der politischen Wirklichkeit. Die Bereiche
verschärfter Repression sind nicht die, mit denen ein Schriftsteller es
zuerst zu tun hat: Gefängnisse, Klassenjustiz, Akkordhetze,
Arbeitsunfälle, Konsum auf Raten, Schule, "Bild" und "BZ", die
Wohnkasernen der Vorstädte, Ausländerghettos - das alles kriegen
Schriftsteller höchstens ästhetisch mit, politisch nicht.
Legalität ist die Ideologie des Parlamentarismus, der Sozialpartnerschaft,
der pluralistischen Gesellschaft. Sie wird zum Fetisch, wenn die, die
darauf pochen, ignorieren, daß Telefone legal abgehört werden, Post legal
kontrolliert, Nachbarn legal befragt, Denunzianten legal bezahlt, daß
legal observiert wird - daß die Organisierung von politischer Arbeit, wenn
sie dem Zugriff der politischen Polizei nicht permanent ausgesetzt sein
will, gleichzeitig legal und illegal zu sein hat.


Wir setzen nicht auf die spontane antifaschistische Mobilisierung durch
Terror und Faschismus selbst und halten Legalität nicht nur für
Korrumpierung und wissen, daß unsere Arbeit Vorwände liefert, wie der
Alkohol für Willy Weyer und die steigende Kriminalität für Strauß und die
Ostpolitik für Barzel und das Rotlicht an der Ampel, das der Jugoslawe
überfuhr, für die Frankfurter Taxifahrer und der Griff in die Tasche für
den Mörder des Autodiebs in Berlin. Und für noch mehr Vorwand, weil wir
Kommunisten sind und es davon, ob die Kommunisten sich organisieren und
kämpfen, abhängt, ob Terror und Repression nur Angst und Resignation
bewirken oder Widerstand und Klassenhaß und Solidarität provozieren, ob
das hier alles so glatt im Sinn des Imperialismus über die Bühne geht oder
nicht. Weil es davon abhängt, ob die Kommunisten so einfältig sind, alles
mit sich machen zu lassen, oder die Legalität u.a. dazu benutzen, die
Illegalität zu organisieren, statt das eine vor dem anderen zu
fetischisieren.


Das Schicksal der Black Panther Partei und das Schicksal der Gauche
Proletarienne 17 dürfte auf jener Fehleinschätzung basieren, die den
tatsächlichen Widerspruch zwischen Verfassung und Verfassungswirklichkeit
und dessen Verschärfung, wenn Widerstand organisiert in Erscheinung tritt,
nicht realisiert. Die nicht realisiert, daß sich die Bedingungen der
Legalität durch aktiven Widerstand notwendigerweise verändern und daß es
deshalb notwendig ist, die Legalität gleichzeitig für den politischen
Kampf und für die Organisierung von Illegalität auszunutzen, und daß es
falsch ist, auf die Illegalisierung als Schicksalsschlag durch das System
zu warten, weil Illegalisierung dann gleich Zerschlagung ist und das dann
die Rechnung ist, die aufgeht.


Die Rote Armee Fraktion organisiert die Illegalität als Offensiv-Position
für revolutionäre Intervention.
Stadtguerilla machen heißt, den antiimperialistischen Kampf offensiv
führen. Die Rote Armee Fraktion stellt die Verbindung her zwischen legalem
und illegalem Kampf, zwischen nationalem und internationalem Kampf,
zwischen politischem und bewaffnetem Kampf, zwischen der strategischen und
der taktischen Bestimmung der internationalen kommunistischen Bewegung.
Stadtguerilla heißt, trotz der Schwäche der revolutionären Kräfte in der
Bundesrepublik und Westberlin hier und jetzt revolutionär intervenieren!

Entweder sie sind ein Teil des Problems, oder sie sind ein Teil der
Lösung. Dazwischen gibt es nichts. Die Scheiße ist seit Dekaden und
Generationen von allen Seiten untersucht und begutachtet worden. Ich bin
lediglich der Meinung, daß das meiste, was in diesem Lande vor sich geht,
nicht länger analysiert zu werden braucht - sagt Cleaver. 18



DEN BEWAFFNETEN KAMPF UNTERSTÜTZEN!
SIEG IM VOLKSKRIEG!





Anmerkungen der Redaktion:

1 M. Ray: französische Journalistin

2 Georg Linke: Bibliotheksangestellter im Institut für Soziale Fragen

3 Genscher war von 1969 bis 1974 Bundesinnenminister der sozialliberalen
Koalition, danach Außenminister. Zimmermann war bzw. ist Moderator der
Fernsehsendung "Aktenzeichen xy ... ungelöst".


4 Il Manifesto: bedeutende Gruppe der italienischen Neuen Linken, 1969
wegen Linksabweichung aus der Kommunistischen Partei Italiens (PCI)
ausgeschlossen; veröffentlichte im September '70 200 Thesen: "Die
Notwendigkeit des Kommunismus. Die Plattform von Il Manifesto", auf
deutsch 1971 im Merve-Verlag Westberlin erschienen.


5 Barzel: ab 1960 im CDU-Bundesvorstand, 62/63 Minister für Gesamtdeutsche
Fragen im Kabinett Adenauer, ab 1964 Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU, ab
1971 CDU-Parteivorsitzender, Rücktritt von den beiden Funktionen 1973.
1982 Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen, ab 1983
Bundestagspräsident, Rücktritt 1984.


6 Lohnleitlinien: von der Regierung vorgegebener Rahmen für
Tarifabschlüsse; Konzertierte Aktion: regelmäßige Beratungen von
Regierung, Kapitalistenverbänden und Gewerkschaftsspitzen


7 Septemberstreiks '69: sogenannte "wilde", d.h. gegen den Willen der
Gewerkschaftsführungen und während der Friedenspflicht durchgeführte
Streiks, an denen sich rund 150000 Lohnabhängige überwiegend im Stahl- und
Bergbau beteiligten. Durch sie konnten Lohnerhöhungen bis zu 10%
durchgesetzt werden. Die Septemberstreiks waren für die Herausbildung der
Neuen Linken von großer Bedeutung.


8 Herbert Marcuse: Verfechter der kritischen Theorie mit großem Einfluß
auf die APO. Schriften u.a.: "Die Kritik der reinen Vernunft" (1966), "Der
eindimensionale Mensch" (1967), "Versuch über Befreiung" (1969)
8

9 Black Panther Partei: revolutionäre Partei der Schwarzen in den USA, die
die Großstadtghettos als innere Kolonien der USA betrachtete und deren
Einwohner bewaffnet gegen Übergriffe der Staatsorgane zu schützen
versuchte; 1966 von Huey Newton, Bobby Seal u.a. gegründet. Eine der in
der Geschichte der USA größten Polizei- und Justizkampagnen - innerhalb
von 18 Monaten 1968/69 wurden 28 Black-Panther-Mitglieder von der Polizei
erschossen - führte 1971 zur Zerschlagung.


10 R. Debray: führender Propagandist der Theorie des "foquismo" in
Lateinamerika. Der "foquismo" besagt, daß der Einsatz eines kleinen Kerns
("foco") revolutionärer Kämpfer auf dem Lande als Funke für eine
Massenrebellion der Bauern wirken wird. Die Erfahrung des Kampfes würde
die revolutionäre Vorhut und die Bauernschaft proletarisieren, wobei die
Guerilla als Ersatz für die leninistische Partei handeln würde. Debray
"etablierte" sich später und wurde politischer Berater des französischen
Staatspräsidenten Mitterand.

11 Der Cabora-Bassa-Damm in Mosambik, der damaligen portugiesischen
Kolonie, war das größte Staudammprojekt in Afrika; ab 1969 waren fünf
westdeutsche Konzerne am Bau beteiligt. Das Projekt sollte Portual
wirtschaftlich und politisch stärken; von der Anlage profitierten vor
allem die Regimes von Südafrika (Azania) und des damaligen Rhodesien
(heute Zimbabwe). Portugal wollte dort eine Million Europäer ansiedeln.
Viele afrikanische Staaten, auch die Organisation Afrikanischer Einheit
(OAU) und Befreiungsbewegungen wie die FRELIMO (Befreiungsfront in
Mosambik) protestierten. Die FRELIMO schrieb einen offenen Brief an den
damaligen Bundeskanzler Brandt (SPD).

12 Kurras: Polizist, der am 2. Juni 1967 den Studenten Benno Ohnesorg bei
einer Demonstration gegen den Schah-Besuch in Westberlin erschoß. Er wurde
von der Justiz freigesprochen, später befördert.

13 Stokeley Carmichael: führendes Mitglied der Black-Power-Bewegung, die
in den USA bewaffnet kämpfte.

14 Strauß (CSU) war von 1953 bis 1966 Bundesminister für "besondere
Aufgaben", "Atomfragen", "Verteidigung" und in der Großen Koalition
(CDU/CSU/SPD-Regierung) bis 1969 Finanzminister, als Karl Schiller (SPD)
Wirtschaftsminister war.

15 Weyer: damals NRW-Innenminister (FDP), entschiedener Befürworter der
Aufrüstung und Militarisierung der Polizei

16 Die damalige SPD/FDP-Regierung mit Willy Brandt als Kanzler führte im
Mai 1970 eine Liberalisierung des Demonstrationsrechts durch; der damalige
Bundespräsident Gustav Heinemann (SPD) erließ eine begrenzte Amnestie
(Straffreiheit) für Demonstrationsdelikte aus der Zeit der
Studentenbewegung, die ein Strafmaß von acht Monaten nicht überschritten.

17 Gauche proletarienne: maoistische Organisation der französischen Neuen
Linken, die im Mai 1970 verboten wurde. Aus Protest gegen dieses Verbot
gab Jean-Paul Sartre daraufhin die Zeitung der GP "La Cause du Peuple"
heraus.

18 Eldrige Cleaver: ein Führer der Black Panther Partei

(Quelle: Nr. 1, S. 337ff; Nr. 2, S. 22ff)

aus: Ausgewählte Dokumente der Zeitgeschichte: Bundesrepublik Deutschland
(BRD) - Rote Armee Fraktion (RAF), GNN Verlagsgesellschaft Politische
Berichte, 1. Auflage Köln Oktober 1987