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Materialien für einen neuen Antiimperialismus Nr. 6

Die Ethnisierung des Sozialen

Die Transformation der jugoslawischen Gesellschaft im Medium des Krieges

Teil I - Jugoslawien im Kontext des ost- und südosteuropäischen Umbruchs


Verlag der Buchläden Schwarze Risse - Rote Strasse
Berlin Göttingen 1993
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Vorwort
Jugoslawien im Kontext des ost- und südosteuropäischen Umbruchs
Bemerkungen zur Kampfgeschichte der moralischen Ökonomie
Zur Kampfsituation 1987
Nationalismus und Ethnisierung
Krieg als Transformationsmechanismus
Die EG-Migrationspolitik und die Flüchtlinge aus Südosteuropa
Zur Rolle des Imperialismus in der jugoslawischen Krisen- und Kriegsdynamik
Anhang


Jugoslawien im Kontext des ost- und südosteuropäischen Umbruchs
In einer kurzen Einleitungsskizze werden wir versuchen, den jugoslawischen Zerfall und Krieg in das ost- und südosteuropäische Umbruchsgeschehen einzuordnen. Damit werden sowohl Parallelen als auch Differenzen vor allem zum sowjetischen Entwicklungsmodell aufgezeigt (vgl. Materialien Heft Nr. 4). Allerdings ist das, was wir uns als Umbruch, Krise und Transformation der sozialistischen Akkumulationsregime zu bezeichnen angewöhnt haben, gleichfalls ein ungeheurer Zerstörungsvorgang, der in ganz Osteuropa die gewohnten existenzsichernden sozialen und ökonomischen Alltagswelten aufbricht und die Menschen aus den strukturellen Überlebensnischen gewaltsam vertreibt. Der materielle Kern, des sogenannten Transformationsprozesses in allen sozialistischen Staaten besteht darin, die sozialen Garantien des überdehnten sozialistischen »Klassenkompromisses« (soziales Patt) abzuräumen, die sozialen Reserven der bislang nationalstaatlich organisierten Ökonomien zu mobilisieren und das sozial-strukturelle Gefüge der sozialistisch verfaßten Gesellschaften so zu rationalisieren, daß sich die »bloen« sozialen Reproduktionsinteressen wieder dem Akkumulationsprozeß als ganzem unterordnen. Bleibt daran zu erinnern, daß auch der territoriale Zerfall der Sowjetunion von nationalistischen Pogromen, militärischen und ethnischen Konflikten begleitet war, die schon damals unter der Kategorie »Nationalitätenkonflikte« rubriziert wurden und die sich gegenwärtig in mörderischen Waffengängen in Tadschikistan, Aserbaidschan, Nagorny-Karabach, Georgien und Moldawa fortsetzen, ohne daß die Öffentlichkeit besonders Notiz davon nähme.
Die scheinbaren Selbstverständlichkeiten, mit denen wiederum dem jugoslawischen Krieg die nationalistischen und ethnischen Interpretationsmuster zugeschnitten werden, tragen wenig zur Erklärung der inhärent sozialen Konfliktualität bei. Sie verdoppeln analytisch lediglich die jeweilige nationalistische Propaganda der Kriegsparteien. Auch die linksintellektuelle Debatte um das nationale Selbstbestimmungsrecht kann diesem Dilemma nicht entgehen. Zur Begründung der jugoslawischen Krise genügen die Verweise auf die jugoslawischen Nationalismen und Integrismen und deren Rückgriff auf historische Vorläufer, die das Ethnische verstetigen und in die Gegenwart zu verlängern bemühen, wohl kaum. Vielmehr hätte ein materialistischer Erklärungsansatz die politischen und sozialen Konstruktionen des Nationalen und die Produktion des Ethnischen zu entschlüsseln und im Kontext der Krise zu entfalten . Die vorliegenden Heftbeiträge sind ein erster Versuch dazu.


Umbruch und krisenhafte Neuordnung
Die sozialistischen nachholenden industriellen Entwicklungsmodelle - sozialistische Varianten tayloristisch-fordistischer Vergesellschaftung - waren an ihren je spezifisch nationalen Verwertungs- und Modernisierungsblockaden gescheitert. Die unüberwindbaren technologisch-ökonomischen Schranken und die zunehmenden politischen Legitimationsdefizite der sozialistischen Dissoziationsmodelle industrieller Entwicklung markieren den Auslauf des fordistischen Zyklus'in seinen sozialistisch-etatistischen und keynesianistischen Ausformungen. Der östliche Sozialpakt, seit Anfang der 70er Jahre mit westlichen Krediten genährt, war Ende der 80er Jahre überdehnt, brüchig und unrentabel geworden.
Für die Ende der 70er Jahre technologisch gesteigerte Rüstungskonkurrenz, der US-amerikanische Versuch militär-keynesianischer Krisenregulation, waren die Akkumulationsressourcen der osteuropäischen Gesellschaften entweder sozial blockiert oder zu erschöpft, um in einer rüstungstechnologischen Offensive die Produktivitäts- und Rentabilitätsschranken ihrer national organisierten Ökonomien zu durchbrechen . Die darauf einsetzenden Umbauprojekte der alten Regimes und die politischen Umbrüche 1989 leiten das Ende der Kalten-Kriegs-Ordnung und damit das Ende der sowjetischen Ordnungsfunktion im geopolitischen Raum Ost- und Südosteuropas ein. Mit der politischen und wirtschaftlichen Öffnung sind die Regionen Ost- und Südosteuropas den Bedingungen des globalen Kapitalismus ausgesetzt und als zukünftige Peripherien Westeuropas selektiven und exkludenten Inwertsetzungsstrategien unterworfen.
Die Auflösung der Akkumulationsblockaden etatistischer Gesellschaftsorganisationen, die Zertrümmerung sozial verfestigter Strukturen und Identitäten, die Mobilisierung der Bevölkerungen über Pauperisierung und die Zerstörung existenzsichernder ökonomischer und sozialer Alltagsräume werden unter nationaler Regie in Koordination mit internationalen Finanzorganisationen (Weltbank, IWF, EBRD etc.) vorangetrieben. Der gewaltsame und zerstörerische Anpassungsprozeß der osteuropäischen Gesellschaften an das transnationale Verwertungsdiktat, an die Rentabilitätskriterien des Weltmarkts (Schuldenkrise, Strukturanpassungsprogramme, Deregulierungsregime) verläuft aufgrund sozialer Widerständigkeit, differenter ökonomischer und politischer Ausgangs- und Gemengelagen extrem ungleichzeitig. Die neoliberalen Schocktherapien in Polen , in Rumänien und in der Russischen Föderation gelten mittlerweile als gescheitert, so daß das Deregulierungstempo gedrosselt und die Transformationsstrategien an die sozialen Erwartungen und Ansprüche angepaßt werden mußten. Die Sozialwissenschaftlerin Melanie Tatur, eine Expertin der polnischen, aber auch der gesamten ost- und mitteleuropäischen Entwicklungen, faßt das Dilemma der Transformationsregimes wie folgt zusammen:«Die neo-liberale Politik setzte (...) die ökonomischen Akteure dem kalten Wind des Marktes und dem Druck einer restriktiven Finanzpolitik aus, um sie zur Anpassung bzw. nötigenfalls zur Selbstaufgabe zu zwingen. Es zeigte sich aber (1), daß das Erfolgskriterium auf einem noch sozialistischen Markt nicht ökonomische Effizienz, sondern in hohem Maße organisatorische Stärke war, und (2) daß sich klassische ökonomische Interessen nicht konstituieren konnten, sondern die Betriebe im solidarischen Überlebenskampf von Belegschaft und Direktoren gemeinsam daran gingen, ihre Reproduktionsinteressen in defensiven, makroökonomisch oft sinnlosen Strategien zu sichern.
Mehr noch:bei genauer Betrachtung der sich nun langsam und zerstreut artikulierenden individuellen Bedürfnisse und Interessen zeigte sich, daß Bauern, private Geschäftsleute, ebenso die Intelligenz und die Arbeiterschaft Forderungen an den Staat stellten, die auf eine Reproduktion der alten Sozialstruktur hinausliefen und weiter hinauslaufen.« (M. Tatur, 1991, S.302) Hinter den artikulierten Bedürfnissen wittert sie mit dem Warschauer Soziologen E. Mokrzycki eine politische Vision sozialer Gerechtigkeit, die jenseits der verordneten Marktideologie angesiedelt ist. Und sie schreibt weiter:»Diese volkstümliche Utopie eines »dritten Weges« hat bislang in Ost-Mitteleuropa zwar keine verbale ideologische Formulierung gefunden. Und doch ist sie - als sozialstrukturell definiertes Interesse und Gefahr für die verarmten und atomisierten Menschen - in diesen Ländern lebendig. Um die einprägsame Formulierung Mokrzyckis zu benutzen: Das totalitäre Experiment geht weiter, ohne den Experimentator zwar - aber durch das Objekt selbst.« (ebenda) Ein Jahr nach dem politischen Durchbruch, so M. Tatur, wird sichtbar, daß in den mitteleuropäischen Gesellschaften »die realen Interessen nur als Reproduktionsinteressen« formuliert werden.« Es fehlen weiterhin die privaten Akkumulationsinteressen. Die bloßen Reproduktionsinteressen zielen indes abermals auf die Reproduktion der sozialstrukturellen Grundlagen der etatistischen Gesellschaft, wenn auch in abgewandelter Form:auf die Realisierung einer neuen, volkstümlichen sozialistischen Utopie.« (ebenda, S.303) Es sind die egalitären Forderungen nach Existenzrecht und sozialer Gerechtigkeit, wie sie hier sozialwissenschaftlich beschrieben wurden, die den Kern der sozialen Konfrontation mit den Transformationsregimes ausmachen.
Für die Sowjetunion haben wir im Materialien-Band Nr.4 die Konfrontation des sozialistischen Regimes mit den sozialen Ansprüchen einer akkumulationsfeindlichen Gesellschaftlichkeit, wie wir es genannt haben, nachgezeichnet (vgl. besonders den Artikel Landbevölkerung gegen sozialistische Rationalität). Generell, so läßt sich sagen, zeichnen sich für alle ost-, mittel- und südosteuropäischen Regionen keine kurzfristigen Transformationsphasen ab, vielmehr drohen allerorten soziale und politische Eruptionen, deren Verlauf niemand vorherbestimmen kann.
Die kapitalistische Inwertsetzung dieser Regionen ist zuvorderst ihre sozioökonomische Angleichung an die metropolitanen Verwertungsbedingungen, was einer Zertrümmerung der regionalen Industriestruktur (Deindustrialisierung) gleichkommt. Denn viele der unter kapitalistischen Bedingungen unrentabel produzierenden und zur Weltmarktkonkurrenz unfähigen Industriekombinate werden langfristig und ohne staatliche Invstitionen nicht überlebensfähig sein. So werden für den gesamten osteuropäischen Raum gigantische Arbeitslosenzahlen erwartet. Die schwelende osteuropäische Schuldenkrise (ca. 150 Mrd. US-Dollar) zwingt die osteuropäischen nationalen Ökonomien letztlich - vermittelt über den Kreditmechanismus - zur ruinösen Exportorientierung und zu Rentabilitätsmaßstäben, wie sie sich global herausgebildet haben. Die Reintegration des osteuropäischen Raums in die Weltwirtschaft »zwingt« die nationalen Regimes zur Übernahme ökonomischer Effizienz- und Rationalitätskriterien, die die Existenzgrundlage von Millionen in Frage stellen. Sie wird zum sozialpolitischen und ökomomischen Hebel gegen den osteuropäischen Sozialprozeß.
H.Hofbauer und A.Komlosy, deren kritische Osteuropareportagen, veröffentlicht in MOZ, WOZ, AK, Freitag und Weltbühne lesens- und empfehlenswert sind, spitzen in einem Artikel über die Entindustrialisierung Rumäniens den osteuropäischen Krisenumbruch auf die Frage »Wohin mit den Überflüssigen?« zu . Wahrscheinlich unbewußt haben sie eine Formulierung in Anlehnung an die der nazistischen Großraumplaner gewählt, aber sie trifft den sozialen Kern des ost- und südosteuropäischen Umbruchs: Wohin mit der »Überschußbevölkerung«? Der gegenwärtige zögerliche kapitalistische Sondierungsprozeß, die selektiven und exkludenten Inwertsetzungsstrategien in Osteuropa als Anbindungs- und Zurichtungsmomente einer zukünftigen westeuropäischen Peripherie produzieren eine quantitativ gewaltige »Überschußbevölkerung«, die sich sowohl als Armuts- als auch als Unruhegürtel um die metropolitanen europäischen Wohlstandsinseln legt. Im Kontext dieses skizzierten sozialen Auflösungs-, Umbruchs- und Neuordnungsprozesses in Osteuropa wäre die jugoslawische Entwicklung, Zerfall und Krieg, zu diskutieren und zu verstehen. Hinzuzufügen wäre, daß der osteuropäische Umbruchsprozeß lediglich einen Ausschnitt in der globalen Verwertungskrise der kapitalistischen Weltökonomie bildet. Denn weltweit sind die Zugriffsmöglichkeiten auf die Akkumulationsressourcen der sozialistisch-etatistisch oder keynesianistisch organisierten nationalen Ökonomien sozial blockiert oder technisch erschöpft. So sind die ökonomische Krise, soziale Desintegration und Krieg Medien, in denen die nationalen sozioökonomischen Transformationen ablaufen, die globale und regionale Reorganisation der Ausbeutungs- und Verwertungsstrategien entworfen und in denen ein neues Unterwerfungsinstrumentarium erfunden und ausprobiert wird. Ethnische Zonierungen sind dabei nur Teil einer internationalen Reorganisation erneuerter Mehrwertkaskaden und Wertschöpfungsketten. Eine umfassende Analyse des globalen Umbruchs muß einem zukünftigen Materialienband vorbehalten bleiben.


Jugoslawien, ein intermediäres Modell abhängiger Entwicklung
Der Zerfall des Staates Jugoslawien als geopolitisch und strategisch bedeutsamen Raum innerhalb der Kalten-Kriegs-Ordnung hat im ost- und südosteuropäischen Umbruchsprozeß eine gesonderte Verlaufsform angenommen. Einige Aspekte des jugoslawischen intermediären Entwicklungsmodells, die seine Sonderstellung begründen, seien, ohne diesen Komplex tiefgreifend durchdringen zu können, kurz umrissen.
Über Kreditgewährung, Militär-, Nahrungsmittel- und Infrastrukturhilfen stieg das westliche Kapital (anfangs vor allem das US-amerikanische) bereits in einer frühen Phase der jugoslawischen industriellen Entwicklung (industrieller Aufbau) in den strategischen Balkanraum ein; diese Politik der Einflußnahme wurde dann über die Aufnahme in den IWF und den Beitritt zum GATT, einer verstärkten Importkreditierung der nachholenden jugoslawischen Entwicklung, den Aufbau von westeuropäischer Technologie- und Kapital-/Zinsabhängigkeit, über besondere EG-Handelsabkommen, Gründungen von Joint-Ventures (bereits 1967) und Wirtschaftskooperationen, Lizenzproduktionen, internationale Finanzunterstützung und Währungsanbindung fortgeführt.
Als verlängerte Werkbänke (Lohnveredelung) wurden Teile der Region in die internationale Arbeitsteilung integriert, wozu auch die bis Mitte der 70er Jahre hohe Arbeitsmigration (860.000/1973) nach Westeuropa zuzurechnen ist, die damit gleichzeitig das innerjugoslawische Migrationsgefälle zu steuern verhalf.
Über die wiederaufgenommenen Wirtschaftsbeziehungen zur Sowjetunion (1954) und den Osteuropahandel (Teilmitgliedschaft im RGW 1965) nahm der jugoslawische Wirtschaftsraum eine modellhafte Scharnierfunktion als Vermittlungs- und Transitagentur für Technologie- und Investitionsgüterexporte nach Osteuropa (vor allem in die Sowjetunion) ein.
Der jugoslawische Wirtschaftsraum wurde, zugespitzt formuliert, zur Durchgangszone, in der mit westlichem Kapital und westlicher Technologie im wesentlichen für den osteuropäischen/sowjetischen Markt produziert wurde (bis zu 42% der Exporte im Zeitraum 1976 - 1980).
L. Djekovic faßt es wie folgt zusammen: «So werden Rohstoffe und importierte, mit Westkrediten finanzierte Produktionsmittel für den Export in den Osten gebunden und die Exportsteigerung auf westliche Märkte behindert. Kurzum:der Osten kauft den Großteil der Waren, der Westen gibt den Großteil der Kredite, wodurch sich die Westverschuldung Jugoslawiens immer weiter erhöht.« (L. Djekovic, 1982, S.22). Damit geriet die jugoslawische Ökonomie in eine zweifache Abhängigkeit: Für den notwendigen Reproduktionsgüterimport (Energie, Rohstoffe, Halbfertigwaren) mußte sie auf bilateraler Clearingbasis - mit Ausnahme einiger kleiner RGW-Länder - nach Osteuropa industrielle Fertiggüter exportieren, dazu war sie wiederum auf Kapitalgüterimporte (Maschinen, Technologie) auf kreditfinanzierter Basis aus dem Westen angewiesen. Damit dieser Wirtschaftsraum zwischen den hegemonisierenden Machtzentren der Kalten-Kriegs-Ordnung stabil blieb und in keine der beiden Einflußsphären anhaltend einbezogen werden konnte, wurde er wohlwollend mit westlichen Krediten - auch die RGW-Investionsbank versorgte Jugoslawien seit 1978 mit Hartwährungskrediten - und sowjetischen Öl und Erdgas - die sowjetischen Erdölimporte deckten Anfang der 80er Jahre ca. 51% des jugoslawischen Bedarfs - genährt.
Zwischen 1971 und 1980 wuchs die jugoslawische Auslandsverschuldung jahresdurchschnittlich um ca. 23% und erreichte Anfang der 80er Jahre eine Höhe von ca. 20 Mrd. US-$ . Die Auslandsverschuldung wurde nach 1965 zum entscheidenden Stabilitätsfaktor der jugoslawischen Binnenwirtschaft und speiste wesentlich den Investitionsboom der 70er Jahre. Prägnant formulierte L. Madzar: »Es zeigte sich, daß unser Wirtschaftswachstum wesentlich vom Auslandskapital abhängt und unsere Wirtschaft ihm strukturell und institutionell angepaßt wurde« (Zit.n. N. Vucic, 1988, S.291). Der mit westlichem Kapital kreditierte Akkumulationsprozeß erzeugte aufgrund innerjugoslawischer Rigiditäten und sozialer Barrieren (niedrige Arbeitsproduktivität etc.) eine insgesamt unzureichende Wertschöpfung, um sowohl die Auslandsschulden und Zinsen bedienen als auch eine autozentrierte Akkumulation in Gang halten zu können, so daß das jugoslawische Regime Anfang der 80er Jahre in Zusammenarbeit mit dem IWF dazu überging, in einem frontalen Angriff auf den jugoslawischen Lebensstandard die erforderlichen Werte herauszupressen.
Ein weiterer Aspekt der Besonderheit des jugoslawischen Entwicklungsmodells ist die immense internationale Bedeutung der jugoslawischen Politik, die ihr als führendes »blockfreies« Land zukam, indem sie die radikalen Forderungen der trikontinentalen Bewegungen gegenüber den Metropolen moderierte und die sie als gewichtiger Akteur auf dem Weltwaffenmarkt zu nutzen wußte. Die innerjugoslawischen Besonderheiten wie regionale und nationale Ausgleichspraktiken im internationalen Entwicklungsgefälle, regionale und lokale Klassenkompromisse des Selbstverwaltungssozialismus werden in den nachfolgenden Texten des Heftes genauer beschrieben. Zusammenfassend läßt sich vielleicht folgenden festhalten: Die jugoslawische Entwicklung, die sich an dem allgemein akzeptierten industriellen Modernisierungsmodell orientierte, fand ihre Besonderheit einerseits in der geopolitischen Herausnahme aus der Kalten-Kriegs-Konkurrenz, wodurch okonömische und politische Abhängigkeiten von den Machtzentren der Nachkriegsordnung - aber auch begrenzte Vorteile - entstanden und eine anfänglich selektive, im Verlauf der Krisen- und Verschuldungsdynamik und der kapitalistischen Durchdringung zunehmend dependente Weltwirtschaftsintegration einherging, und andererseits in der durch die gescheiterte Zwangskollektivierung der Landwirtschaft ungelösten sozialen Problematik der subsistenzwirtschaftlich und kleinbäuerlich strukturierten Agrarregionen, die die gesamtjugoslawische Nahrungsmittelversorgung nicht sichern konnten . Das jugoslawische Entwicklungsmodell war von Anbeginn an eingeklemmt zwischen dem Rentabilitäts- und Modernisierungsdruck, der aus der intermediären Lage in der Nachkriegsordnung und der frühen weltwirtschaftlichen Öffnung herrührte, und dem sozialen Druck eines traditionell bewirtschafteten und den Rationalisierungszugriffen widerstehenden Agrarsektors, der viele Verbindungen in die Industrieregionen unterhielt. Die Spezifik des jugoslawischen sozioökonomischen Raums kann durch das sich vertiefende Entwicklungsgefälle zwischen den verschiedenen Regionen (vereinfacht als Nord-Süd-Gefälle dargestellt) und durch eine regionenübergreifende (Teilrepubliken) sozioökonomische Zerklüftung, die sich aus dem konfliktanfälligen und verfestigtem Nebeneinander vom am Weltmartniveau orientierten industriellen Regionen und sich behauptenden »traditionellen« Agrarregionen (Stadt/Land-Disparität) ergab, charakterisiert werden und die das internationale Verdikt der »Unregierbarkeit« trifft. Wahrscheinlich müssen wir die territoriale sozioökonomische Zerklüftung im Modell nachholender Industrialisierung, in der subsistenzwirtschaftliche Produktions- und Reproduktionsweisen, soziale Rückzugsräume, tradierte Lebensweisen und Vorstellungen fortleben konnten, als entscheidende Entwicklungs- und Modernisierungsblockaden betrachten. Es ist dem sozialistischen Entwicklungsregime - trotz internationaler Kreditierung - nicht gelungen, die bis in die Gegenwart hineinreichende hemmende Problematik der »inneren Landnahme«, d.h. der Zurichtung ländlicher Regionen und Bevölkerungen auf ein industrielles Entwicklungsmodell, kleinzuarbeiten und eine industriegesellschaftliche Gesamtrationalität herzustellen.
Darauf weisen nachdrücklich die wenigen Arbeiten, die zur jugoslawischen Landwirtschaft erschienen sind, hin. So bestätigt unter anderem J.B. Allcock unsere Vermutungen, daß die »sozialistische Transformation« des jugoslawischen Dorfes, also die Beseitigung des subsistenzwirtschaftlich und kleinräumlich strukturierten Bauerntums und seine Integration in die sozialistische Agroindustrie, scheiterte. Trotz eines kontinuierlichen Drucks (Kooperationsangebote, Kredite, Grüne Programme etc.) auf das »jugoslawische Dorf« und seine subsistenzwirtschaftliche, existenzgarantierende Struktur ist es dem jugoslawischen Regime bis zur Gegenwart nicht gelungen,eine rationelle und produktive Ausbeutungsorganisation auf dem Land gegen das »jugoslawische Dorf« durchzusetzen . Unter dem Rationalisierungsdruck des sozialistischen Regimes »wanderte das Dorf in die Fabrik«, ohne seine Beziehungen zum Land aufzugeben. So war 1978 jeder dritte Beschäftigte ein sogenannter Arbeiterbauer, der mit seiner Familie noch einen Neben- oder Zuerwerbshof, meist unter der Führung der Frau (Feminisierung des Dorfes), betrieb. Ende der 70er Jahre waren mehr als die Hälfte aller landwirtschaftlichen Betriebe zu dieser Form der Existenzsicherung (Land-und Fabrikarbeit) gezwungen. Diese Höfe dienten in erster Linie der häuslichen Versorgung und der kleineren Bauernmärkte, und erst dann und in geringem Ausmaß produzierten sie für den »sozialistischen Markt«, auf dem ihre landwirtschaftlichen Erzeugnisse regelmäßig unterbewertet wurden (Preisdisparitäten zwischen industriellen und landwirtschaftlichen Produkten). Die Zähigkeit, mit der sich »das jugoslawische Dorf« - Mitte der 70er Jahre lebte immerhin noch 35% der jugoslawischen Bevölkerung dort - den Rationalisierungszugriffen des Entwicklungsregimes erwehrte, geronn zur unauflösbaren Blockade des jugoslawischen Entwicklungsmodells, die wahrscheinlich erst durch die Verwüstungen des jugoslawischen Bürgerkrieges aufgebrochen wird.
Mit dem Ende der Kalten-Kriegs-Ordnung und dem Zerfall der osteuropäischen nationalen Wirtschaften entfielen jene ökonomischen und politischen begrenzten Vorteile, die die jugoslawische Wirtschaft jahrzehntelang aus der Kalten-Kriegs-Konkurrenz hatte ziehen können (Ostmärkte, westl. Kapital etc.). Das Wegbrechen der das jugoslawische Modell für eine kurze Zeit begünstigenden ökonomischen und politischen Bedingungen läßt die seit Anfang der 80er Jahre sich verschärfende innerjugoslawische Krise eskalieren. Das westliche Kapital reagierte schon früh mit Desinvestment in das jugoslawische Modell und rigiden Strukturanpassungsauflagen.
Gegen das Versickern internationaler Investitionen in das Selbstverwaltungsmodell und das Stocken des Werttransfers und der Renditen in die Metropolen setzte das Regime in den 80er Jahren (1982 und 1987) eine mit dem IWF koordinierte Austeritätspolitik durch und preßte zwischen 1981 und 1987 einen Schuldendienst von ca. 30 Mrd. US-Dollar (Schuldendienstrate 1987 etwa 46%) aus den Regionen und den Bevölkerungen heraus, indem der Lebensstandard radikal herabgesetzt wurde (Preissteigerungen, Importrestriktionen etc.).
Das jugoslawische Industrialisierungsmodell war aus seiner Sonderstellung in Europa heraus (Integration in die internationale Arbeitsteilung und in die Weltwirtschaft) weitaus stärker und wesentlich früher als die anderen osteuropäischen nationalstaatlich organisierten Ökonomien sowohl den Rentabilitäts- und Produktivitätszwängen des Weltmarktes als auch dessen Krisen unterworfen. So übertrug sich die Krise der metropolitanen fordistischen Akkumulation Mitte der 70er Jahre in viel stärkerem Maße auf den jugoslawischen Entwicklungszyklus.
Seit Mitte der 60er Jahre praktizierte das jugoslawische Entwicklungsregime mit Unterstützung westlichen Kapitals variierende Reformen in der Industrialisierungsstrategie, um die Verwertungsbedingungen zu reorganisieren und zu rationalisieren.
Gegenwärtig müssen alle aus dem Zerfall und Krieg hervorgehenden unabhängigen Republiken des ehemaligen Jugoslawiens als Billigproduktionsstandorte mit denen im übrigen Osteuropa konkurrieren . Aber die Aufsplittung Jugoslawiens in Teilrepubliken wird die oben angedeuteten strukturellen und sozialen Akkumulationsblockaden nicht zertrümmern - dafür war die Wirtschaft schon zu dezentralisiert und in beinahe abgeschlossenen Teilmärkten organisiert - allein der Krieg war dazu notwendig.


»Rent-seeking behavior« - Selbstverwaltung von unten
Mit »rent seeking behavior« bezeichnet T. Eger ein Verhalten der an der Selbstverwaltungspraxis und -prozedur (Absprachen) Beteiligten (Betriebsdirektoren, Manager, ArbeiterInnen, lokale Bürokraten etc.) das Werte abzuziehen versuchte aus institutionellen Beziehungen, aus der Möglichkeit, Betriebsrisiken zu externalisieren und aus dem Zugang zu knappen Ressourcen, der nicht über den Preis vermittelt war, sondern über das Kriterium lokaler/regionaler Zugehörigkeit reguliert wurde.
So konnten Manager und ArbeiterInnen sich die Selbstverwaltung aneignen und sich ein Einkommen sichern, das von der realen Arbeitsproduktivität losgelöst war und der Akkumulation entzogen wurde. Das betriebliche Unterlaufen der Gewinnorientierung zugunsten der Einkommensorientierung beschreibt O. Kovac folgendermaßen: »Wenn das Einkommen als Zielfunktion des Unternehmens gestellt wird, werden sie in eine sehr schwierige Position versetzt. Von ihnen wird erwartet, eine Zielfunktion anzustreben, die widersprüchliche Kategorien beinhaltet, also persönliche Einkommen und Profit, und die Versuchung, den Anteil der persönlichen Einkommen im Verhältnis zu Profit zu bevorzugen ist zu stark, besonders wenn das Wirtschaftssystem dazu beiträgt, daß ein Teil des gesellschaftlichen Eigentums (...) in die persönlichen Einkommen (Gehälter und Löhne) umverteilt werden kann. Bis vor kurzem war unter hoher Inflationsrate die Aufrechterhaltung des konstanten Realwertes des gesellschaftlichen Eigentums nicht sichergestellt, mit dem die Arbeitsorganisationen (d.h. Unternehmen, d.V.) gewirtschaftet haben; es wurden die realen Abschreibungsraten der festen Fonds nicht gewährleistet und auf diese Weise wurde das gesellschaftliche Eigentum in das laufende Einkommen umverteilt und aus dem laufenden Einkommen nach allen Regeln auf Verbrauch und Akkumulation verteilt. Deshalb wurde mit der Zeit klar, daß die Akkumulation des Kapitals in Jugoslawien nicht mehr für die Entwicklung ausreicht« (O. Kovac, 1988, S.166).
Soweit die Umverteilungspraxis der Selbstverwaltung von unten. Zeitweise Nicht-Arbeit steigerte sich lt. POLITIKA vom 15.1.1987 zum Dauerabsentismus, in dem durchschnittlich jede/r Beschäftigte/r beinahe 5 Monate im Jahr freimacht . Das Produktivitätsdilemma der sozialistischen Markt- und Selbstverwaltungswirtschaft unterstreicht auch ein Zitat von L. Djekvic: »Eines der wichtigsten Selbsverwaltungsrechte (kommt) in negativer Weise zum Tragen. Dieses Recht besteht in einer gesetzlich verankerten autonomen Entscheidung der Beschäftigten über Verteilung des erwirtschafteten Nettoertrages des Unternehmens einerseits auf Investitionen und betriebliche Fonds und andererseits auf das persönliche Einkommen der Belegschaft. Die Interessen der an der Selbstverwaltung beteiligten erweisen sich aber als zu kurzfristig und in erster Linie auf eine rasche Erhöhung ihres Einkommens und damit des persönlichen Verbrauchs gerichtet. Deshalb verlagern die Unternehmen ihre Tätigkeit tendenziell auf kurzfristige und ohne große Mühe durchführbaren Transaktionen. Längerfristige und höherwertige Geschäfte unterbleiben, was insbesondere auch in der Außenwirtschaft über Vernachlässigung von Kooperationen und Joint Ventures negative Auswirkungen gezeigt hat. Eine wesentliche Rolle spielt auch, daß diese hauptsächlich über Preiserhöhungen erzielten Einkommenssteigerungen selbst in jenen Bereichen gegeben sind, die mit Verlust arbeiten, da im Selbstverwaltungssystem nicht die Unternehmen, sondern vielmehr die Gemeinden, aber auch die Republiken und der Bund die Verantwortung für Verluste tragen.
Wirtschaftliche Fehlentscheidungen der Unternehmen werden nicht wirksam sanktioniert. Es bestehen vielmehr zahlreiche Möglichkeiten, die Risiken zu externalisieren. Man geht davon aus, daß zur Zeit in Jugoslawien etwa 7.000 Betrieben, d.h. etwa ein Viertel der Betriebe im gesellschaftlichen Sektor mit ca. 1,6 Mill. Beschäftigten, der Konkurs eröffnet werden müßte« (L. Djekovic, 1988, S.179f). Das Selbstverwaltungssystem mit seinen Sozialisierungsmechanismen, angemessene Einkommen gegen Produktivitätssteigerungen zu verteidigen, reifte - und da sind sich alle Wirtschaftsjournalisten einig - zu einer entscheidenden Entwicklungsblockade heran.
Dabei wurden bereits in den 60er Jahren im jugoslawischen Modell sozialistischer Wertschöpfungs- und Akkumulationsorganisation marktorientierte Reformen dezentral in den Republiken mit dem Ziel eingeführt, eine effektivere gesamtwirtschaftliche Rationalität in den ökonomischen Beziehungen zu erreichen: die Unternehmens- und Republikkompetenzen wurden unter dem Motto »Liberalisierung des sozialistischen Marktes« ausgeweitet . Dieses frühe Reformprojekt nach der Phase der extensiven Industrialisierung mündete schließlich in wilde Streiks, StudentInnenunruhen, und die »kroatische Krise von 1971 markierte das Ende des jugoslawischen Äquivalents zur Perestroika« (V. Zaslavsky/ V. Vujacic, 1991, S.20).
Rezentralisierung des politischen Kommandos, Vertiefung der territorialen Konföderalisierung und eine kreditfinanzierte Steigerung der Akkumulation und des Lebensstandards waren die Systemreaktion Anfang der 70er Jahre darauf. Die Stärkung und Ausweitung der Selbstverwaltungsrechte der Unternehmen in der Verfassungsänderung 1974 wurde nicht im Sinne der »Selbsttätigkeit der ArbeitnehmerInnenklasse« vorgenommen, sondern als Verfeinerung des Organisationssystems zur Steigerung der Produktivität verstanden, in dem die Autonomie der Unternehmen auf dem sozialistischen Markt gestärkt und »neue Managementtechniken im Sinne des `job enrichment' und `job enlargement' als Methoden der Konfliktvermeidung« eingeführt wurden . Die Problematik der Industriebesteuerung, der ArbeiterInnenkontrolle über die Produktion, der Fabrikorganisation (vgl. sowjet. Fabrikgemeinden) gleicht der, die wir im Materialien- Band Nr.4 für die Sowjetunion herausgearbeitet haben. Entscheidend für die Einordnung des jugoslawischen Industrialisierungs- und Entwicklungsweges scheint uns zu sein, daß das jugoslawische Regime bereits seit 1965 mit politisch-ökonomischen Rationalisierungskonzepten der Konfliktregulierung und wirtschaftlichen Modernisierungsstrategien aufwartete, um eine produktivitätssteigernde Marktrationalität zu erzwingen, die aber allesamt nicht die intendierten Folgen einer gesteigerten ökonomischen und sozialen Effizienz und Produktivität zeitigten und durch soziale Interessenlagen und Widerstände unterlaufen wurden (vgl. oben). Die jugoslawische Wirtschaft ist aus ihrer intermediären Lage ein frühes Experimentierfeld marktradikaler Reformen gewesen.
Die Blockierung einer systematischen Gesellschaftsrationalisierung (Subsistenz, Interessenkoalition von Bank-, Betriebsmanagement, Belegschaft und lokaler und regionaler Bürokratie, dezentralisierte Teilökonomien), die sich vertiefende Wirtschaftskrise, der Massenverarmungsprozeß, Arbeitslosigkeit (1,1 Mio/1987) und die sozialen Unruhen Ende der 80er Jahre verschärften das innnerjugoslawische Entwicklungsgefälle und heizten die regionalen ökonomischen und politischen Konkurrenzen an . Das Scheitern gesamtjugoslawischer Rationalisierungs- und Modernisierungsstrategien und die Dezentralisierung des Selbstverwaltungssystems tragen erheblich zur Herausbildung regionaler und lokaler nationalistischer Eliten bei. Die ökonomische Dezentralisierung (als Marktelement gedacht) schaffte abgeschottete Teilökonomien, in denen ca. 60% der produzierten Waren nicht das Territorium oder die Reggion verließen. »In Jugoslawien wurde eine Wirtschaftsstruktur geschaffen, in der ein politischer Voluntarismus der Entscheidungen, der hinter der Bildung der Wirtschaftsstrukturen von acht Nationalökonomien steht, etwas gestaltet, das mit einer Ausrichtung auf einen gesamtgesellschaftlichen Markt nichts zu tun hat«, so N. Vucic (N. Vucic, 1988, S.293). Die jugoslawische politische und ökonomische Zerklüftung, die föderative Zersplitterung, band die ArbeiterInnen in der Wirtschaftskrise, die im Süden zum Überlebenskampf sich steigerte, immer stärker an die regionalen Machteliten, deren nationale Programmatik immerhin das Versprechen der auf die Republik/Region bezogenen Privilegiensicherung enthielt. Das bedeutete das Aufsprengen der Krise der Akkumulation und Wertschöpfung in seine ethnisch-territoriale Dimension, die im blutigen Krisenchaos den Anschein der Verteidigung von Gemeinschaftsinteressen aufrechtzuerhalten vermochte. Die herrschenden regionalen kommunistischen Eliten nutzten über dezentralisierte Wirtschafts- und Machtstrukturen den von ihnen inspirierten Nationalismus als Herrschaftsinstrument. »Brutalität, äußerste gesellschaftliche Gewalt, Krieg und Bürgerkrieg wurde der Gesellschaft eines Landes, die jetzt in verschiedenen Ländern lebt, gegen ihren Willen aufgezwungen. Es war der Wille zur Macht einiger weniger, die das Ende ihrer Macht, ihrer Privilegien, ihrer Verbindungen zum parallelen und Schwarzen Markt, ihres Einflusses auf Wirtschaft, die Medien, ganz einfach auf die Gesellschaft kommen sahen.« (I. Vejvoda, 1993, S.23)
Es war - im Gegensatz zu anderen osteuropäischen Transformationsprozessen - das Fehlen einer gesamtjugoslawischen »Modernisierungselite« , übergreifender Krisenakteure, die aus eigener materieller und ideologischer Interessiertheit den Transformationsprozeß und die Weltmarktanpassung (Programm der Bundesregierung Markovic) hätte vorantreiben und durchsetzen können , so daß schließlich die nationalen Krisenregimes in den einzelnen Republiken zur Alternative heranreiften und die Chance ergriffen, die Selbstverwaltungs-, die sozial verfestigten ländlichen Strukturen, die soziale Blockierung des jugoslawischen Akkumulationsregimes im Krieg aufzubrechen . Zur Ethnisierung der sozialen Frage wird in den folgenden Heftbeiträgen Material vorgelegt. Der jugoslawische Krieg scheint letzter Ausweg aller nationalen Regime unter kriegswirtschaftlichem Zugriff, die Reorganisation der dezentralisierten Ausbeutungs- und Verwertungsbedingungen anzugehen. In kriegswirtschaftlicher Arbeitsteilung sind bspw. im allen Teilrepubliken die Reallöhne radikal gesenkt worden. Dennoch bleibt der Reorganisationsprozeß der regionalen Akkumulationsstruktur mit sozialem Widerstand konfrontiert.
Im Gegensatz zu den osteuropäischen Transformationsregimen scheiterte Anfang der 90er Jahre das jugoslawische Entwicklungsmodell nach einer langen Phase gesamtgesellschaftlicher Modernisierungsoffensiven, die sich jetzt im jugoslawischen Krieg zu verdichten scheinen und sich als ethnische Gewalt transformieren und vielleicht eine Ouvertüre auf den osteuropäischen Umbruchs- und Neuordnungsprozeß darstellen, der schließlich mit einem sozialen Überschuß - verstanden als populäre Utopie sozialer Gerechtigkeit und als real herausgedrängte »Überschußbevölkerung« (vgl. oben) - konfrontiert ist, dessen Aspirationen gewaltsam niedergehalten und dessen Wege in die Emigration verstopft werden.


»In Bosnien gewinnt Europa neue Gestalt«
In Bosnien stirbt nicht Europa, wie von mitteleuropäischen Intellektuellen und metropolitanen Demonstranten anklagend konstatiert wird, sondern gewinnt, wie Joachim Hirsch zu recht bemerkt, neue Gestalt. Das westliche Kapital und die europäische politische Klasse können - auch bei internen Differenzen und Konkurrenzen - dem jugoslawischen Zerfall und Krieg, deren Ausgangsbedingungen sie mitgeschaffen haben, abwartend und moderierend gegenüberstehen.
Die jugoslawische Region hatte mit dem Ende der Kalten-Kriegs-Ordnung ihren »Sonderstatus«, wie wir ihn oben beschrieben haben, endgültig verloren und war dadurch, was die Kapitalverwertungsanforderungen betraf, den anderen osteuropäischen Ökonomien gleichgestellt, die untereinander um eine möglichst günstige periphere Anbindung an den EG-Raum zu konkurrieren gezwungen waren. Der innerjugoslawische Krieg beschleunigte den sozialen und ökonomischen Anpassungsprozeß der jugoslawischen Teilrepubliken an die transnationale Akkumulation. Gleichzeitig durchbricht er jene Verwertungsblockaden, an denen das jugoslawische Entwicklungsmodell scheiterte. Der innerjugoslawische Krieg und die kriegswirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen in allen Teilrepubliken bereiten geradewegs die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Strukturen für eine kapitalistische Inwertsetzung auf. In den ethnischen Zonierungen und Schichtungen des jugoslawischen Raums werden kapitalistische Kontroll- und Einflußspähren strategisch neu geordnet. Solande der Krieg territorial begrenzt werden kann, Flüchtlinge und »Vertriebene« in Schutzzonen konzentriert und auf ihrem Weg in die Metropolen abgewehrt werden können, solange steht »Europa« dem »Ausbluten des Konfliktes« zumindest gleichgültig gegenüber - alles andere wäre nicht in seinem Interesse.

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Die Ethnisierung des Sozialen

Die Transformation der jugoslawischen Gesellschaft im Medium des Krieges

Teil II - Bemerkungen zur Kampfgeschichte der moralischen Ökonomie


Verlag der Buchläden Schwarze Risse - Rote Strasse
Berlin Göttingen 1993
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Vorwort
Jugoslawien im Kontext des ost- und südosteuropäischen Umbruchs
Bemerkungen zur Kampfgeschichte der moralischen Ökonomie
Zur Kampfsituation 1987
Nationalismus und Ethnisierung
Krieg als Transformationsmechanismus
Die EG-Migrationspolitik und die Flüchtlinge aus Südosteuropa
Zur Rolle des Imperialismus in der jugoslawischen Krisen- und Kriegsdynamik
Anhang


Bemerkungen zur Kampfgeschichte der moralischen Ökonomie
»Das, was einst Jugoslawien genannt wurde, ist eigentlich auch jetzt noch ein halburbanisiertes, halbindustrialisiertes Gebiet in Südosteuropa. Die sozialistischen Modernisierungs-, Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozesse wurden auf eine typisch »bäuerliche Weise« verwirklicht. Die intensive Produktion eines Proletariats und von Proletariern, wobei die Bauern die Rolle eines natürlichen Rohstoffs spielten, führte nicht zu den erwünschten Resultaten: zur Proletarisierung der Städte und zur Urbanisierung der Dörfer. Die Dörfer wurden halbproletarisiert, und die Städte verwandelten sich in große Siedlungen oder in übergroße Dörfer, in denen nicht das städtische »soziale« Element - um vom »politischen« ganz zu schweigen - zum dominanten wurde. Das Resultat war die Dominanz einer »strengen« ländlichen Mentalität mit entsprechenden Wertma?stäben. Man könnte auch im populären Jargon des hiesigen Menschenschlags von einer »gebirglerischen« oder »dinarischen« Mentalität sprechen. Ähnliche, vielleicht sogar noch intensivere Prozesse sind gerade jetzt im Gange, da gerade der letzte der Balkankriege wütet.«
Man kann dem Verfasser dieser Zeilen dankbar sein. Ohne sich die Mühe analytischer Distanz zu machen, ruft er mit seinen Schlagwörtern noch einmal die rassistische Vorstellungswelt wach, mit denen Nazismus, Bolschewismus und die dualistische Entwicklungspolitik über 7o Jahre hinweg ihren Haß auf das Objekt ihrer Begierde und ihre Furcht vor seiner Gegenmacht zum Ausdruck brachten. Gerade darin jedoch bringt er ein wesentliches Moment des aktuellen Kriegs genauer auf den Punkt, als jede Agrarsoziologie es vermöchte, wenn auch sicher unabsichtlich. Begriffe wie »bäuerliche Weise«, »natürlicher Rohstoff«, »ländliche, dinarische Mentalitäten« gehören zur Frontberichterstattung über einen sozialen Krieg, der die Akkumulationszyklen dieses Jahrhundert geprägt hat und der bis jetzt zu einem globalen Saldo von mehreren hundert Millionen Toten aufgelaufen ist. Es ist nicht der Krieg gegen die BäuerInnen. Es ist der Krieg gegen ein soziales Kontinuum von moralischer Ökonomie und Existenzrecht. Es war seine Gegenmacht, die in der osteuropäischen Revolution von 1917-19 zum ersten Mal die Barbarei der Kapitalakkumulation in die Defensive brachte. Was jetzt im Gemetzel der ethnischen Säuberungen zertrümmert wird, ist eine späte Gestalt dieser Gegenmacht. Sie unterscheidet sich zwar deutlich von ihren frühen Ausdrucksformen von 1917, aber sie ist mit ihr über einen historischen Transformationsprozeß verbunden und daher ohne sie nicht zu verstehen.
Es ist natürlich rassistischer Unsinn, wenn Jugoslawien als Dorf beschrieben wird. Aber es ist die selbe moralische Ökonomie, die sich noch vor hundert Jahren auf die Auseinandersetzung der Dörfer mit den spätfeudalen Ausbeutern beschränkt hatte, die später die Akkumulationsstrategien der jugoslawischen Eliten vor und nach dem 2. Weltkrieg bis in Städte und Fabriken hinein immer wieder von unten in die Enge brachte. Vor dem Krieg in der Auseinandersetzung mit der »Raubwirtschaft« (Seton-Watson) eines diktatorischen Staatsmonopols, nach dem Krieg mit der Raubwirtschaft eines sozialistischen Staatsmonopols. Die Raubmethoden unterschieden sich wenig: Überausbeutung über eine staatlich regulierte Preisschere zwischen Agrarprodukten und industriellen Investitions- und Konsumgütern, Überausbeutung im Mißverhältnis von Steuern und Leistungen, gezielte Dorfverelendung, flankiert durch eine polizeiliche Dauerbelagerung.
Die Formen, in denen die moralische Ökonomie sich mit ihnen konfrontierte und sich selbst darin transformierte, zeugen von ihrer erstaunlichen Elastizität und waren selbst durch die Krisenstrategien der 80er Jahre nicht zu überwinden. Dies hat einen wesentlichen historischen Grund darin, da? die einzige wirkliche soziale Macht, die aus dem zweiten Weltkrieg hervorging, die der Bauernpartisanen war, einzigartig in der europäischen Geschichte. An ihren politisch-sozialen Strukturen scheiterte der Versuch der wangskollektivierung, sie waren der eigentliche Grund, warum die Unterwerfung des Lohns unter die Mehrwertkalkulationen der Führung in den letzten 4o Jahren nie gesichert war und sich der Druck der Einkommenserwartungen immer wieder gegen die Diktate der Wertschöpfung politisierte. Um dies zu begreifen, müssen wir die Entwicklungslinien seit dem revolutionären Flächenbrand von 1917 - 1919 kurz nachzeichnen.
Was der Entwicklungsrassismus linker und rechter Prägung gern zum »natürlichen Rohstoff« mit irgendwelchen indigenen Mentalitäten verdinglichte, war das Subjekt, das in den Jahren 1917-19 den gesamten Agrargürtel von Finnland bis Griechenland in revolutionären Brand setzte und seinen Ausgangspunkt in den russischen Dörfern hatte. Dieser revolutionäre Proze? war transnational. Der Nationalstaatsgedanke war untrennbar mit den Herrschafts- und Ausbeutungsaspirationen der jeweiligen Intelligenz verbunden und gehörte zum ideologischen Arsenal des sozialen Feindes. Daher spielten auch die offiziellen Kriegsgegnerschaften kaum eine hemmende Rolle. Ethnische Unterschiede, die heute wieder zu jahrhundertealten Vorgeschichten des Kriegs montiert werden, stellten lediglich Einfärbungen in der Homogenität der sozialen Gegnerschaft dar. David Mitrany formuliert nur die Feststellungen vieler Kenner: »Soziale Bewegungen waren in der Vergangenheit niemals nationalen Linien gefolgt. Die Bauern einer Region, so unterschiedlich sie nach Sprache, ethnischer Herkunft oder Religion waren, schlossen sich zusammen, wenn sie ihre Rechnung mit den Grundbesitzern beglichen.«
Der revolutionäre Prozeß war auch nicht auf das Land beschränkt, sondern bestimmte über das mobile Element der sogenannten »BauernarbeiterInnen« die Revolution auch in die Fabriken hinein. Er war nicht proletarisch im marxistischen Sinne einer bereits in die Wertschöpfungsdynamik eingebundenen und disziplinierten Schicht erblicher Arbeiter, im Gegenteil. Er radikalisierte vielmehr die Werte von Gleichheit, Kollektivität und Versorgung aller gegen das Diktat der ökonomischen Wertschöpfung insgesamt zu revolutionären Kampfwerten. Diese hatten weder etwas mit »bäuerlichen Mentalitäten« zu tun noch mit biologischen Eigenschaften eines »natürlichen Rohstoffs«. Denn ihr oft als »primitiver Bauernkommunismus« denunzierter Basiskommunismus war nicht primitiv. Seine Formen und Autonomien kollektiver Gegenmacht hatte er in der jahrhundertelangen Auseinandersetzung gegen Herrschaft und Auspressung entwickelt, modernisiert und durch neue Formen der Mobilität vergesellschaftet. Er war auch entgegen der marxistischen Propaganda nicht kleinbürgerlich, denn er verwirklichte sich in den kollektiven Aneignungsformen der revolutionären Dorfkommunen oder Basisgemeinden, wie man will, ja er machte auf dem Höhepunkt der Revolution das gerade durch die herrschende Agrarpoltik gebildete Privateigentum wieder rückgängig. Schlie?lich war er auch nicht einmal mehr »feudal« oder »antifeudal«, er war so modern wie sein Gegner. Sein Haß, der Haß von 70-80% der Bevölkerung, richtete sich präzise gegen das jeweilige Managment und die Formen ausbeutender Gewalt.
Zunächst gegen den Feudaladel, dann gegen die Pächter und Pioniere der Fabrikausbeutung. Im letzten Stadium radikalisierte er sich in der Auseinandersetzung mit der staatsmonopolistischen Verschärfung der Gewalt vor und im ersten Weltkrieg und das heißt vor allem gegen die progressistische städtische Intelligenz und die Agenturen ihres staatlichen Monopolismus, egal ob links oder rechts.Wir haben diese Entwicklung in einem ersten Entwurf zur russischen Revolution im Materialienband 4 beschrieben und auch die politisch-ökonomische Reaktion umrissen, mit der dieser übergreifende revolutionäre Prozeß zum Ende des Kriegs zerlegt und eingedämmt wurde. Von besonderer Wichtigkeit für unser Thema ist die Rückzugslinie des nationalstaatlichen Monopolismus, in dessen Grenzziehungen die Transnationalität der Revolution eingehegt und parzelliert wurde.
Sie war kombiniert mit den hinhaltenden Zugeständnissen von Landreformen, die die Formen der revolutionären Aneignung durch den Kollektivismus der Basisgemeinden einer staatsmonopolistischen Regelung unterwerfen und damit langfristig dem Diktat der Wertschöpfung wieder zugänglich machen sollten. In diesen Rückzugsstrategien trafen sich die bürgerlichen Architekten des nationalstaatlichen Systems von Versailles mit der rechtsbolschewistischen Reaktion, wie Rosa Luxemburg es noch aus dem Gefängnis in Breslau kritisiert hat.
Damit war das transnationale Kontinuum des revolutionären Prozesses zwar zerschnitten, seine Front verlief gleichwohl weiter durch alle Länder an einer einzigen sehr präzisen Linie. Für die Kommissare des bolschewistischen Raubmonopols blieb das russische Dorf ein gefährliches Terrain, vielfach eine regelrechte no-go-area. Und für das sogenannte »Jugoslawien« schrieb Tomasevich plastisch: »Der Staat war keine Institution, den die Bauern - und das heißt die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung - als ihre eigene betrachteten, er blieb für sie eine fremde, gefürchtete, oft geha?te Organisation. Der Haß, den die Bauern über Jahrhunderte gegen die Feudalaristokratie gehegt hatten, wurde jetzt auf die Staatsbürokratie und die Repräsentanten der neuen sozioökonomischen Ordnung aus der Stadt übertragen.«
Diese Beschreibung kennzeichnete nicht spezifisch jugoslawische Verhältnisse. Sie zeichnete die soziale Front, die sich von Litauen über Polen und Rußland bis Mazedonien durch alle »Länder« hindurch in der Auseinandersetzung von revolutionärem Proze? und etatisiertem Raubmonopol zog und die sich in alle drei Kontinente globalisieren sollte.
Der revolutionäre Prozeß hatte seinen dynamischen Kern im russischen Bauernaufstand, der schon im Sommer 1917 die alte Ordnung hinweggefegt hatte, bevor sich die bolschewistische Machtergreifung im Oktober die vollendete Tatsache zunutze machen konnte. Er verlängerte seine Dynamik im Verlauf des Jahres 1918 in den Balkan, wobei auch hier eine Bauernguerilla die dörflichen Aneignungsformen flankierte, teils als »grüne Garden« (vor allem in Kroatien und Slawonien), teils als Deserteursverbände aus den Wäldern in einer Gesamtstärke von mehreren Hunderttausend allein in den südslawischen Teritorien, deren Erfahrungen die Bildung der Partisanenverbände des zweiten Weltkriegs vorwegnahmen und begünstigten. Auch hier zielte seine Bewegung auf einen Kommnunismus von unten, der wie in der russischen Dorfgemeinschaft («mir«) die Elemente kommunitärer Gegenmacht aus der südslawischen Familiengemeinschaft, der »Zadruga«, zu Formen kollektiver Aneignung radikalisierte. Dasselbe gilt für die familiäre Feldgemeinschaft der Kmetschina in Bosnien und der Herzegowina und das an der Küste vorherrschende Kolonat. Ähnlich wie die Bolschewiki in der Agrargesetzgebung von 1918 versuchte die südslawische Exekutive im Gleichschritt mit den übrigen Regierungen des Agrargürtels, den Flächenbrand der kommunitären Bewegungen in Landreformen aufzufangen und ihren Kollektivismus durch Eigentums- und Erwerbsgarantien zu parzellieren und zu verrechtlichen, in der vagen Hoffnung, ihn langfristig in den Abschottungen der neuen Nationalordnung von Versailles aufzureiben.
Dies waren zunächst reine Rückzugslinien, und sie wurden in Jugoslawien und den anderen Teilen des Balkans in zum Teil wilder Panik arrangiert (etwas anders als in Polen, wo die nationalistische Kriegsstrategie der Bolschewiki im Polenfeldzug mithalf, den Kommunismus von unten von vorneherein stärker einzudämmen). Sie leiteten die Latenzphase einer politisch-ökonomischen Konfliktualität ein, die sozial und ökonomisch in allen Ländern an der schon beschriebenen Front ständig explosiver wurde. Die Feindseligkeit den nationalen und intellektuellen Eliten gegenüber (auch aus den Bauernparteien) nahm zu, lediglich hingehalten durch populistische Erscheinungen wie die der aus der Narodnikitradition stammenden Brüder Radic in Jugoslawien, Stamboliski in Bulgarien oder Witos in Polen. Faschistische Initiativen blieben eine Sache rechter Intelligenz und Kleinbürgerschichten der rechten Intelligenz und vermochten in der Subsistenz kaum Fuß zu fassen - entgegen einer manchmal geäußerten Auffassung auch in Polen nicht, sehr zu Leidwesen der nationalsozialistischen Beobachter - mit Ausnahme der rumänischen Eisernen Garde in der ersten Phase ihrer christlich-chiliastischen Propaganda. Die kommunistische Intelligenz stieß wegen ihrer Gegnerschaft gegen die herrschende Ausbeutungsordnung auch in Jugoslawien auf eine gewisse Sympathie, die durch die Nachrichten über die stalinistische Zwangskollektivierung beeinträchtigt wurde, fand jedoch über das schmale Segment einer unbedeutenden Arbeiterklasse hinaus nie eine breite Basis.
Das wirkliche Problem der linken wie rechten nationalen Ausbeutungseliten blieb die Gegenmacht der moralischen Ökonomie auf dem Land, die über die Binnenmigration bis in das »Niemandsland« (wie es ein zeitgenössischer Bericht ausdrückte) der städtischen Armenviertel hineinreichte. Ihre Ausdruckformen hatten sich auch unter dem Regime des etatistischen Monopolismus von Versailles nur wenig verändert. Sie kontrollierte die am Familieneinkommen orientierte Verausgabung von Arbeit. Die wütenden Berechnungen unzugänglicher und nicht beherrschbarer Arbeitsreserven waren das Dauerlamento ohnmächtiger Entwicklungsagenturen unter den ominösen Stichwörtern der »verdeckten Arbeitslosigkeit« und »Überbevölkerung«. Gerade in den ersten Jahren hatten die nationalen Monopolstrukturen in der Furcht vor der Revolution große Schwierigkeiten damit, Agrarprodukte aus den familiären Konsumzusammenhängen auf den Markt zu pressen, um mit Hungerexporten Devisen zu erwirtschaften. Nachdem der Hungerzwang infolge der Revolution versage, klagte Baumberger in zynischem Mißmut, esse sich der Bauer satt und arbeite nur noch soviel, als hierzu notwendig sei . Besonders in Jugoslawien war der Rückgang der Marktbelieferung zeitweise dramatisch .
Der Zugriff war weder über eine zum Teil blutig operierende Steuerpolizei noch über gesetzliche Einrichtung von Mühlen-, Silo- und Vermarktungsmonopolen (an deren später unter nationalsozialistischer Orientierung betriebenen Experimente Tito in den 5oer Jahren wieder anknüpfen sollte) noch über die Kreditschraube neuer Agrarbanken so erfolgreich, da? er zu einem grundsätzlichen Durchbruch führte. Die Monopole wurden mühelos durch die undurchdringlichen und unkontrollierbaren regionalen Strukturen unterlaufen und die repressiven Maßnahmen nahmen aus Furcht vor der Revolution die Formen eines durchaus blutigen Dauerkriegs an, dessen Intensität ständig am Pegel der Unruhen ausgerichtet und moderiert wurde.
Verhaftungen, Verprügelungen und Tod infolge Fluchtverdachts waren in Jugoslawien alltägliche Erscheinungen (eher vorsichtige Schätzungen berichten in diesem Zusammenhang über einen Blutzoll von 60 Hinrichtungen, 200 Toten durch Polizeiterror und Inhaftierungen, 20.000 Gefangenen durch Sondergerichte, die die staatsmonopolistische Kriegsführung allein während der kurzen Regierung Alexanders kostete ). Sogar viele technische Momente, die die entwicklungsorientierte Linke in ihrem Sozialrassismus den primitiven und rückständigen Mentalitäten zurechnet, wie etwa die Rückständigkeit des Arbeitsgeräts und der Saatgutversorgung (Holzpflüge etc.), erweisen sich bei näherem Hinsehen als strategische Momente des Konflikts. Die Familien haben nicht nur die extrem hohen Zinsen kalkuliert, sondern den damit einhergehenden sozialen Zugriff auf Arbeit und soziale Kohärenz in ihren Versorgungsaspekten zu blockieren versucht. Ihre hohe Elastizität erwies die moralische Ökonomie besonders angesichts der Weltwirtschaftskrise. Bei allem Elend vermochte sie noch die aus den Städten zurückflutenden ArbeiterbäuerInnen in ihre Versorgungsstrukturen aufzunehmen und die sozialbereinigende Krisenfunktion des kapitalistischen Zyklus zu unterlaufen. Es gab keine Arbeitslosigkeit auf dem Land .
Anlaß für die Eskalation des Rassismus gerade in der deutschen Metropole, wie er von Susanne Heim und Götz Aly in seinen späteren Ausprägungen analysiert wurde: »Das Dorf wächst wie ein Polypenstock; die Menschen verlieren allmählich all jene imponderabilen Eigenschaften, die den eigentlichen soziologischen und eugenetischen Wert einer Bauernbevölkerung ausmachen, degenerieren körperlich und seelisch zum Typus des mickrigen Menschen« .
Es war diese moralische Ökonomie, ihr »Esserismus«, ihr »parasitäres Pro-Esser-System«, die in der sozialen Gegenmacht ihrer ökonomischen Versorgungstrukturen zuerst von der stalinistischen Zwangskollektivierung angegriffen wurde und ein halbes Jahrzehnt später als »überflüssiger Esser« von der jugoslawischen Agrarpolitik, die sich in dieser Zielrichtung an den informellen Imperialismus des Neuen Plans von 1934 und dann des Vierjahresplans von 1936 anschlossen . Die jugoslawischen Bauernunruhen der letzten Jahre vor dem deutschen Überfall im Frühjahr 1941 konfrontierten sich mit dieser Eskalation. Als dann die deutsche imperialistische Kriegsökonomie den Zugriff intensivierte, war sie überraschend schnell und breit mit einer autonom aufflammenden revolutionären Bauernguerilla konfrontiert. Diese schöpfte ihre Kraft nicht etwa nur aus einer nationalen Orientierung gegen den äu?eren Aggressor (der Rahmen jugoslawischer Staatlichkeit zerfiel, als hätte es ihn nie gegeben). Es war die soziale Kohärenz ihrer moralisch-ökonomischen Strukturen, die sie gegen die Raub- und Vernichtungspolitik eines sozialen Aggressors mobilisierte. Es war keine nationale Erhebung, es war eine soziale Erhebung, die sich auch gegen die jugoslawischen Eliten richtete. Sicher, von BosnierInnen, SerbInnen, KroatInnen, aber diese Einfärbungen waren schon immer zum Tragen gekommen, wenn der soziale Feind zugleich der äu?ere Feind gewesen war.
An ihrer Entstehung hatte die kommunistische Partei keinen Anteil. Ihr kurz nach Einmarsch der deutschen Truppen gebildetes Miltärkommitee unter Tito war zunächst ohne Einflu?. Es spielte dabei sicher eine Rolle, da? die bis Mitte der 30er Jahre zahlenmäßig starke Partei 1937 von Tito und als langjährigem Berufsagent im Auftrag der Komintern von »Trotzkisten« und luxemburgistischen oder sonstwie bauernfreundlichen Linkssektierern gesäubert und in ihrem sozialen Einfluß geschwächt worden war. Wenn es Tito gelang, sich durch sein organisatorisches Talent und Führungsqualitäten und vor allem auch wegen seiner logistisch wichtigen Beziehungen zur UdSSR und kommunistischen Bruderparteien an die Spitze der Partisanenverbände zu setzen, so bedeutete dies nicht unbedingt eine Stärkung der KPJ. Eher im Gegenteil. KämpferInnen der bäuerlichen PartisanInnen begannen, von unten in die organisatorischen Kaderstrukturen aufzurücken und sie mit ihren basiskommunistischen Vorstellungen zu infiltrieren. Sie blieben auch in Zukunft weitgehend den sozialen Strukturen und der sozialen Basis verbunden, aus der sie kamen. Eine Wiederholung der unter Trotzki im russischen Kriegskommunismus eingeleiteten Initiative, über den Krieg eine stabile Kaderorganisation gegen Guerilla und BäuerInnen zu schmieden, hatte hier keine Chance. Die Militärpolitik sollte noch längere Zeit brauchen, um aus der Armee ein stabiles Instrument der Staatsmacht zu machen. Das führte dazu, daß die noch immer stalinistische Organisation im anwachsenden Parteiapparat sich als abgespaltener Kern im Hintergrund hielt und der Volksheld Tito mehr nolens als volens die Funktion einer populistischen Brücke übernehmen mußte.
Dies war Stalin klar, als er 1948 am Konflikt mit Tito über die Kominform den Trennungsstrich des Kalten Kriegs an der Grenze zu Jugoslawien zog. Weder der Kern der jugoslawischen KP noch Tito waren zunächst Abweichler. Ihre Landreformen, die ebenso wie 1919 die dörfliche Massenarmut hinhalten sollten, noch die gleichzeitige gegen die Überbleibsel peasantistischer Organisationen gerichtete Säuberungspolitik fiel aus dem Rahmen der Volkrepubliken heraus. Die strategische Zielorientierung der Agrarkollektivierung bewegte sich anfangs durchaus in der Spitze ihres Spektrums (die öffentliche Rhetorik widersprach den Plänen und gab der Sorge über die Unberechenbarkeit des Widerstands Ausdruck), sie war radikaler als die des polnischen und sogar als die des bulgarischen Regimes. Als die Kominform nach Schdanows Anklage im Juni 1948 den Bann gegen Tito wegen trotzkistischer Abweichung und was sonst noch richtete, da waren viele der vorgetragenen Gründe lächerlich, bis auf einen: Tito hatte ein unerhörtes ideologisches Sakrileg begangen und in einer Rede die Bauern als das festeste Fundament des jugoslawischen Staates bezeichnet. Selbst das wäre in Anbetracht von Titos Verdiensten und Fähigkeiten eine läßliche Sünde und lediglich eines Rüffels wert gewesen. Das Schlimme daran war, daß es stimmte.
Die Gründung der Kominform im Spätsommer 1947 war eine Antwort auf den Marshallplan. Sie war keine defensive und auch keine lediglich politische, sondern auch eine ökonomische Antwort. Die Grenze des Kalten Kriegs sicherte den territorialen Zugriff für die Verlängerung einer Politik der sozialen Zertrümmerung der »esseristischen« Dorfstrukturen im Wege der Zwangskollektivierung in die Volksrepubliken, die als Strategie der »sozialistischen Akkumulation« neue agrarische Werte und Arbeitsreserven mobilisieren sollte. Der Koreakrieg hatte in der Verschärfung dieser Politik im Ostblock etwa dieselbe Funktion wie in der Verschärfung des US-Imperialismus. Dies war in Jugoslawien nicht durchsetzbar.
Bezeichnend ist die Klage des kroatische Premier Dr. Bakaric im Herbst 1949, es gäbe keine Probleme in der Getreideproduktion, nur die Zwangsabgaben wären nicht durchsetzbar. Hierbei erfüllten sogar die Arbeitskooperativen ihre Pflicht nicht. Außerdem gäbe es Mi?brauch bei den örtlichen Parteimitgliedern. Sie weigerten sich oft, den armen Bauern das Getreide abzunehmen und hielten sich an die reichen, indem sie ihnen manchmal mehr als die ganze Ernte wegnahmen ). In der Tat standen in Jugoslawien keine Machtmittel zur Verfügung, um das ganze Spektrum der Gegenmacht zu brechen. Denn es war nicht, wie in anderen Republiken, auf das Dorf und ArbeiterbäuerInnen beschränkt, sondern es hielt die Armee, die Partei, die lokale und regionale Administration bis in die höheren Ränge besetzt. Au?erdem war die Rote Armee weit weg. Auch in Polen etwa war die Kollektivierung nur unter ihrem Schutz in Angriff zu nehmen . Ein Einmarsch in Jugoslawien aber gegen das Volk und eine der besten Partisanenarmeen der Welt, der möglichweise den Flächenbrand gegen den Stalinismus in ganz Osteuropa und sogar Russland neu entfacht hätte, kam nicht infrage. Das Beispiel der jugoslawischen Verhältnisse erwies sich ohnehin als gefährlich genug. So wurde die Kominformattacke auf Tito von polnischen Bauern mit der Schlachtung von Vieh (ein traditionelles Kampfmittel) beantwortet und die polnische KP klagte, daß eine ziemliche Anzahl von lokalen KP-Funktionären von Bauern getötet worden sei .
Der Bann gegen Tito war das Signal für eine neue Etappe in der Verbindung des kalten Kriegs nach außen mit der Intensivierung des sozialen Kriegs nach innen. Es ging nicht um die Person Tito, sondern um die soziale Macht, für die er nur eine mehr oder weniger unschuldige Gallionsfigur war. Es wird vermutet, daß Stalin möglicherweise auf eine Erhebung der traditionell russenfreundlichen serbischen Bevölkerung gegen Tito hoffte.
Ich halte es für unsinnig, ihm als einen der erfahrensten Kenner bäuerlicher Gegenmacht eine derartige Fehleinschätzung anzulasten. Die Abgrenzung von Tito war ein Teil einer grundsätzlichen und langfristigen Orientierung von globaler Bedeutung und mü?te im Hinblick auf die zukünftige Politik gegenüber den basiskommunistischen Kräften »nationaler« Befreiungsbewegungen noch einmal genauer untersucht werden. Sie war das Pendant und Signal zur »inneren« Säuberungswelle in den Volksrepubliken, der Sprachrohre der bäuerlichen Unterklassen wie etwa Gomulka zum Opfer fielen, aber auch weniger artikulierte Abweichler wie Patrascanu in Rumänien, Kostov in Bulgarien und Koci Xoxe in Albanien.
Dies gab den Plänen zur Durchführung der erzwungener Kollektivierung in Jugoslawien praktisch den Todesstoß. Wenn sie auch anfänglich im Verbund mit anderen Volksrepubliken auch gegen die sich abzeichnenden großen inneren Widerstände in Jugoslawien anvisiert worden sein mochte, nach 1948 hatte sie isoliert letztlich keine Chance mehr. Tito lie? diese Erkenntnis schon zwei Monate nach der Kominformattacke in der Erklärung anklingen, Jugoslawien hätte genug aus den Ereignissen in Ru?land gelernt, um in der augenblicklichen Situation die Landwirtschaft nationalisieren und kollektivieren zu wollen, das würde die Bauern nur verwirren. Trotzdem wurden noch bis 1951 die schon eingeleiteten Kollektivierungsinitiativen weiterverfolgt, denn die Endgültigkeit der Ausgrenzung mochte noch nicht sicher sein, die jugoslawischen Stalinisten wollten den Anschluß nicht verlieren und kalkulierten zudem darauf, noch möglichst viel Terrain zu gewinnen. Unter dem Eindruck des wachsenden Widerstands besonders in Kroatien und Mazedonien wurden sie jedoch 1951 abrupt abgebrochen. Auf dem Hintergrund der zum Teil kollektivierungsbedingten Mi?ernte von 1950 wuchs nicht nur die in der Einschränkung der Belieferung und in den Unruhen zum Ausdruck gelangende Radikalität und Militanz, diese drohten auch, das in sich widersprüchliche Gewebe der politisch-ökonomischen Struktur zu zerreißen, mit unabsehbaren Folgen.
Zwangsablieferungen von Fleisch, Milch und Tierfutter wurden abgeschafft, lediglich die von Getreide wurde zunächst beibehalten und erst im Juni 1952 abgeschafft. Die Zwangsma?nahmen zum Beitritt in die sogenannten Bäuerlichen Arbeitsgenossenschaften, die Zugriff auf Arbeitsleistung und -organisation und eine überproportionale Wertabschöpfung zugunsten der Industrie eröffnen sollten, wurden fallengelassen mit dem Erfolg, da? sie binnen Monaten verwaisten. Das durch die Maßnahmen jedoch wiederaufgelebte Mißtrauen, die Ablehnung der Parteieliten und das Aufbrechen der alten Frontlinien waren bei aller guter Erinnerung an die Kriegserfahrungen allerdings nicht mehr rückgängig zu machen. Dazu war auch kein Anlaß. Denn der taktische Rückzug leitete nur einen taktischen Grabenkrieg ein, der unter verschiedenen Deckmäntelchen versuchte, die alte Politik fortzusetzen, mit Mitteln, die den Bauern zumeist schon aus der Vorkriegszeit geläufig waren.
Ich kann an dieser Stelle nicht auf die verschiedenen zum Teil mit beträchtlicher Raffinesse eingesetzten Angriffs- und Ausbeutungsstrategien eingehen, sie sind gut bei Robert Miller nachzulesen (der einen etwas besseren, offenbar von Teodor Shanin inspirierten Einblick in die Grundsätzlichkeit des sozial-ökonomischen Antagonismus erkennen läßt) aber auch bei Loncarevic, Allcock oder Wädekin . Zu ihren wichtigsten Momenten gehört ein regelrechtes Zweiklassenwahlrecht (in der zweiten Produzentenkammer waren die Städter fünf mal so stark repräsentiert wie die Landbewohner); die zum Teil drastische Ökonomische Überausbeutung über eine administrativ fixierte Preisschere zwischen Agrar- und ländlichen Investitionsgütern (Dünger, Saatgut, Maschinen), aber auch Konsumgütern (auch und gezielt zugunsten der im Verhältnis oft drastisch überkapitalisierten und parasitär-kostspieligen »sozialistischen« Agrarbetriebe); die Belastung der BäuerInnen (im Gegensatz zu den StädterInnen) mit dem Stra?enbau, der Einrichtung von Stromversorgung, Schulen, Erste-Hilfe-Stationen (praktisch eine Wiederauflage der alten Fronverpflichtungen) die Unterwerfung unter die verschiedensten Formen von staatlichen und halbstaatlichen Monopolen (zu deren Instrumentarium ab 1955 auch die Allgemeinen Landwirtschaftlichen Genossenschaften mit ihren Vertriebs- und Absatzmonopolen und Aufgaben lokaler Administration und Kreditvermittlung zählten); der Ausschluß von der Teilhabe an der öffentlichen kostenlosen Gesundheits-, Alters- und Invaliditätsversorgung oder die Belastung mit extrem hohen Beitragsleistungen; die höhere Steuerlast. Insgesamt (und damit ist noch nicht gesagt, wieweit diese Differenzen überhaupt in die Statistiken eingingen) lag das Einkommen nicht landwirtschaftlich Erwerbstätiger durchgängig um 50% höher als das der landwirtschaftlich Erwerbstätigen und auch dies war im »sozialistischen« Sektor weit höher als bei den BäuerInnen.
Das Mittel zur Mobilisierung dieses gewaltigen Werttransfers, der dem der Vorkriegszeit mit Sicherheit nicht nachsteht, waren verschiedene Spaltungslinien, die taktisch eingesetzt, genutzt, vertieft wurden. Dazu gehört in erster Linie die Spaltung zwischen etablierten und qualifizierten ArbeiterInnen und BäuerInnen bzw. dem mobilen Moment der ArbeiterbäuerInnen, die aus den letzteren praktisch »Staatsbürger zweiter Klasse« (Miller) machte. Ihr Management wurde zur Verschleierung und zur Reduzierung der politischen Konfliktualität dezentralisiert, lokalisiert und in die Organe der sogenannten Selbstverwaltung und Formen der Mitbestimmung hineinverlagert (in der Bauern nichts und die administrative und Arbeiterelite das meiste zu sagen hatten).
Diese Selbstverwaltung hatte auch gro?en Anteil an der allmählichen Befreiung der Partei und Bürokratie vom Einfluß bäuerlicher Gegenmacht, die der Partisanenkrieg mit sich gebracht hatte. Sie wurde flankiert durch eine entsprechende Militärpolitik. Genutzt und vertieft wurden auch regionale und ethnische Differenzen, die darin eine neue sozial-ökonomische Bedeutung erhielten. Eine besondere Bedeutung hat die Feminisierung der Armut und der Landwirtschaft. Die Anzahl der ArbeiterbäuerInnen, die zum Familieneinkommen in den Städten und großen Agrobetrieben beitragen mußten, nahm zu, die Vernachlässigung und Verelendung der Dörfer sorgte für eine Abwanderung der Jungen mit der Folge einer starken Überalterung.
All dies hat die moralische Ökonomie einem Dauerstre? ausgesetzt, sie transformiert, sie aber nicht beseitigt. Sie hat eine grundsätzliche Einbindung auch der Arbeiterklasse in die Verantwortung für die Mehrwertrate und die Regeln der Akkumulation, wie sie hierzulande seit hundert Jahren durchgesetzt ist, kaum aufkommen lassen. Dies belegt die Ungezügeltheit der Streikbewegungen ebenso wie der Druck der am Familieneinkommen orientierten Einkommenserwartungen und -forderungen, der die Herren des Mitbestimmungsarrangements immer wieder in die Defensive brachte und ihren Rahmen in den großen Streikbewegungen der letzten Jahre auf der einen und die Flucht in eine heillose Geld- und Kreditinflation auf der anderen Seite völlig gesprengt hat. Dies belegt aber auch die Elastizität der bäuerlichen Familienökonomie, die gegen den kapitalistischen Gebrauch der Krise im industriellen Sektor alte Existenz- und Versorgungsgarantien wiederbelebt, man kann fast sagen aktualisiert hat und für einen sozialen Machtzuwachs der Frauen gesorgt hat.
Es sind die sozialen Strukturen und Werte dieser moralisch-ökonomischen Gegenmacht und die mit ihnen verbundenen Blockierungen nationaler und transnationaler Wertschöpfung, auf deren Zertrümmerung dieser Krieg abzielt. Er stellt darin nur eine Facette des Spektrums von sozialem Krieg in Osteuropa dar, wie wir ihn schon in Band 4 der Materialien analysiert haben. Die Paradoxie liegt darin, daß ein fast sozialtechnischer Einsatz bewaffneter Interventionen an ethnischen Konfliktlinien von oben erstmals in der Geschichte Jugoslawiens in der Lage war, auch orientierend auf das gewaltige Potential der Militanz von unten zu wirken und darin zugleich die Männermacht wiederherzustellen. Im Einzelnen veweise ich dazu auf die weiteren Ausführungen dieses Bandes. Mir ging es an dieser Stelle nur darum, aus der geschichtlichen Bewegung des sozial-ökonomischen Antagonismus bestimmte Facetten des Kriegs zu beleuchten und leichter erklärbar zu machen.

J. Gaisbacher u.a. (Hg.), Krieg in Europa, Analysen aus dem ehemaligen Jugoslawien, Graz 1992, S.72, Fn. 7
David Mirany, The Effect od the War in Southeastern Europe, New Haven 1936 S.32
Soziale Revolution und das Kommando der Akkumulation. Zur Aktualität der russischen Revolution in: Das Ende des sowjetischen Entwicklungsmodells, Materialen für einen neuen Antiimperialismus Nr. 4, S.9. hier: S.58-73;
A. Mayer, Political Origins of the New Diplomacy, 1917-1918. New Haven 1959. Die Renationalisierung der realsozialistischen Reaktion in der Auseinandersetzung mit den den transnationalen Charakteristika der revolutionären Bewegung ist bisher kaum thematisiert. Nur ihre Einzelaspekte im Umbau der militärischen Struktur, der Hegemonisierung des sozialistischen Internationalismus etc. sind abgehandelt. Ihr drastischster Ausdruck war die nationalistische Strategie im russisch-polnischen Krieg von 1920, die mehr als alles andere zur Eindämmung des revolutionären Prozesses in Polen beigetragen hat.
J. Tomasevich, Peasants, Politics and Economic Change in Yugoslavia, Stanford S.144
Für einen guten Überblick vgl. M. Sering Hg. Die agrarischen Umwälzungen im außerrussischen Osteuropa, Berlin 1930
Baumberger-Deimling, Die agrarische Umwälzung in Großrumänien, in M. Sering a.a.O., S.341, 388; Vgl auch Mitrany, Marx against the Peasant, London 1951, S.126 f.
vgl. Zahlen bei L. Fritscher, Agrarverfassung und agrarische Umwälzung in Jugoslawien, in Sering a.a.O. S. 277 hier: 332 ff.
vgl. Hugh Seton-Watson, Osteuropa zwischen den Kriegen 1918-1941, Paderborn 1948, S.154 f. S.18o f. S.264 f.; vgl. auch Tomasevich a.a.O
S.496; D. Tomasic, The Struggle for Power in Jugoslawia, Journal of Central European Affairs 1941, S.148, S.154
Vgl z.B. W. Woytinsky, Les Consequences de la Crise, Genf 1936, S.224 ff.
S. Heim, G. Aly, Vordenker der Vernichtung, Hamburg 1991
A.H. Hollmann, Agrarverfassung und Landwirtschaft Jugoslawiens, Berichte über Landwirtschaft, N.F., Sonderheft 3o, S.67, hier S.68
R.W. Davies, The Socialist Offensive, The Collectivization of Soviet Agriculture, London 198o, 2. Kapitel und derselbe, The Soviet Collective Farm, London 198o, 6. Kapitel.
Vgl. D. Hartmann, Völkermord gegen soziale Revolution, Autonomie NF 14, S.217, hier: S.241, 3. Auflage Berlin 1987
London Times, 22.1o.49
Der Chefideologe der Ungarischen KP erklärte 1949, daß die Kommunisten einen Bürgerkrieg nur dank der Präsenz der »Roten Armee" vermeiden könnten, London Times, 7.5.49
Bericht in London Times 25.1.49
R.F. Miller, Alte und neue Formen der Kooperation für Jugoslawiens Bauern, Osteuropa 6/1980, S.51o; derselbe, Sozialistische Theorie und sozialer Wandel in Jugoslawiens Landwirtschaft, Osteuropa 10, 198o; I. Loncarevic, Die Kooperation zwischen den privaten Landwirtschaftsbetrieben und den gesellschaftlichen Wirtschaftsorganisationen in der Landwirtschaft Jugoslawiens, Berlin 1974;
K.-E. Wädekin, Sozialistische Agrarpolitik in Osteuropa, Berlin 1974;
J.B. Allcock, Die »sozialistische Transformation des Dorfs«, Osteuropa 2, 1945.


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Die Ethnisierung des Sozialen

Die Transformation der jugoslawischen Gesellschaft im Medium des Krieges

Teil IIII - Zur Kampfsituation 1987


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Vorwort
Jugoslawien im Kontext des ost- und südosteuropäischen Umbruchs
Bemerkungen zur Kampfgeschichte der moralischen Ökonomie
Zur Kampfsituation 1987
Nationalismus und Ethnisierung
Krieg als Transformationsmechanismus
Die EG-Migrationspolitik und die Flüchtlinge aus Südosteuropa
Zur Rolle des Imperialismus in der jugoslawischen Krisen- und Kriegsdynamik
Anhang


Zur Kampfsituation 1987

Im März 1987 fragt die »Zeit«: »Revolution - nur in welche Richtung?« Damit bringt sie ihre Wahrnehmung über die zugespitzte soziale Konfrontation in Jugoslawien zu jenem Zeitpunkt auf den Punkt. In der Unterzeile heißt es etwas bescheidener: »Lohnstopp und Preiserhöhungen treiben die Arbeiter zu verbitterten Protesten. »Tatsächlich war damals das soziale Thema vorrangig und nicht das nationale1.
Wenn es so war, schließt die zentrale Frage für das gesamte Geschehen in Jugoslawien an: Wie konnte es geschehen, daß die soziale Radikalisierung der Jahre 1982 bis 1987 von 1988 an in eine nationale überführt worden ist? Wie konnte das Ordnungsmodell des Völkischen (des religiösen, kulturellen und sprachlichen) so mächtig werden, daß es den sozial solidarischen Kampf der Menschen zu Fall brachte? Oder: Wie haben sich die Herrschenden des Völkischen (Ethnischen) bedient, um den Aufeinanderprall von ökonomischen Interessen und existenziellen Lebensbedingungen zu regulieren? Von welchen Voraussetzungen hängt es ab, welche Kampfperspektive sich durchsetzt? Müssen wir davon ausgehen, daß die Schwäche der sozialrevolutionären Intelligenz in Jugoslawien und in Europa diesen Vernichtungskrieg erst ermöglicht hat?
Hätte eine sozialrevolutionär wirksame Kraft, Perspektive, Bewegung den Geschichtsverlauf ändern können?
1987 war das Jahr, in dem sich die Unmöglichkeit herausstellte, den dortigen Sozialismus ohne Gewalt gegen die Bevölkerung zu deregulieren. Allerdings wurde im Mai 1987 noch der Einsatz der Bundesarmee gegen die sozialen Bewegungen diskutiert, ab Dezember wurden mit der Machtübernahme von Milosevic die Weichen anders gestellt - auf Krieg zwischen den Teilrepubliken. Vermutlich ist der Machtwechsel schon damals mit der Übernahme der deutsch-kroatisch-slowenischen Aufteilungsperspektive durch eine Fraktion der serbischen Parteiführung verbunden, die den sozialen Krieg in den nationalen überleiten sollte. Daß der Unregierbarkeit mit einem neuen Ordnungsmodell begegnet werden sollte, ist offensichtlich. Indikator der historischen Zäsur ist das Steckenbleiben der IWF-Auflagen und Pläne im offenen Klassenkampf.
Im Frühjahr 87 kommt es in ganz Jugoslawien zu hunderten von Streiks mit dem Schwerpunkt in Kroatien (NZZ 19.3.87). Die Streikwelle war Höhepunkt einer jahrelangen Radikalisierung und in diesem Moment Antwort auf einen Parlamentsbeschluß, die Löhne auf dem Stand des vierten Quartals von 1986 einzufrieren. Gleichzeitig waren die Preise für Fleisch, Zucker und andere Grundnahrungsmittel erheblich erhöht worden. Die Inflationsrate von über 100 Prozent im Jahr 1986 sollte eingedämmt werden, die Lohnerhöhungen unmittelbar an Produktivitätssteigerungen gebunden und unrentable Betriebe stillgelegt werden. Das hätte Massenentlassungen bedeutet, um die betrieblichen Kosten zu senken, das Lohnniveau weiter zu senken, die Arbeitsnormen zu erhöhen und die sozialen Leistungen einzuschränken. Ziel war es, einen neuen privaten Sektor aufzubauen, der von einem Armutsreservoir billigster Arbeitskräfte umgeben sein würde. Ab Mitte des Jahres sollten Verlustbetriebe konsequent geschlossen werden (FR 8.4.87). Im Juli heißt es, daß ab September 7000 Betriebe geschlossen werden sollten, weil diese in den ersten drei Monaten 2,5 Milliarden Mark Verluste gemacht hätten. Diese Betriebsschließungen würden dann die Entlassung von 1,6 Millionen Menschen bedeuten (FR, 13.7.87, Spiegel, 27.7.93). Also die offene Kriegserklärung an die Bevölkerung über alles bisherige hinaus. War hier nicht schon klar, daß der Antagonismus von ökonomischen Herrschaftszielen und existenziellen Interessen der Massen in eine gewalttätig blutige Entscheidungsschlacht münden konnte? Die »große Angst« war jedenfalls schon damals in den Gesprächen mit JugoslawInnen spürbar.
»Die soziale Abstammung der Streikenden ändert sich zusehends. Auf den Plan treten jetzt immer öfter Bau-, Metall- und BergbauarbeiterInnen, die in großen Industriebetrieben beschäftigt sind. Ihre Streiks dauern nicht nur länger, sondern sie verbreiten auch eine klassenkämpferische Atmosphäre. Dazu kommt, daß von 6 Millionen ArbeiterInnen in Jugoslawien täglich über 700.000 unentschuldigt nicht zur Arbeit erscheinen. Das sind mehr als 10 Prozent. Weitere 400,000 verbringen täglich mit Sitzungen außerhalb des Hauses oder der Produktionsstätte ihren Arbeitstag« (Stuttgarter Zeitung, 23.5.87).
Als Ergebnis der Streikwelle im März muß das Parlament die Beschlüsse wieder revidieren. Der Lohnstop wird wieder aufgehoben bzw. nach Branchen differenziert, die Preiserhöhungen müssen wieder zurückgenommen werden. In der internationalen Presse werden die Zugeständnisse als Teil einer Unregierbarkeit gehandelt (FAZ, SZ 23.3.87; NZZ 26.3.87).
In dieser Situation wird der Einsatz von Militär gegen die verschiedenen Bewegungen diskutiert. Die Konfrontation wird in den offiziellen Verlautbarungen als eine zwischen Regime und Staatsfeinden der verschiedensten Couleur begriffen, gegen die eine Militärdiktatur helfen könne. Aber der Einsatz der Bundesarmee als Ordnungsmacht scheint, obwohl überall sonst im Westen wie im Osten üblich, nicht der gangbare Weg zu sein. Der Spiegel offenbart die andere Option, wohlgemerkt im März 1987: »Wäre es nicht vernünftiger, Jugoslawien in eine Konföderation, in einen Staatenbund, umzuwandeln?« Mikulic, jugoslawischer Ministerpräsident: »Nein, das glaube ich nicht. Ich bin dafür, daß man gegen die partiellen egoistischen Interessen kämpft. Aber so, wie wir gemeinsam in die mißliche Lage gekommen sind, müssen wir auch gemeinsam nach einem Ausweg suchen« (Der Spiegel, Nr. 13, 23. 3.87, S.149).
Die Schwäche des Zentralismus und der Bundesarmee gegenüber den sozialen Kämpfen in den Republiken hat jedenfalls nichts mit Zimperlichkeit und Humanität zu tun, sondern mit der dezentralen Struktur der Streiks und dem Gefälle der regionalen ökonomischen Machtstrukturen, die keine übergreifend-gemeinsame Sanierungsperspektive besaßen. Ein zentralistischer Militäreinsatz hätte die wilden Kämpfe und Streiks erst recht vorangebracht und vereinheitlicht.
Das typische an den von Jahr zu Jahr eskalierenden Streik- und Protestbewegungen besteht darin, daß es keine formale Organisation oder Struktur gibt, die diese organisiert. Es sind bis jetzt samt und sonders wilde Streiks, und sie sind lokal und regional begrenzt. Es gibt keine landesweite »Solidarnosz« (1980), die eine Koordination und politische Lenkung ausübt.
Sowohl Arbeiterselbstverwaltung als auch Gewerkschaften sind an sich dafür zuständig, die Arbeiterforderungen im institutionellen Verfahren zu klären und zu erfüllen und mit den Managementanforderungen in Einklang zu bringen. Streiks sind nicht vorgesehen, da die Arbeiterselbstverwaltung sie offiziell überflüssig macht. Die Streiks finden oft unter anderem Namen statt, indem sie als Diskussionsveranstaltungen oder Betriebsversammlungen zur Klärung von Problemen ablaufen. Andere Formen sind von Militanz geprägt, es werden spontane Märsche vor die örtliche Parteiverwaltung organisiert, es kommt zur Erstürmung von Verwaltungsbüros, Streikbrecher und Geheimpolizisten werden verprügelt. Über allen Ereignissen liegt eine strenge Nachrichtensperre bzw. Zensur. So wissen wir bisher nur Fragmentarisches.
Um die Bewegung in den Griff zu bekommen, wird zum ersten Mal darüber geredet, daß Streiks legal stattfinden dürfen sollen (FR 8.4.87). Die ArbeiterInnen fordern ständig, die »wirkliche« Arbeiterselbstverwaltung, d.h. das Bedürfnis nach (wirklichem) Kommunismus ist überall vorhanden und wächst in den Kämpfen.
Im Herbst 1987 gründen die ArbeiterInnen in der bosnischen Stadt Zenica eine alternative Gewerkschaft und Keimzelle einer neuen KP als Antwort auf angekündigte Massenentlassungen im Zusammenhang mit dem Agrokomerzskandal (zu diesem Skandal siehe weiter unten).
April/Mai 1987 kommt es zum ersten Mal in der jugoslawischen Geschichte zu einem gewerkschaftlich organisierten Streik von 1.200 ArbeiterInnen in einem Fleischwarenkombinat in Zagreb/in Sljeme (unterschiedliche Angaben in der FR vom 14.5.87 und in der Stuttgarter Zeitung vom 23.5.87). An jedem Monatsende streiken die ArbeiterInnen erneut, weil sie mit den Löhnen unzufrieden sind, da überall Lohnkürzungen stattfinden. Das gesamte Feld wird völlig unübersichtlich. Ohnehin gibt es nicht nur Unterschiede von Region zu Region, sondern auch von Betrieb zu Betrieb in derselben Region, da im Rahmen der Selbstverwaltung jeweils betriebsinterne Abmachungen über die Höhe der Lohnauszahlung getroffen werden können. Während dies bisher als Spaltungsmechanismus funktionierte, verwandelt sich dieser Zustand nunmehr in einen offenen Machtkampf zwischen Klasse und Bürokratie, in der vor Ort alles in Bewegung ist und keine institutionelle Festlegung mehr greift, sondern das Reproduktionsniveau zunehmend im offenen Kampfgeschehen »geregelt« wird. Statt institutioneller Delegation und komplizierte Vermittlungsmechanismen wird die kämpferische Subjektivität der Menschen selbst zur unmittelbaren Entscheidungsgröße. Ganz offen geben die staatlichen Instanzen zu, daß bestimmte Schritte politisch nicht durchsetzbar sind. Alles ist blockiert.
Das Jahr 1987 endet mit der Entmachtung des vermittelnden Flügels innerhalb der serbischen KP und mit der Machtübernahme von Milosevic, der ab 1988 den Nationalismus zur Durchführung der Konterrevolution benutzt. Der Weg in den Krieg ist damit vorgezeichnet, weil ein friedliches Teilungsarrangement zwischen den Republiken keine soziale Neuordnung und keine Zerstörung der Klasse und ihrer Kämpfe gebracht hätte. Die regionalen Eliten wären nun erst recht die Gegner im Klassenkampf geworden und hätten ihre Grenzträgerfunktion ausgespielt. Nur im Krieg gegen die Bevölkerung konnte der Sozialismus abgeschafft und die Deregulierung durchgesetzt werden. Bevor Thesen über den Nationalismus von unten aufgestellt werden, müßten zunächst die nationalen Spaltungen in den sozialen Kämpfen der Jahre bis 1987 untersucht werden. Darüber wissen wir nichts, äußer einigen dünnen Hinweisen, u.a. über nationalistische Fußballrandale Mitte der Achtziger. Die Entlassungen in den Teilrepubliken werden nationalistisch so gelenkt worden sein, daß MigrationsarbeiterInnen aus den anderen Teilrepubliken nach Hause geschickt wurden. Wildcat schreibt über den großen Streik der Bergarbeiter in Labin/Istrien im April 87:
»Die Bergwerke in Labin hatten in Jugoslawien eine starke symbolische Bedeutung. 1921 gehörten die Labiner Bergarbeiter zu den Avantgarden des damaligen Kampfzyklus. Nach dem 2.Weltkrieg wurde das Bergwerk mit pompöser Geste den Arbeitern `überreicht'; ein Mosaik in der Ortsmitte trägt die Aufschrift: `Das Bergwerk gehört uns'.
Der Streik 1987 dauerte für die dortigen Verhältnisse völlig unüblich 33 Tage. Auch die Ziele des Streiks gingen über das bislang übliche raus: Neben einer hundertprozentigen Lohnerhöhung, was aber angesichts der hohen Inflationsrate in den 80er Jahren nichts besonders Spektakuläres war, forderten sie die Ablösung von Teilen des Managements und der Betriebsgewerkschaftsführung. Die streikenden Bergarbeiter waren hauptsächlich Bosnier. Die bosnischen Arbeiter machten üblicherweise die miesen Jobs und waren außerdem von den traditionellen Verhandlungsmechanismen teilweise ausgeschlossen: zum einen weil sie aus einer anderen Republik kamen, zum anderen, weil die Arbeiterselbstverwaltung insgesamt eine Domäne der höher qualifizierten ArbeiterInnen war. Die bosnischen Bergarbeiter forderten von der Republikgewerkschaft - also vom kroatischen Staat - Kredite für den Wohnungsbau zuhause in Bosnien. Außerdem verlangten sie die Bezahlung der Streiktage, was bis dahin in Jugoslawien nicht üblich war - und auch nicht so nötig, wenn die Streiks nur zwei Stunden oder einen Tag dauerten. Eines der beiden Bergwerke wurde Anfang 1988 dichtgemacht, um das Unruhepotential, d.h. die Bosnier rauszukriegen.«
(Wildcat Nr.61, April/Mai 1993, S.5/6)
Leider gibt es keine exemplarischen Berichte über den Ablauf der Kämpfe im einzelnen, hier klafft noch eine riesige Informationslücke. Über eine ganze Reihe von Punkten würden wir gern mehr wissen, uns fehlen aber die Informationen dazu:
- über den konkreten Verlauf von Selbstorganisation und die angewandten Kampfformen; im weiteren über die Verweigerung der Arbeit, die sog. Arbeitsmoral und Arbeitsdisziplin, die den Unternehmen soviel zu schaffen machte; damit im Zusammenhang die Land-Stadt-Dimension, der Zusammenhang mit dem Landbesitz und der Großfamilie (50 Prozent der Arbeiterfamilien haben Landbesitz!)
- über den Verlust der Kontrolle durch die Arbeiterselbstverwaltung einerseits und die Zugeständnisse an den Druck von unten andererseits;
- über die Herkunft und Zusammensetzung der ArbeiterInnen (in den Kämpfen) einerseits und die nationalistisch/rassistische Dimension der örtlichen Sozialpolitik oder Beschäftigungspolitik andererseits;
- über die Beteiligung von Frauen, deren Kampfinhalte und Kampfformen.

Das soziale Gefälle und die Logik der Teilung
In einem Artikel von Jens Reuter, einem Hauptexperten der Südosteuropaforschung, wird die soziale Durchschnittslage im Jahre 1987 so dargestellt: »...können vier von insgesamt 6,7 Millionen Haushalten ihre Lebenshaltungskosten nicht mehr aus regulären Einkünften decken. Sie müssen auf Schwarzarbeit, Überweisungen aus dem Ausland oder andere Quellen zurückgreifen.
Nebenerwerbslandwirtschaft oder zumindest verwandtschaftliche Beziehungen zum Dorf sind nicht selten die einzige Möglichkeit, sich über Wasser zu halten. 95 Prozent der Jugoslawen gaben bei der Umfrage an, sie könnten von den regulären Einkünften nicht normal leben und 50 Prozent erklärten, ihr Lebensstanddard sei unter das Existenzminimum gefallen«. Dies sind Durchschnittswerte für ganz Jugoslawien. Schärfer wird das Bild, wenn wir die enormen Unterschiede zwischen den Regionen mit einbeziehen.
Schon 1980 wurde die Reichtums- bzw. Armutskluft in der Wertschöpfung in folgenden Kennziffern festgehalten:

Reproduktionsfähigkeit je Einwohner:
SFJR (Gesamt Jugoslaw.) 100
Bosnien und Herzegowina 66,5
Montenegro 76,1
Kroatien 130,2
Mazedonien 64,5
Slowenien 222,5
Serbien o.P. 86,9
Kosovo 13,8
Vojvodina 116,2
(Quelle: NIN, 23. 11. 1980, zitiert in: Jens Reuter, Die Albaner in Jugoslawien, München 1982, S.60)

Deutlich ist ablesbar, daß in Nordjugoslawien der relative Reichtum sitzt, während in Kosovo trikonentale Zustände herrschen. Reuter schreibt, daß 1980, also vor den massiven Entlassungswellen, von 1,5 Millionen Einwohnern in Kosovo nur ganze 170.000 in einem Arbeitsverhältnis standen.

Anzahl der Beschäftigten je 1000 Einwohner 1979
Slowenien 427
Kroatien 298
Serbien 257
Bosnien und Herzegowina 191
Montenegro 205
Kosovo 107
(Quelle: Reuter, Albaner, S.61)

Wie hielten sich die Leute im Süden am Leben? Neben einer innerjugoslawischen Abwanderung (albanische Konditoren im Norden, vielleicht Straßenkehrer und Putzfrauen in Belgrad) ernähren sie sich zum einen und zum wesentlichen Teil noch in der Subsistenzlandwirtschaft. Daneben gibt es Bergwerke (Zink, Blei), die zwar ökonomisch wichtig sind, aber kapitalintensiv und nur einem kleinen Teil der Bevölkerung im Süden ein Auskommen bieten. Wichtiger sind die zahlreichen Dörfer mit kleinbäuerlicher Landwirtschaft, die noch nach dem Prinzip der Selbstversorgung funktionieren und nur zum geringeren Teil den Markt beliefern. Eine Durchkapitalisierung zum Lohnarbeitsverhältnis, eine Verstaatlichung der Landwirtschaft, hat in weiten Teilen nicht stattgefunden. Die Subsistenzlandwirtschaft ist vielfach Rückzugsmöglichkeit, sei es gegenüber der Lohnarbeit generell, sei es als Ressource zur Selbstversorgung in Zeiten von Not, Arbeitslosigkeit usw. Angewiesensein auf »Nebenerwerbslandwirtschaft« wurde dieser Sachverhalt im Zitat oben genannt. Anders als in der ehemaligen Sowjetunion, wo die Subsistenz auf den staatlichen Kolchosen und Sowchosen weiterlebte, ist der Boden in Jugoslawien privat, weil sich die Bauern gegen eine Verstaatlichung nach ihrer Teilnahme am Befreiungskrieg erfolgreich gewehrt hatten; d.h. sie waren stark genug, sich gegen ein stalinistisches Konzept durchzusetzen, das zunächst vorgesehen war. »82 Prozent des Bodens werden immer noch privat bewirtschaftet. Jugoslawien hat die niedrigste Wachstumsrate der Agrarproduktion in der Welt (...) am Umfang des privaten Landbesitzes hat sich seit 1953 nichts geändert. Als Höchstgrenze für den privaten Besitz gilt immer noch 10 Hektar. Nach Meinung von Drbic (..) habe die Obergrenze von 10 Hektar früher einen Sinn gehabt als eine Familie auf einer solchen Bodenfläche ausreichend Arbeit finden konnte. Heute aber sei dieses Maß angesichts der Technisierung der Landwirtschaft nicht mehr tragbar (...)«.
Die Bemessung der erlaubten Landgröße war Ergebnis der sozialen Revolution im zweiten Weltkrieg. Pachtverhältnisse und mit ihr die Schuldknechtschaft der Bauern waren revolutionär beseitigt worden. Keine Verstaatlichung, sondern freie Kleinbauern, die auch nicht akkumulieren und zu Kapitalisten werden sollten. Das ist also bis heute so geblieben, aber wie die Experten feststellen, sind die Flächen heute zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel. Die meisten BäuerInnen, die in die Städte abwanderten, um dort zu arbeiten, haben ihr Land behalten, so daß vor dem Krieg 50% der Bevölkerung Landeigentum hatten, obwohl nur noch 20% dort lebten.
Die Dörfer und die Landverteilungsproblematik stellten immer einen wichtigen Punkt in der politschen Debatte und in der Sichtweise der jugoslawischen Unterklassen dar. Beispielhaft kann das am Landkauf der Albaner im Kosovo belegt werden. Im Zuge der Abwanderung der SerbInnen aus sozialen Gründen wurde dies später dem Überhandnehmen albanischer Landkäufe zugeschrieben und als ethnischer Streit in der Presse angeheizt.
Der Krieg ist auch ein Mittel, die soziale Struktur auf dem Lande - und natürlich nicht nur dort - neu zu ordnen. So oder so mußte es zu einer kapitalistischen Bodenreform kommen, die als friedliche politsch nicht durchsetzbar war. Einmal, weil die Flächen ohnehin zu klein geworden waren, um auf dem Markt mit den Produkten genug Bares für eine »Technisierung« größeren Stils zu erwirtschaften. Aber mehr noch als »soziale Säuberung«: Es ging darum, die traditionale Stellung der Großfamilien, die Strukturen von Subsistenz auf dem Dorf und in den Kleinstädten wegzusäubern. Es geht darum, diejenigen Strukturen zu zerstören, in denen Widerstandswerte sich erhalten hatten, die auf traditionellen Gepflogenheiten beruhten. Diese waren in Bosnien und insgesamt im Süden stärker ausgeprägt als im Norden.
Die Rückzugsmöglichkeit in die Selbstversorgung steht der Verwertung der Bevölkerung entgegen, weil es mit Boden im Hintergrund Existenzmöglichkeiten für die zahlreichen Familienangehörigen gibt, die gegen Vertreibungsdruck und entfremdete Arbeit Widerstand ermöglichen. Bevölkerungsökonomisch also Überbevölkerung, die »über« ist, weil sie gesellschaftlich nichts oder nicht viel einbringt, womöglich sogar mehr kostet als hereinkommt.
»Zwar nehmen es auch die Serben nach guter balkanischer Art mit den Anordnungen der Behörden nicht allzu genau, bei den Albanern ist aber das Mißtrauen gegenüber der Obrigkeit und die Mißachtung ihrer Gesetze noch ausgeprägter. Im Laufe ihrer Geschichte waren sie ja auch nur in kurzen Phasen mit einer staatlichen Autorität konfrontiert, die sie als `ihre' ansehen konnten. Die Obrigkeit repräsentierte fast immer den Okkupator, den Machthaber, dem die Bevölkerung ausgeliefert war. Insofern haben sich die Albaner angewöhnt, soweit wie möglich ohne Gesetze auszukommen - gleichzeitig aber die Konfrontation mit dem Gesetzgeber zu vermeiden.
So fahren viele Autofahrer im Kosovo ohne Führerschein, viele Leute zahlen keine Mieten und keine Steuern. Zwar verhalten sich auch viele serbische Bürger nicht wesentlich anders«.
Über die innere und äußere Migration war ein undurchdringliches Netz von Reproduktion entstanden, das sowohl im Sinne der Verwertung auffangfähig war und niedrige Löhne zuließ, andererseits aber zunehmend militante Sozialbewegungen fundierte.
Letztlich sind die Subsistenz und die »vormodernen« Verhaltensweisen Kostenfaktoren und reichen als Produktivitäts- und Modernisierungsschranke in alle anderen gesellschaftlichen Bereiche hinein - besonders in das der Arbeiterselbstverwaltung und die sozialistische Bürokratie vor Ort. Die umverteilten Gelder aus den Entwicklungsfonds, die aus den Überschüssen des Nordens und aus westlichen Krediten gespeist wurden, wurden unprofitabel verwendet. Diese Blockierung gegen den Profit war dabei, sich antagonistisch zuzuspitzen.
»Das System der Selbstverwaltung bewirkt damit neben der Steigerung des persönlichen Verbrauchs der Bevölkerung außerdem eine Zunahme des öffentlichen Verbrauchs. In den Gemeinden und Republiken wurde die Praxis immer durchschlagender, aufgrund unökonomischer Kriterien der Wirtschaft Mittel zu entziehen und diese für eine Vielzahl von unkoordnierten Entwicklungsprogrammen zu verwenden«. Bis zum Krieg hatten die Arbeiterbauern und BauernarbeiterInnen (das patriarchale Verhältnis wäre noch zu untersuchen), aber auch die in die Stadt gewanderten, eine starke Stellung, gewachsen aus Kombination von Traditionalität des Dorfes, Selbstverwaltungssozialismus und europäischer Migration (und dies wiederum kombiniert mit der internationalen Stellung Jugoslawiens zwischen den Blöcken, die die Weltmarktintegration und kapitalistische Kreditierung beförderte).
Genau diese starke Stellung gegen die Verwertung im Lohnverhältnis wird von den Sozialtechnokraten als Überbevölkerung und als Entwicklungshemmnis wahrgenommen, theoretisiert und in einem Konzept ethnisierender Spaltung gewalttätig-völkermörderisch zerschlagen. Wie auch das Vorgehen der Nazis im zweiten Weltkrieg als ethnisch (= rassisch) fundierte »Entwicklungspolitik« im Osten konzipiert war, ist der Krieg Belgrads nicht ein banaler um Territorien, sondern zielt auf die Zerschlagung von Widerstand und sozialen Blockierungen. Die Cetniks werden von ausgebildeten Geheimdienst- und im Partisanenkampf geschulten Offizieren zumindest indirekt gelenkt. Die Vorgehensweise ist systematisch: eine Gruppe Cetniks kommt in ein Dorf, erschießt ein paar Leute und sagt dem Rest, sie sollen abhauen. Diese Methode ist weit billiger als die der SS, die LKW`s, Züge und Lager eingesetzt hat. Das ist in der Vertreibungs- und Säuberungsökonomie des serbischen Faschismus nicht mehr nötig. Das ist grade das moderne an ihr, daß die Vertreibungsmethode billig und effektiv ist. Eine Eigentumsreform wird sich anschließen, um aus der nationalen die soziale Neuordnung zu machen. Die noch in der Subsistenz befindliche Bevölkerung wird zwangsmobilisiert, entsprechend ihrer Brauchbarkeit selektiert von der Ghettolagerökonomie bis zur Deportation nach Pakistan.
Diese Art von Vertreibungspolitik ist schon einmal 1937 programmatisch niedergelegt worden. Vaso Cubrilovic, später Berater des ZK und Professor in Belgrad, schrieb damals ein Dokument: Die Vertreibung der Albaner, in dem er ohne Umschweife empfahl: Erregung von Psychose und Schürung von religiösem Fanatismus, Strafen, Zerstörungen des Eigentums der Albaner, Brutalität und Pogrome zum Zwecke der Vertreibung. Und: »Es bleibt noch ein Mittel, das Serbien auf höchst praktische Weise nach 1878 angewandt hat, wobei es im geheimen albanische Dörfer und Stadtviertel anzünden ließ.« Noch 1987 gab es keine offizielle Distanzierung von dieser Schrift. Spätestens 1986 ist halböffentlich diskutiert worden, wie gegenüber der Kosovo-Bevölkerung erneut eine planmäßige »Umsiedlungsaktion« organisiert werden könnte. Wahrscheinlich sind im Zusammenhang mit der Kosovo-debatte die Blaupausen für das Vorgehen bei den späteren »ethnischen Säuberungen« entstanden.
Im Norden ist die Geschichte der Industrialisierung, Verstädterung und Nationalstaatsentwicklung anders gelaufen. Er war Teil des Habsburgerreiches und als metropolitane Region mit arbeitsintensiver Industrie als Hauptzweig ganz anders nach »Europa« eingebunden. Als Zulieferregion für die deutsche Textilindustrie, als devisenerwirtschaftende Tourismusregion und als Hauptlieferant für disziplinierte Migrationsarbeitskräfte waren Kroatien und Slowenien schon lange mit dem deutschen Kapital innig verbunden. Mercedes und Opel lassen hier produzieren und haben einige Werke aufgekauft oder als Joint-Venture eingebunden (das VW-Werk in Sarjewo ist sang- und klanglos geschlossen worden). Die Tourismuseinnahmen betrugen 1980 eine Mrd. US-$, der Transfer der Einkommen der MigrationsarbeiterInnen 1977 2,1 Mrd. US-$.
Dementsprechend dürfte es hier, ähnlich wie in Norditalien und seinem Gefälle nach Süden, eine typische MassenarbeiterInnen-Kampfsituation gegeben haben, die es zu deregulieren galt. Schon in der Verfassungsreform von 1974 waren die Rechte der nördlichen Republiken gestärkt worden, so daß sie ihre Erfordernisse zur Anpassung an die EG besser erfüllen konnten, während die zentralen Vermittlungsinstanzen geschwächt wurden.
Aus der grundsätzlichen Problematik eines Nord-Süd-Gefälles ergab sich ein ständiger Verteilungsstreit zwischen den Republiken. Die nördlichen Regionen waren unter dem doppelten Druck: Einerseits sollten sie in den achtziger Jahren weiter Devisen und Kredite für Entwicklungsprojekte oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Süden abliefern, die sich zunehmend als Finanzierung einer »unproduktiven Überbevölkerung« darstellten. Andererseits standen sie unter dem Druck, die Stärke ihrer eigenen hochgarantierten ArbeiterInnenklasse arbeitspolitisch zu deregulieren, die gesamte Arbeitsorganisation zu effektivieren. Das Selbstverwaltungsmodell wird von den westlichen Beratern und der jugoslawischen Elite als wesentliche Blockierung einer ökonomischen Gesundung, als Ursache einer niedrigen und ständig absinkenden Arbeitsproduktivität betrachtet (Berichte aus dem Inneren der Fabriken usw. fehlen völlig). Die Umstrukturierung von Arbeits- und Arbeitsmarktpolitik stellte sich aber rechtlich noch komplizierter als in der SU dar, da nicht der Staat der Eigentümer ist und Eigentumsrechte »vermarkten« kann, sondern die ArbeiterInnen selbst das gesellschaftliches Eigentum hatten.
Die Logik der Aufteilung folgt somit streng den üblichen Verwertungskriterien. Das nationalistische daran ist die jeweilige Benutzung der kulturellen/institutionellen Rahmenbedingungen, in denen sich der Antagonismus abspielt. Die Abtrennung der besonderen sozialen Blockierungen des Südens ist das Konzept des Nordens und auch der BRD gewesen - belegbar seit 1987 (Spiegel, März 87).

Blockierung des jugoslawischen ökonomischen Systems und das nationalistische »Umdrehen« der Kämpfe
Das sogenannte »Umdrehen« der Kämpfe und sozialen Ansprüche hat mehrere Aspekte. Einer davon ist, wie sich die nationalen Eliten zu den sozialen Kämpfen verhalten haben. Dabei stellt sich heraus, daß die Kämpfe mittels inflationärer Geldschöpfung teilweise befriedet und damit gleichzeitig nationalistisch »perspektiviert« werden konnten. Es geht um die unabhängige »graue« Geldschöpfung in den Republiken, die den Mischpunkt zwischen Ökonomie, Aufruhr und sozialistischer Staatsstruktur in den Republiken ausmachte.
In der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur über Jugoslawien wurden in den 80er Jahren die niedrige Arbeitsproduktivität und die ständig steigenden Inflationsraten als Kernursachen der jugoslawischen Krise analysiert2.
Liliana Djekovic schreibt 1982, daß die Arbeitsproduktivität dreimal niedriger als in den meisten hoch- oder mittelentwickelten Ländern sei3. In der Bundesrepublik sei sie um 73%4 höher. An dieser Situation habe sich trotz der IWF-Auflagen in den 80er Jahren nichts geändert - im Gegenteil. Die Arbeitsproduktivität sei weiter gefallen. Vor allem fiel auf, daß die Arbeitslosenzahl nicht so stark gestiegen sei, wie es bei einer Umwandlung zum Markt und dem üblichen Modell einer Schocktherapie hätte sein müssen. Obwohl ein hoher Prozentsatz (um die 15% im Landesdurchschnitt) arbeitslos war, reichte das für eine Zerstörung der sozialistischen Struktur und Umwandlung der Wirtschaft nicht aus. »Aus der Tatsache, daß die Arbeitslosenquote zwischen 1985 und 1988 in Jugoslawien bei wachsender Bevölkerung sowie stagnierendem Sozialprodukt stabil bleibt, kann auf ein deutliches Absinken der ohnehin niedrigen Arbeitsproduktivität geschlossen werden. Die Arbeitsproduktivität fällt in Jugoslawien seit 1960 permanent ab, bei bis Mitte der Achtziger Jahre steigender Arbeitslosigkeit«5. Zwar wurde das Lohn- und Lebensniveaus massiv gesenkt, um die »Strukturanpassung« und eine neues Kommando über die ArbeiterInnen zu erzwingen, aber das Mittel waren im wesentlichen steigende Preise für Benzin, Strom und Nahrungsmittel. Massenentlassungen waren auf Grund des politischen Systems nicht möglich.
Für die westlichen Gutachter ist die »Überbeschäftigung« Quelle des Übels: viel zu viele Leute werden beschäftigt und verursachen Kosten. »Die Gewohnheit, als Gesellschaft mehr als das realisierte Sozialprodukt zu verbrauchen und als einzelner mehr, als verdient wurde, auszugeben, war tief verwurzelt«6.
Der hohe Beschäftigungsgrad trotz Krise ist zwar nur eine unter verschiedenen Ursachen der mangelnden Produktivität7, ist aber gut geeignet, um das Verhältnis zwischen Klasse und Apparat zu kennzeichnen und idealtypisch den Krisenzusammenhang herauszuarbeiten.
Der ökonomische Mechanismus, über den sich trotz des Angriffs des westlichen Finanzkapitals ein Sinken der Produktivitätskennziffern ergab, war in Jugoslawien folgender: Ein Betrieb macht Verluste, weswegen auch immer (von schlechtem Management über nicht weltmarktgerechte Waren bis zum Widerstand der ArbeiterInnen). Das zieht sich eine Weile hin, und es werden Versuche gemacht, über Kreditaufnahmen zu modernisieren. Es gelingt nicht, den Absatz zu steigern oder die Kosten zu senken. Nach marktwirtschaftlichen Gesetzen müßte der Betrieb Konkurs anmelden. Stattdessen kann er sich dank der Verbindungen zu Banken und politischer Verwaltung weiter verschulden. Dies passiert in Jugoslawien landesweit in tausenden von Betrieben.
Der Druck der ArbeiterInnen, deren Reallohn zwischen 1980 und 1986 um 40 % (!) zurückgegangen ist (lt. NZZ v. 27.3.86), ist durch die Arbeiterselbstverwaltung nicht zu kontrollieren, im Gegenteil, diese wird zum Instrument der Übertragung der Nöte der Klasse auf den Apparat. Das integrative und gegen die Klassenkämpfe gerichtete Verhalten der Arbeiterselbstverwaltung bedeutet aber auf der anderen Seite, daß sie an der Erhaltung der örtlichen Arbeitsplätze usw. mitarbeitet und alles tut, um den »Standort« zu erhalten. Über die Arbeiterselbstverwaltung, die sich aus den höheren Schichten der Klasse und vor allem aus dem Management rekrutiert, wird die ArbeiterInnenstärke auf den ökonomischen Bereich übertragen, ohne daß eine Zentralbank dem entgegenwirken kann8.
Die Banken der Republiken sind politisch unabhängig von Belgrad und schöpfen als Folge der Kreditierung der Betriebe selbst weiter und schneller Geld und produzieren damit Inflation. Hellsichtig arbeitet Bruno Schönfelder diesen Sachverhalt in einem Artikel in den Comparative Economic Studies heraus: »Dem Absinken der Realeinkommen folgte ein Absinken des privaten Verbrauchs, aber ein längst nicht so dramatisches (...). Dafür gibt es zwei Hauptgründe. Erstens hörten die Haushalte auf, einen Teil ihres persönlichen Einkommens als Sparguthaben bei den jugoslawischen Banken zu deponieren. Nach 1980 sank deren realer Wert. (...) Zweitens deshalb weil trotz Reallohnsenkung von über 30 Prozent die Beschäftigung gleichzeitig um 20 Prozent zunahm. Die Gemeinden mit großer Arbeitslosigkeit übten Druck auf die Unternehmen aus, zusätzliche Leute einzustellen, auch wenn die Betriebe bereits überbeschäftigt waren und auch wenn das zur Folge hatte, daß die Löhne unter die Armutsgrenze fielen. Schätzungsweise wurden mindestens 1,7 Millionen Beschäftigte von den insgesamt 7 Millionen Beschäftigten im sozialistischen Sektor nicht gebraucht und hätten entlassen werden können ohne Senkung der Produktion«. So analysiert ein westlich-kapitalistischer Ökonom9. Außerdem: »Nach 1983 bekamen die halblegalen und illegalen Formen von Bankkrediten an sozialistische Unternehmen eine wachsende Bedeutung (...). Im eigentlichen Stabilisierungsprogramm war vorgesehen, daß die Überfluß-Arbeitskraft (surplus labor) eine Beschäftigung im sich entwickelnden privaten Sektor finden sollte. Tatsächlich passierte wenig. Die Kommunen hatten es in der Hand, inwieweit sich das private Gewerbe entwickelte. Leider haben die örtliche Parteifunktionäre dies meist behindert(...)«10. Gabriele Herbert weist auf das alte Zadruga-Element hin: »Es gibt eine Art 'Familienkorruption`, was sich in der Beschäftigungspolitik der Betriebe äußerst problematisch auswirkt. Betriebe verhalten sich häufig wie die alten Familienstrukturen - die serbischen 'Zadrugas.«11
In der politisch-rechtlichen Strukturierung des Arbeitsmarktes steckt die traditionell-vormoderne Familienmacht (im Süden hauptsächlich) über den Alltag und die moderne Klassenmacht der MassenarbeiterInnen (im Norden hauptsächlich) gleichermaßen. Der Anspruch der älteren auf einen festen Arbeitsplatz ist überhaupt diejenige Legitimationsgrundlage des Systems, die nur um den Preis der völligen Selbstaufgabe und des damit einhergehenden Kontrollverlustes öffentlich aufgegeben werden könnte. Genau das verlangt der IWF aber gerade, nämlich die Selbstabdankung der bürokratischen Klasse, die öffentliche Verkündung der Abschaffung des Vorrangs des gesellschaftlichen Eigentums und damit die Aufkündigung des sozialen Konsenses innerhalb der Gesellschaft. Die Bürokratie sitzt zwischen den Stühlen. Das Management will natürlich zu neuen »produktiven Ufern« aufbrechen. Aber wo soll der Anfang gemacht werden? Wo soll der gräßliche Einschnitt ins politische System beginnen, der eine soziale Katastrophe riesigen Ausmaßes mit sich bringen würde? Über die politische Ebene mit Wahlen, über die Ebene der Betriebsschließungen, über den Bankenzusammenbruch? Spätestens 1987 wird die Krise in der Weltpresse offen als Unregierbarkeit verhandelt. Jährlich wächst die Binnenverschuldung um 2 bis 3 Mrd. Dollar. Nicht zufällig erscheint 1987 in Zagreb und nicht in Belgrad eine Studie, die die »fundamentalen Defekte im Bank- und Finanzwesen« beschreibt. Die Neue Zürcher Zeitung bemerkt in diesem Zusammenhang: »Wie gering die Bereitschaft weiterhin ist, auf Marktmechanismen zu bauen, zeigt sich bei den Lohnregeln für Verlustbetriebe: Hier kam es kürzlich zur Anpassung der geltenden Lohngrenzen nach oben. Ziel ist es, die Abwanderung der qualifiziertesten Arbeitskräfte zu verhindern.
Sie liefen den Verlustbetrieben in letzter Zeit verstärkt davon; dadurch habe sich die Lage dieser Unternehmen 'noch weiter' verschlechtert, heißt es. Von mehr Markt ist im Arbeitsrecht jedenfalls nichts zu spüren.«12 In einem Verlustbetrieb die Löhne zu erhöhen, statt zu senken, geht ja nun wirklich nicht. International wird dies als Begleitumstand der Arbeiterselbstverwaltung gesehen. Indem sie Ökonomie und Politik verklammert, bewirkt sie eine unmittelbare Übersetzung des Sozialen in die Krise der Finanzen. Das Regelwerk der Vermittlung, die Verhandlungswirtschaft mit weitreichenden dezentralen Befugnissen, ist als Folge weiterer Modernisierungsschritte völlig undurchsichtig geworden. Eine Menge neuer Vorschriften soll die Profitkriterien stärken und dennoch den offenen Bruch vermeiden.
Aber bis 1987 sind die Banken in der Lage, ihre Bilanzen so zu gestalten, daß der Verlust nicht als Riesencrash und totaler Zusammenbruch des gesamten staatlichen Bankwesens zu Tage tritt. Über die staatlichen Banken wird unbeschränkt Geld künstlich geschaffen. Die Geldmenge wird nach Maßgabe des politischen Kräfteverhältnisses mit der kämpfenden Klasse schrankenlos ausgeweitet, daß jedem Kapitalisten die Haare zu Berge stehen.
In den Banken akkumulierte sich das Krisenkapital, d.h. den ausgegebenen Krediten steht kein realer Gegenwert gegenüber, die Bilanzwerte sind fiktiv. Äußeres Merkmal der Entwicklung ist, daß die Inflation schneller als die Zinsen steigen, ein negativer Realzins bestand. Vom IWF her bestand die zentrale Forderung, einen positiven Realzins herzustellen, was bedeutet hätte, den Diskontsatz beispielsweise im Herbst 1987 auf 130% zu heben (in der BRD liegt er immer unter 10%). Statt der Banken und damit des politischen Regimes sollten also die Betriebe pleitemachen, indem sie die Zinsen nicht hätten bezahlen können.
Exemplarisch für einen durchgezogenen Crash ist der Fall des Agrokommerzskandals in Bosnien im Jahre 1987. Die Agrokommerz war ein landesweit renommierter Agrokonzern und gleichzeitiges Entwicklungsprojekt in Bosnien-Herzegowina. An ihm wurde bilderbuchmäßig der Zusammenbruch von Bank, regionaler Parteispitze und zig Betrieben vorexerziert. Der Skandal bestand äußerlich darin, daß das Unternehmen 8.500 Wechsel in Höhe von über einer Milliarde Dollar nicht bezahlen konnte, diese also ungedeckt waren. Die Schulden waren gemacht worden, um Löhne von 13.500 ArbeiterInnen bezahlen zu können. Insgesamt waren 63 verschiedene Banken verwickelt. Die Forderung des Unternehmens an die Teilrepublik zur Umschuldung der kurzfristigen Kredite in langfristige konnte diese nicht erfüllen, so daß die Belgrader und Zagreber Banken und die Bundesregierung hätten einspringen müssen. Die waren nicht bereit zu einer Umschuldung. In der Folge wurden der Generaldirektor und weitere 100 Leute verhaftet, der Präsident der Nationalbank der Teilrepublik wurde entlassen, der Vertreter Bosniens im Präsidium des Bundes, der eigentlich im nächsten Jahr Präsident geworden wäre, mußte zurücktreten. Der ganze Konzern sollte in Konkurs gehen.13 In diesem Zusammenhang kommt die FR zu einem Ergebnis, das den übergreifenden finanzoperationellen Kern des Skandals wie der Krise im allgemeinen freilegt: »...entwickelten sich die Banken an der Nationalbank vorbei zu Emissionsquellen zusätzlichen Kreditgeldes. Hierin liegt nach Meinung von Fachleuten eine der Ursachen, daß der inzwischen über die 100-Prozentmarke gestiegenen Inflation nicht beizukommen ist.
Die Idee, sich mit billigem Inflationsgeld oder -krediten zu sanieren, lag auch den faulen Wechselmanipulationen von `Agrokommerz' zugrunde. Fikret Abdic (Generaldirektor) glaubte offenbar, über seine politischen Beziehungen die betroffenen Banken dazu bringen zu können, die ungedeckten Wechselschulden in mittelfristige Kredite umwandeln zu können. Diese wären dann nach Jahren mit billigem inflationsentwertetem Geld zurückgezahlt worden (...). Serbische Banken sollen angeblich bosnische Wechsel nicht mehr annehmen. In Sarajewo wehrt man sich aber vehement, daß zwischen 'Agrokommerz' und der Teilrepublik ein Gleichheitszeichen gesetzt wird.« Im innerjugoslawischen Machtkampf bedeutete der Agrokommerzskandal die lancierte Ausschaltung eines konkurrierenden Machtzentrums - nicht zufällig desjenigen von Bosnien, derjenigen Teilrepublik, die als mulitethnisches »Jugoslawien im Kleinen« auf jeden Fall dem gegenrevolutionären Projekt der Nationalisierung der sozialen Konfliktualität am entschiedensten widersprochen hätte und hat. Strategisch war der Plan der Aufteilung des Gesamtstaates schon in den Köpfen der Politiker im Norden vorhanden und das bedeutete auch, den bosnischen Teilstaat perspektivisch zwischen einem vergrößerten Serbien und einem vergrößerten Kroatien aufzuteilen. Deswegen durfte hier einmal ein Staatsbankrott auf Teilrepubliksebene durchgezogen werden.
Die ArbeiterInnen reagieren auf den Crash, indem sie eine neue KP und eine alternative Gewerkschaft in Zenica gründen und die soziale Absicherung der von Entlassung bedrohten ArbeiterInnen verlangen.14
Ein bißchen vergleichbar ist die Geschichte mit dem Bankenkrach in Deutschland von 1931, als statt eines totalen Bankenzusammen-bruchs eine Großbank als Bauernopfer Konkurs machen mußte.15 Während in Bosnien ein exemplarischer Crash durchgezogen wurde, war es aber in den anderen Republiken im Prinzip nicht anders mit der Geldschöpfung.
Überall prallten die Sanierungsvorhaben aus Belgrad in Form von Preiserhöhungen und Privatisierungsvorschriften auf eine dezentrale Teilökonomie, die die soziale Disziplinierung über den Finanzsektor konterkarierte und praktisch von innen her alle schocktherapeutischen Maßnahmen unterlief. Der Kampf von unten, hunderte von Streiks wurden in die Absicherung der lokalen Eliten umgeleitet, statt diese wegzufegen.
Der Nationalismus ist konsequenter Ausdruck davon, weil er das Zwangsgefäß von Klasse und regionaler Bürokratie auf den Punkt bringt. Er hat seine materielle Basis in der Beschäftigungspolitik, sei sie noch so morsch und korrupt, und ist die klassenübergreifende Projektion der Wirtschaftskrise nach außen - auf die Belgrader Zentralregierung und den politischen Verteilungskampf zwischen den Republiken. »Wir sitzen in einem Boot« wäre kein hohler Spruch, sondern eine Realitätsbeschreibung der ökonomischen Mechanismen vor Ort. Das Streben nach Unabhängigkeit der Republiken ist die Verlängerung und nachträgliche Legalisierung des Finanzverhaltens der regionalen Eliten gewesen. Bei einer zentralen Revision der Verhältnisse hätten die regionalen Eliten sowohl in der Logik kapitalistischer Rationalität als auch aus der Sicht von unten als Wirtschaftskriminelle (wie im Falle Agrokommerz real passiert) dagestanden. Das zu vermeiden hieß, die nationale Gemeinschaft als Opfergemeinschaft zusammenzuschmieden und das Bündnis mit dem reaktionären Uralt-Nationalismus einzugehen.
Dieses Transformationsproblem ist überall in Europa ähnlich und selbst in Deutschland an den Problemen der Treuhand deutlich. Wer macht bankrott, wer kann sich retten? Was sollen die Kriterien für »marode« und »nicht marode« sein? Geht es überhaupt darum? Es geht doch um die Disziplinierung der Klasse durch völlige Neuzusammensetzung.
Der Norden glaubte sich dann gerettet, wenn er die Zahlungsverpflichtungen in den gesamtjugoslawischen Entwicklungsfond los wäre, also nicht mehr die Sozialpolitik im Süden mitfinanzieren muß (daher mußte der Crash von Agrokommerz in Bosnien inszeniert werden). Um das Abschütteln dieser »Last« der sozialen Sicherheit der Massen im Süden geht es den beiden nördlichen Republiken, bei ihrem Abkoppeln vom Süden. Denn dies ist die Logik des Zerfalls. Der Norden wird sich mit Europas Hilfe »sanieren«, während der Rest seinem Schicksal der »Unproduktivität« überantwortet wird und den Bach runtergehen kann.
Die materielle Basis der serbischen Strategie liegt neben dem Abfangen der sozialrevolutionären Zuspitzung in den materiellen Interessen des zentralen Staatsapparats in Belgrad, der mehrheitlich von SerbInnen besetzt ist. Der Erhalt des Gesamtstaats gegen eine Wegrationalisierung und Schrumpfung ist das materielle Anliegen einer ganzen Schicht.
Eine Reihe anderer »struktureller Fehlentwicklungen« bezieht sich auf die Art der industriellen Investitionsentscheidungen 16, deren Hauptstreitpunkt die regionale Verteilungsfrage darstellt. Die Herrschaftskrise ist 1987 voll entfaltet. Die sozialen Kämpfe erzwingen ein Hin und Her zwischen immer neuen Lohn- und Preisregularien und nötigen die regionalen herrschenden Klassen zur Flucht in die weitere Inflation einerseits und in die nationalistische Kriegspropaganda andererseits, die ebenfalls eine Flucht aus dem unkontrollierbar gewordenen sozialen Antagonimus darstellt. Der Nationalismus ist der einzig verbliebene soziale Kitt zwischen unten und oben in den Teilrepubliken.
Insgesamt scheint es so gewesen zu sein, daß zum einen durch den Lokalismus und die regionale Begrenztheit, zum anderen wegen des Fehlens einer sozialrevolutionären Organisation die sozialen Kampfinhalte in eine nationalistische Polarisierung übersetzt werden konnten. Geheimpolizei und die vorhandenen Organisationsstrukturen der traditionellen Organisationen konnten sich auf die Kämpfe setzen, indem sie ihnen eine Sprache verliehen, die der Gegensätze zwischen den Republiken und des Gegensatzes zur Zentrale.

Neuzusammensetzung von Subjektivität durch die Sozialtechnik der Ethnisierung
Von Neuzusammensetzung der Subjektivität der Massen könnte versuchsweise deshalb gesprochen werden, weil es um die Art der Zusammensetzung schon vorhandener fundamentaler Bilder und Werte geht. Die Konstrukteure der Bilder vom »Nationalen« lösen die Bilder und Kampfwerte aus ihrem Entstehungszusammenhang und betreiben eine Schablonisierung für den aktuellen Verteilungskampf, der die Fronten spalterisch bewußt falsch setzt. Die verbrauchten Werte des Sozialismus und die Selbstentlarvung der Bürokratie durch offensichtliche Verteilungsungerechtigkeiten und die Repression waren Voraussetzung. Die Sprache des Sozialismus hatte abgewirtschaftet und, eine revolutionäre Linke, die mit anderer Sprache und politisch-ästhetischen Interventionen über die »neuen sozialen Bewegungen« hinausging, gab es anscheinend nicht.
Im folgenden einige kurze Bemerkungen zur Steuerung der nationalen Empfindungen. Es sind wirklich nur Randbemerkungen, weil die Organisationsgeschichte der nationalen Gruppen, die Innenansicht der jeweilgen Bürokratie in der Republiken, die Untersuchung von typischen Fernseh- und Pressekampagnen hier nicht geleistet werden kann. Wir wissen, daß erst der superbrutale TV-Einsatz in Kombination mit gelenkten Massakern die Voraussetzung geschaffen hat, wesentliche Teile der Bevölkerung ideologisch zu verhetzen. Die Säuberung der Medien von kritischen Jounalisten ging parallel zur Entwicklung seit 1987/88.
Durch den übergreifenden imaginären Fluchtpunkt, den sozialen Flächenbrand und den sozialrevolutionären Krieg der Massen gegen die Bürokratie abzuwehren, bewegte sich die Taktik der Herrschenden notwendig in der Fortschreibung und historisch-nationalistischen Aufladung des sozialen Konsenses aus der Vorkrisenzeit. Obwohl die ursprüngliche materielle Basis dieses Bündnisses längst entfallen war, also die Option einer regionalen Entwicklungspolitik mit der harmonisierenden weil wohlstandsfördenden Einbindung der Klasse im Rahmen der kommunistischen Staatsidee, eignete sich der vorhandene ökonomisch-institutionelle Rahmen zur national-faschistischen Wendung. Sein wesentlicher ideologischer Inhalt bestand darin, sowohl die Ursachenerklärung für soziale Misere nach außen zu projizieren als auch die Hoffnungsseite der sozialen Verbesserung in einem sich radikalisierenden regional-rassistischen (»nationalen«) Klassenbündnis zu verankern (sozusagen die Fortschreibung der materiellen Basis des ehemaligen Klassenkonsenses auf einer defensiven Ebene). Materielle Basis für die Massen war - soweit bisher zu sehen - das sichtbare Bemühen der örtlichen Bürokratie, die lokalen Arbeitsplätze gegen den weltkapitalistischen und zentralistischen Krisenangriff zu erhalten.
Die Verarmungsprozesse wurden doppelzüngig der Zentrale und vor allen den jeweils anderen Republiken samt ihren feindlichen Völkern angelastet. Aber das war längst nicht ausreichend. Die Steuerung hin zum Krieg lief praktisch mittels der Hauptmethoden »Lügen und Leichen«:
- Propaganda und Lügen in den Medien
- reale Massaker und Leichen, die vorgeführt werden können
- kombiniert damit wurden die sozialen Revolten durch nationale Meetings - die Milosevic-Geheimdienst-Strategie - gegenbesetzt. Der öffentliche Raum der Aktionen wurde organisatorisch übernommen mittels eines schlagkräftigen Bündnissses mit den nationalistisch-bürgerlichen Parteien bis hin zu Faschisten. Die Patriarchalität dieser Wendung hat historische Vorläufer.
Zwischen allem besteht eine sich selbst verstärkende Wechselwirkung. Die Muster sind nun auch aus Deutschland hinlänglich als Rassismus der Dreiergemeinschaft von Staat, Rechtsradikalen und Mob bekannt. Lügenpropaganda und rechtsradikaler Nationalismus/Rassismus hängen bekanntermaßen so dicht zusammen, daß die Leichen und eine Bürgerkriegskonfrontationslinie auch nicht mehr weit sind. Die kulturellen, religiösen und regionalistischen Momente in der Reproduktion der Massen sind als historisch wirksame Elemente natürlich Grundlagen der sozialen Radikalität gewesen. Der Lokalismus und die Dezentralität war ebenso Voraussetzung der Kämpfe, die sich aber zunächst gegen die lokale Herrschaftsschicht wandten .Erst die weitergehende Politisierung konnte den Nationalismus aufpfropfen, weil eine sozialrevolutionäre Assoziation der Kämpfe organisatorisch nicht ging. Den Zusammenhang zwischen sozialen und religiös/kulturellen Elementen in der balkanischen Widerstandstradition wäre aufzuarbeiten, um deren Verwendung im Kontext der Kämpfe von unten und ihrer Vereinnahmung von oben genau zu bestimmen. Hier müssen wir davon ausgehen, daß Teilelemente dieser Kultur in die nationalistische Propaganda eingegangen und für sie funktionalisiert worden sind.
Im Buch von Ivo Andric »Die Brücke über die Drina« wird diese komplexe Erfahrung im Alltag verschiedener Kulturen über mehrere Jahrhunderte hinweg beschrieben und könnte als Geschichtsbuch die Verhältnisse verlebendigen. Der Roman spielt in der bosnischen Stadt Wischegrad, die jetzt durch »Säuberung« »entmischt« werden soll, nachdem es in den vergangenen Jahrhunderten zwar immer wieder Metzeleien gab, aber die »Mischung« sich doch erhielt (Bosnien galt als eine verkleinerte Ausgabe Jugoslawiens).
In der historischen Entscheidungssituation des Jahres 1987
- Aufbrechen des sozialen Antagonismus, »Entinstitutionalisierung« des Kampfes um die Reproduktion im Laufe des Jahres
- Staatsbankrott bzw. Leben am Gängelband der internationalen Banken
- Absicht des sozialen Frontalangriffs mit einer völligen Dekonstruktion der Beschäftigung
- Verteilungskampf konkurrierender Machtzentren in den regionalen Teilökonomien wird sichtbar, daß es aus volkswirtschaftlicher Optik eine »Überbevölkerung« in Südjugoslawien gibt, mit der irgendwie verfahren werden wird.
Von uns sollte die »Unregierbarkeit« von 1987 als potentiell revolutionäre Situation interpretiert werden. Um die damaligen Möglichkeiten einer sozialrevolutionären Kampagne oder europaweiten Mobilisierung gegen die heraufziehende Katastrophe zu untersuchen oder über mögliche Ansätze dazu zu berichten, fehlt das Material. Was hätte eine revolutionäre Gruppierung damals erörtert, was hätte ein rechtzeitig geknüpftes Netz mit einer Gegenkonzeption gegen den Teilungsplan, der das »nationale Selbstbestimmungsrecht« als Counterideologie entziffert hätte, erreichen können? Die strategische Vorentscheidung der Herrschenden muß 1987/88 gefallen sein, die Massen der Teilrepubliken tatsächlich gegeneinander auszuspielen, indem die Option der Aufteilung Jugoslawiens von den inneren Zirkeln der Macht längst diskutiert wurde und es nur um das »wie« ging. Sowohl die Integration der Massen als auch der Machterhalt der regionalen Staatsbürokratie sollte dann dem Ziel dienen, denjenigen Übergang zum Markt durchzusetzen, der bereits als Zugeständis an den IWF seit 1982 versprochen, politisch aber an den verschiedensten Strukturen vom Widerstand bis zum Machterhalt gescheitert war.
Ein übergreifendes Manifest gegen den heraufziehenden Bürgerkrieg hätte gerade in Deutschland gegen die beabsichtigte Teilungspolitik mobilisieren müssen, allerdings nicht mit dem Ziel des Erhalts der Staatsbürokratie, sondern dem des Schuldenerlasses, um den Bewegungen objektiven Spielraum zu ermöglichen. Selbstorganisierte Reproduktion gegen den Weltmarkt hätte diskutiert werden können als Alternative zum Massenmord.
Sämtliche Debatten um nationale Selbstbestimmung wären auf die kapitalistische Sanierungsabsicht zu beziehen gewesen, was im Kontext von Schuldenkrise und des Diskurses über die Einführung von Marktwirtschaft und einer Finanzreform leicht gewesen wäre.
Die Frage der kulturellen Unterschiede wäre als Zusammenhang von historischer Aufarbeitung, des sozialen Gefälles und eines akut notwendigen Antirassismus gegen die Nationalisten zu thematisieren gewesen.

1 Über die Entwicklung der sozialen Kämpfe in den 80ern gibt es zwei Veröffentlichungen: Osteuropaarchiv, Jugoslawien. Klassenkampf-Krise-Krieg, Berlin 1992.(Osteuropaarchiv, c/o Papiertiger, Berlin, Cuvrystr.25) und Wildcat Nr.61, April/Mai 1993, Arbeiterklasse und Nationalismus. Im wesentlichen habe ich mich auf Zeitungsausschnitte gestützt.
2 Vgl. Werner Gumpel (Hg.), Die jugoslawische Wirtschaft. - Gegenwart und Zukunft. (Südosteuropa-Gesellschaft e. V.) München 1988.
3 Liliana Djekovic, Jugoslawien zwischen EG und RGW. Im Westen überschuldet - vom Osten zunehmend exportabhängig, in: Südosteuropa-Mitteilungen, 1982, H.2, S.3
4 In der EX-DDR war die Produktivität ein Drittel bis die Hälfte niedriger als in der BRD, und damit wurden die Massenentlassungen in den Großbetrieben begründet.
5 Liliana Djekovic, Der kurze Atem der Selbstverwaltung. Eine Volkswirtschaft zwischen Dauerkrise und gescheiterten Reformen, in: Furkes/Schlarp (Hg.), Jugoslawien. Ein Staat zerfällt, Reinbek 1991 S.134 - 164, hier: S.137.
6 Zitiert in: Hansgeorg Conert, Die »sozialistische Marktwirtschaft« in der Schuldenkrise, in: Elmar Altvater u.a.(Hg.), Die Armut der Nationen, Berlin 1987, S.182-192, hier: S.185.
7 Das Kriterium der Arbeitsproduktivität bezieht sich direkt auf die Ausnutzung der Arbeit der Menschen, daneben ist die Produktivität auf gesellschaftlicher Ebene z.B. durch die Ausgaben für Soziales eingeschränkt, wenn die Reproduktion der Bevölkerung auf gesellschaftlicher Ebene in Relation zu anderen Staatsinvestitionen weniger einbringt. Die internationalen Austauschbeziehungen sind ihrerseits durch Mechanismen des Werttransfers in die Metropole geprägt, so daß die gesellschaftliche Rentabilitätsrechnung sich letztlich an einer internationalen Profitrate orientieren muß. Sie ist das Resultat aus der Optimierung sozialer Gewalt mittels technologischem Vorsprung, Eigentumsrecht als Kommando über (Haus-) Arbeit, militärische Macht und Stand der medialen Manipulationsmöglichkeiten. Über die Globalisierung der Finanzmärkte und "offene Grenzen" (GATT) erfolgt die Anpassung relativ direkt, ohne das der Nationalstaat die Möglichkeit hätte, sich durch eigene Gestaltung von Wechselkursen und nationaler Geldschöpfung abzupuffern.
8 Gabriele Herbert, Rationalisierung und Arbeitslosigkeit in der jugoslawischen Selbstverwaltung, Bremen. Dieselbe, »Die Arbeiterselbstverwaltung ist nicht Ursache der Krise«, in: Catherine Samary, Krieg in Jugoslawien, isp-Verlag, Köln 1992; Rudi Supek, Probleme und Erfahrungen der jugoslawischen Arbeiterselbstverwaltung, in: Althammer, Jugoslawien am Ende der Ära Tito, München 1986, S.159-185.
9 Bruno Schönfelder, Reflections on Inflationary Dynamics in Yugoslavia, in: Comparative Economic Studies, Vol. XXXII, No.4, Winter 1990, S.85-105.
10 Schönfelder, a.a.O. S.100f.
11 Gabriele Herbert, in: Die Arbeiterselbstverwaltung a.a.O. S.107
12 NZZ v. 10.12.87
13 Archiv der Gegenwart vom 8. September 1987 (S.31402), FR v. 10.9.93. Süddt. Ztg. v. 24.9.87
14 FR v. 27.11.87
15 Vgl. Karl Heinz Roth, Einleitung des Bearbeiters, in: O.M.G.U.S.(Militärregierung der Vereinigten Staaten für Deutschland) Ermittlungen gegen die Dresdner Bank, 1946, Nördlingen 1946, den Abschnitt über die Bankenkrise 1931, S. XI -XXXI. Damals stand genauso der Staatsbankrott an. Die Nazis schoben den Staatsbankrott über künstliche Finanzierung bis zum Weltkrieg auf, um dann durch äußeren Raub und neue Ordnung die kapitalistische Rekonstruktion herbeizuführen.


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Die Ethnisierung des Sozialen

Die Transformation der jugoslawischen Gesellschaft im Medium des Krieges

Teil IV - Nationalismus und Ethnisierung


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Vorwort
Jugoslawien im Kontext des ost- und südosteuropäischen Umbruchs
Bemerkungen zur Kampfgeschichte der moralischen Ökonomie
Zur Kampfsituation 1987
Nationalismus und Ethnisierung
Krieg als Transformationsmechanismus
Die EG-Migrationspolitik und die Flüchtlinge aus Südosteuropa
Zur Rolle des Imperialismus in der jugoslawischen Krisen- und Kriegsdynamik
Anhang


Teil 4

Nationalismus und Ethnisierung

»Ohne die Vereinigung mit Europa haben wir keine Entwicklungschance. Das impliziert gleichzeitig die Standardisierung ökonomischer Kriterien und auch die Übernahme der in der europäischen Gemeinschaft üblichen Verhaltensmuster. Hier liegt indes auch etwas anderes verborgen. Wenn wir uns den »europäischen Stil« nicht aneignen, werden wir isoliert bleiben, eignen wir ihn uns aber an, so werden wir Teil der westeuropäischen Integration werden müssen. Die Frage ist jedoch, inwieweit unsere innere Situation die Integration begünstigt. Deshalb muß man annehmen, daß wir noch lange Zeit ein unterentwickeltes Bauernland bleiben werden.«

Die Worte des Belgrader Politologen Dragan Veselinov von 1988 also am Vorabend des Krieges, haben quasi programmatischen Charakter sowohl für das Scheitern des jugoslawischen Entwicklungsmodells als auch für das Verständnis des gewalttätigen Modernisierungsprozesses, der in Ex-Jugoslawien momentan vollzogen wird. Das sozioökonomische Entwicklungsgefälle Ex-Jugoslawiens ist geprägt von fast kontinentalen Ausmaßen: Während sich im Norden im Laufe des über 100jährigen Industrialisierungsprozesses eine gesellschaftliche Infrastruktur entwickelt hat, die weitgehend westeuropäischen Zuschnitt erreicht, verlief der nach dem 2.Weltkrieg einsetzende Modernisierungsprozeß des Südens d.h., der bis Ende des letzten Jahrhunderts unter osmanischer Herrschaft stehenden Regionen, als ungleichzeitige Entwicklung, in der die Modernisierung des ökonomischen Terrains punktuell blieb und nicht im gleichen Maße eine Modernisierung der Gesellschaft bewirkte bzw. diese auch nicht im gleichen Maße bewirken sollte, da in der Beibehaltung der Verbindungen zum Dorf erst die Möglichkeit der Produktivierung der privaten kleinbäuerlichen, am Eigenbedarf orientierten Bauernökonomie lag, die nun quasi das Einkommen der mobilisierten und proletarisierten Familienmitglieder subventionierte und damit helfen sollte, die Reproduktionskosten in den neu entstandenen Industriezentren möglichst niedrig zu halten. Ehedem wurde ein Großteil der Kosten der Industrialisierung durch die staatlich verordneten Niedrigpreise für landwirtschaftliche Erzeugnisse den privaten Kleinbauern abgepreßt. Der immer wieder auftauchende Begriff der »Übersetzung
» der Landwirtschaft etc. des Südens bezeichnet hier die entwicklungssoziologische Verschleierung der Verfestigung der Kontinuität einer »moralischen Ökonomie«, deren Konsumorientiertheit die Grenzen einer Inwertsetzung nach hinten verlagerte und eine permanente Rationalisierungsblockade darstellte. Dieses Entwicklungsgefälle, welches nicht nur ein sozioökonomisches war, sondern, bedingt durch die historisch different entwickelte Gesellschaftlichkeit der einzelnen Regionen, auch eine soziokulturelle Ausformung fand, bildet nun den Hintergrund des Verständnisses der gegenwärtigen Situation.
Neben dem Transfer aus dem agrarischen Wertraub war der Nachkriegsmodernisierungsprozeß Jugoslawiens jedoch im wesentlichen außenfinanziert, was nur möglich war durch die spezifische geopolitische Lage Jugoslawiens an der Schnittstelle des Ost-West-Konflikts. Dieser strategische Vorteil verschaffte dem Regime während des »kalten Kriegs« sowohl vom Westen als auch vom Osten die benötigten materiellen Ressourcen, um einerseits einen massiven Modernisierungsprozeß einzuleiten und andererseits die sich daraus ergebenden bzw. vorhandenen sozialen Konflikte abzudämpfen. Die Geschichte des gescheiterten jugoslawischen Entwicklungsmodells liest sich dementsprechend, bis in die 80er Jahre, wie eine Geschichte des Zurückweichens vor den sozialen Spannungen.
Und dennoch gelang in den verschiedenen Modernisierungsphasen eine Zerlegung des sozialen Raums, die zwar im produktivistischen Sinne dysfunktional war, die aber eine Zerstörung von Gesellschaftlichkeit zur Folge hatte, die seit den 80ern und besonders mit Kriegsbeginn zum Ansatzpunkt der kriegsmäßigen Deregulierung wird. Im wesentlichen ging es dabei um die ungelöste Agrarfrage, die im Laufe des Modernisierungsprozesses immer mehr, im doppelten Sinne, in die Zange genommen wird. Zum einen geschah dies durch die Industrialisierungs- und Modernisierungsprogramme selbst, die eine deutliche Präferenz in Richtung eines Ausbaus der industriellen Infrastruktur der Gesellschaft besassen, und zum anderen kam es innerhalb dieses Entwicklungsprozesses zu einer »Revolution der Erwartungen« besonders der jungen Generation, die v.a. im Süden den Migrationsprozeß enorm antrieb und die Absorbtionsmöglichkeiten des industriellen bzw. des modernen Sektors bei weitem überstieg.
Die räumliche Fluktuation, in Jugoslawien schon immer ziemlich hoch, steigerte sich seit den 70ern weiter und führte besonders im Norden und in den neuen Industriezentren zu einem Zustrom von in der Regel unqualifizierten jungen Männern aus dem Süden, die meist der Plackerei der Landwirtschaft entflohen sind, aber noch stark von den sich auflösenden dörflichen Strukturen geprägt sind, oft Sprachschwierigkeiten haben, in Barackenlagern oder Wohnheimen wohnen, wo sie häufig von vor ihnen migrierten EinwohnerInnen ihres Herkunftsortes aufgenommen werden und zumeist schwere körperliche Arbeit verrichten müssen, sofern sie überhaupt einen Job finden. Während die Frauen, Alten und Kinder häufig auf dem Land zurückbleiben und die Landwirtschaft mehr und mehr zur Domäne der Frauen wird, sind die jungen Migranten »Gastarbeiter im eigenen Land«, räumlich und sozial von der eingesessenen Bevölkerung getrennt. Sie sind im Norden der sichtbare Ausdruck des jugoslawischen Nord-Süd-Konflikts, des Hereindrängens der Peripherie in die Metropole.
Im Zuge der Kontraktion der jugoslawischen Ökonomie im Gefolge der globalen Deregulierung, des Verlusts der strategischen Besonderheit durch den Wegfall des Ost-West-Konflikts und des damit einhergehenden Ausbleibens der politischen Kreditierung des maroden jugoslawischen Entwicklungsmodells kommt es nicht nur zu einer Zuspitzung der sozialen Kämpfe, sondern auch zu einer Politisierung des Nord-Süd-Konflikts, der die Lösung der »ungelösten Agrarfrage« zur jeweils spezifischen Integration der nunmehr zu Nationalstaaten mutierten Republiken in den europäischen Wirtschaftsraum bewerkstelligen soll. Und diese Politisierung des Nord-Süd-Konflikts transformiert nun auch die sozialen Kämpfe in einen neuen nationalistischen Korporatismus und verbindet die sozialen Aspirationen mit einer Teilnahme an den Vertreibungs- und Vernichtungsszenarien gegen die nunmehr als »Überbevölkerung« definierten Roma, Albaner, Muslime...
Doch dieser Transformationsprozeß erwies sich zunächst als sehr fragil, immer wieder durchbrach der soziale Prozeß die engen nationalistischen Grenzen, so daß sich letztlich nur im Medium des Krieges die Modernisierung der Sozialstruktur durchsetzen ließ. Im Zentrum des Kriegs steht dieser ungelöste jugoslawische Nord-Süd-Konflikt, die »ungelöste Agrarfrage«, die nun im Krieg ethnisch zerlegt wird, bevölkerungspolitisch modernisiert durch Vernichtung und Vertreibung der »Überschußbevölkerung«, die erst im Krieg freigesetzt und geschaffen wird und durch Umsiedlungen produktiv neu zusammengesetzt werden soll. Während in den nördlichen Republiken dieser Prozeß geradezu klassisch metropolitan als Loslösung von den südlichen »Hungerleiderrepubliken« und durch die Ethnisierung des Arbeits- und Wohnungsmarktes vollzogen wird, entfaltet sich dieser kriegsmäßige Ethnisierungsprozeß der sozialen Frage in den südlichen Republiken mit geballter Kraft und in den unterschiedlichsten Facetten.
Die Problematik der Darstellung der Ethnisierungsprozesse im ehemaligen Jugoslawien bestand nun u.a. darin, daß die Begrifflichkeit oft die Differenzierungslinien der Ethnisierung nachzuzeichnen scheint, indem mit den Begriffen, z.B. »die Albaner
«, eine ethnische Homogenität reproduziert wird. Daß diese Gesellschaften natürlich in sich überaus differenziert sind, ändert aber nichts daran, daß sie als gesamte angegriffen werden. Die Ethnisierung bestand genau darin, die politische Differenzierung des jugoslawischen Sozialraums, die sich in der Unterscheidung der verschiedenen Nationalitäten ausdrückte, was ganz sicherlich einen entwicklungsrassistischen Hintergrund ausdrückte, aber mitnichten einer Ethnisierung des Ausbeutungsgefälles und der gesellschaftlichen Beziehungen entsprach, im Sinne einer Konstruktion ethnischer Differenz umzudeuten. Dafür ließen sich aber keine neuen Begriffe finden, was sicherlich auch der fehlenden Diskussion und daher der eigenen Unfähigkeit geschuldet ist.
Im folgenden soll nun dieser Ethnisierungsprozeß exemplarisch am Beispiel des Kosovo, Serbiens und Bosnien-Herzegowinas nachgezeichnet werden, um anschließend wieder zu einer Gesamtbetrachtung zusammengefügt zu werden.

I. Kosovo
Der Konflikt im Kosovo hat für den Ethnisierungsprozeß in Jugoslawien paradigmatische Bedeutung und ist gleichzeitig die Initialzündung des gesamten kriegerischen Deregulierungsprozesses in Jugoslawien gewesen, der sich dann allerdings in seiner ganzen Brutalität im Krieg um Bosnien-Herzegowina entfaltet.
Der Kosovo (ca.2 Mio. Einwohner, davon über 80% AlbanerInnen) zählt mit einer Bevölkerungsdichte von 147 Menschen pro qkm zu den am dichtesten besiedelten Teilen des ehemaligen Jugoslawien (durchschnittlich ca. 80 Menschen pro qkm). Ihr Auskommen fanden die Menschen bisher v.a. in der stark übersetzten Landwirtschaft, die wenig technisiert, subsistenzwirtschaftlich ausgerichtet, auf kleinen privaten Höfen durch die mehrere Generationen umfassende Großfamilie organisiert war, und im städtischen Handwerk und Kleinhandel. Auch hier ist die vorherrschende Produktionsform die in einem Haus wohnende mehrere Generationen umfassende Großfamilie. Handel und Handwerk gelten ebenfalls als stark übersetzt. Daneben gibt es einen stark kapitalintensiven und extrem monostrukturell ausgerichteten Industriesektor (v.a. Energiewirtschaft und Metallurgie) und natürlich, wie überall, nicht nur in Jugoslawien, einen aufgeblähten Verwaltungs- und Parteiapparat. Zumindest bis zum Prozeß der kriegsbedingten Mobilisierung bzw. Vertreibung der albanischen Bevölkerung hat sich die stark patriarchal strukturierte Großfamilie aufgrund ihrer zentralen ökonomischen Bedeutung über die Jahrzehnte hinweg relativ stabil halten können.

Geschichte
Nach der Niederlage der deutschen Wehrmacht im Herbst 1944 übernahmen keineswegs die Tito-Partisanen die Macht im Kosovo, sondern die albanischen Nationalisten der »Balli kombetar«, die einen starken Rückhalt in der Bevölkerung hatten, wie selbst Tito eingestehen mußte. Mit militärischer Unterstützung Albaniens zwangen die jugoslawischen Kommunisten den Kosovo im Februar 1945 unter eine Militärverwaltung. Nach einem mehrere Monate dauernden Kampf waren die Kräfte der Balli kombetar im Juli 1945 besiegt und die Militärverwaltung wurde aufgehoben. Ruhe herrschte damit noch lange nicht im »gefährlichsten Teil des Landes«, wie der Kosovo schon damals genannt wurde, und noch lange gab es in den Bergen und Wäldern einen Partisanenkrieg gegen das kommunistische Regime.
Nach dem Bruch zwischen Tito und Stalin 1948 begann eine Phase des Terrors gegen die jetzt als »konterrevolutionär« abgestempelte albanische Bevölkerung, die sich bis Anfang der 60er Jahre hinziehen sollte.
Zwar flossen seit Ende der 50er Jahre Investitionen in die wirtschaftliche Entwicklung des Kosovo, im Vergleich mit den anderen Regionen Jugoslawiens waren diese aber dermaßen gering, daß sich der Abstand des Kosovo, als ärmster Region Jugoslawiens, zu den anderen Republiken noch weiter vergrößerte. Die Errichtung sogenannter »politischer Fabriken« zielte allerdings auch keineswegs auf eine wirtschaftliche Entwicklung des Kosovo - die Fabriken waren wohl zu einem Teil als Verlustbetriebe konzipiert - sondern waren der erste Versuch der materiellen Einbindung einzelner Teile der Bevölkerung und damit der Versuch der Zersetzung der widerständischen Sozialität.
Der Zerfall des Zentralismus seit Ende der 50er machte sich für die AlbanerInnen des Kosovo positiv bemerkbar. Seit Anfang der 60er Jahre nimmt der repressive Druck deutlich ab (die Polizei bestand überwiegend aus Serben), und mit dem Brioni-Plenum 1966 beginnt nun im Kosovo eine Epoche der Modernisierung die bis 1981 dauern und gravierende ökonomische, politische, soziale und kulturelle Veränderungen mit sich bringen sollte - und dies nicht nur für den Kosovo.
Ein gewaltiges Investitionsprogramm setzte ein, was allerdings v.a. dem Ausbau der vorhandenen kapitalintensiven Basisindustrie im Bergbau und dem Energiesektor zugute kam und nur wenige Arbeitsplätze schuf. Die neuen industriellen Arbeitsplätze in der entstehenden verarbeitenden Industrie schufen aber einen Anreiz zur Landflucht ebenso wie die Öffnung der Beschäftigungsmöglichkeiten für AlbanerInnen in Polizei und Verwaltung. Der Abbau der Beschäftigungsprivilegien für Serben führte zu einer starken Abwanderung von Serben aus dem Kosovo, was weitere Arbeitsmöglichkeiten für die Albaner freisetzte(bei der Vergabe von Arbeitsplätzen wurde nun die Kenntnis der albanischen Sprache verlangt). Schrittweise kam es zu einer »Albanisierung« des wirtschaftlichen Lebens im Kosovo. Die Landflucht und die partielle Modernisierung der Landwirtschaft (von 1948 bis 1981 verringerte sich der Anteil der landwirtschaftlich Tätigen an der Gesamtbeschäftigungszahl von 80,9% auf immerhin noch 54,6%) führten auch erstmals zu einer geringen Steigerung der Agrarproduktivität.
Das Modernisierungsprojekt war aber so konzipiert, daß damit die sozialen Probleme des Kosovo nicht zu lösen waren. Im Gegenteil: die Struktur der Modernisierung (Modernisierung und Beschäftigungsabbau in der Landwirtschaft, Bevorzugung der kapitalintensiven und nicht beschäftigungsintensiven Industrie) verschärfte die ökonomische und soziale Situation in der Region, die die höchste Geburtenrate Europas aufweist, hin zu trikontinentalen Verhältnissen. Die Schere zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung des Kosovo und den anderen Republiken, auch der übrigen Entwicklungsgebiete, vergrößerte sich immer weiter. Die Arbeitslosigkeit nahm drastisch zu, da nun auch die »versteckte Arbeitslosigkeit« des Agrarsektors durch die Migration ein Stück weit sichtbar wurde. V.a. Jugendliche unter 19 Jahren, die über 50% der Kosovo-AlbanerInnen ausmachen, waren arbeitslos. Auch die Aufblähung des Bildungssektors, die Universität Pristina wurde in den 70ern die größte Jugoslawiens, konnte diesen Zustand nur wenig kaschieren. Die Universität wurde zudem zu dem Ort, an dem sich der albanische Nationalismus seit den 60ern entwickelt.
Der Kosovo war ein soziales Pulverfass, und es schien nur eine Frage der Zeit, wann es explodieren würde.

1981
Am 11.3.1981 kam es mittags zu einem Protest von StudentenInnen der Universität Pristina wegen der schlechten Qualität des Mensaessens und gegen die schlechten Lebens- und Arbeitsverhältnisse. Der zunächst friedliche Verlauf der Demonstration von ein paar hundert StudentInnen ins Stadtzentrum schlug um, als ein Gerücht in Umlauf kam, daß es Verhaftungen gegeben habe. Darauhin bildete sich ein weiterer Zug, der mit Parolen die Freilassung der Gefangenen forderte, bis schließlich die gesamte Demo in eine Demonstration gegen die Parteiführung des Kosovo umschlug. Die Miliz ging mit Tränengas gegen die mittlerweile mehrere tausend Menschen umfassende Menge vor, und es entwickelte sich eine Straßenschlacht, bei der 2 Milizionäre schwer verletzt wurden. Über die Ereignisse wurde eine Nachrichtensperre verhängt - erst 14 Tage später erfuhr die jugoslawische Öffentlichkeit, was geschehen war. Die Parteiführung suchte das Gespräch mit den StudentInnen, um die Explosivität der Stimmung abzubauen und eine weitere Ausweitung auf die Bevölkerung zu verhindern.
Am 26.3. kam es erneut zu einer Demonstration, da sich seit dem 11.3. nichts verändert hatte. Neben den sozialen Forderungen tauchten nun auch erstmals nationalistische Parolen auf: »Kosovo den Kosovaren«, »Wir sind Albaner, nicht Jugoslawen«. Die Parteiführung des Kosovo hatte nun den Innenminister um »Hilfe« gebeten, und so gingen diesmal nicht lokale Polizeieinheiten gegen die StudentInnen vor, sondern Spezialeinheiten. Sie zerschlugen die Demonstration mit ungewohnter Brutalität und verfolgten und verprügelten die StudentInnen bis in die Wohnheime hinein.
In den folgenden Tagen kam es im gesamten Kosovo zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Doch jetzt waren es nicht mehr die StudentInnen allein, sondern auch die ArbeiterInnen, die ihre Fabriken verließen, um gegen ihre miesen Lebensbedingungen zu demonstrieren. Die ganze Region schien zu explodieren: Die Situation war eskaliert. Am 2.4. wurde über die gesamte Region der Ausnahmezustand verhängt und das Militär zur Niederschlagung des Aufstandes eingesetzt. Nach 100 Toten war die Friedhofsruhe wieder hergestellt.
Die Niederschlagung des Aufstandes beendete die 15jährige Modernisierungsphase des Kosovo. Das Konzept der nachholenden Entwicklung des Kosovo war genauso gescheitert wie sein großes Vorbild, die Entwicklungsdekade der UN. Weder konnten die Strukturen auf dem Land modernisiert werden noch konnte die Industrialisierung Schritt halten mit dem Bedarf an Einkommensmöglichkeiten außerhalb der Landwirtschaft. Die Landflucht verwandelte Pristina dagegen in einen Vorhof des Landes: Selten migrierten ganze Familien, so daß zumindest ein Standbein weiter auf dem Land blieb und die Zirkulation von Erfahrungen von der Stadt auf das Land enorm beschleunigt wurde, was die rasche Ausbreitung des Aufstandes enorm begünstigte. Pristina wuchs nach dem 2.Weltkrieg von 14.000 Einwohnern auf heute ca. 140.000, was zu einem rapiden Verfall und zur Verslumung führte.
Die Initiation moderner Sozialstrukturen war in einem solchen Chaos nicht möglich, so daß die Großfamilie, obwohl ökonomisch und sozial in ihrer traditionellen Funktion schon stark eingeschränkt, als Residualgröße weiterhin der wesentliche Bezugsrahmen blieb. Die Großfamilie in ihrer neuen intermediären und intermittierenden Funktion, zwischen Stadt und Land, zwischen Moderne und Tradition, ist nun auch der soziale Ort, an dem der albanische Nationalismus neu entsteht: und zwar in dem städtischen intellektuellen Bereich, welcher durch die Ausweitung des Bildungssektors einem Modernisierungsprozeß unterworfen war, in dem sich der traditionelle Bezugsrahmen auf die Großfamilie in ein nationales Projekt transformierte, in welchem die modernisierten städtischen Eliten die legitimen nationalen Führer der neugeschaffenen unterdrückten und nach Befreiung strebenden »Nation« sind. Bis 1981 ist der Nationalismus jedoch im wesentlichen noch ein hochkopiertes Großfamilienprojekt, und nirgendwo scheint die Dominanz der sozialen Frage durch nationalistische Forderungen konterkariert zu werden. Und doch ist der Nationalismus der AlbanerInnen ein Zeichen der Zersetzung der sozialen Frage.

1981-1990
Das jugoslawische Regime war 1981 schon am Rande des wirtschaftlichen Kollapses und besaß nun nicht mehr, wie noch 1968, die Ressourcen, um mit Hilfe einer selektiven materiellen Einbindung die Sozialbewegung in ihrer Feindlichkeit gegenüber dem Regime aufweichen zu können. Auch war die Massivität und Breite des Aufstands ein Zeichen dafür, daß es hier nicht mehr mit neuen Umverteilungsmodalitäten allein getan war, sondern eine soziale Revolution sich von ganz unten zu entwickeln drohte, deren Aspirationen durchaus auf andere Regionen überspringen konnten und einen nicht mehr zu stoppenden Flächenbrand revolutionärer Bewegungen aulösen könnten. Derart in der Klemme, einerseits der drohende ökonomische Kollaps und die Dringlichkeit einer Deregulierungsstrategie und auf der anderen Seite die Drohung einer sozialen Revolution, blieb dem Regime als letzte Option der Angriff auf die sozialen Strukturen des Kosovo. Der Aufstand bedrohte die Überlebensmöglichkeiten des Regimes und war daher nur als »Konterrevolution« wahrnehmbar.
Die erste Reaktion des Regimes war eine Säuberungswelle in der Partei und im Staatsapparat, »Differenzierung« genannt, die nicht nur Funktionäre traf, sondern ebenso hunderte einfacher Parteimitglieder ausschloß (Die Parteimitgliedschaft war, wie überall im Sozialismus, mit gewissen Privilegien, z.B. bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, verbunden).
Nach Säuberungen in den Fabriken verloren tausende AlbanerInnen ihren Arbeitsplatz. Investitionen flossen kaum noch in den Kosovo, und es begann ein Deindustrialisierungsprozeß, der von einer massiven Migrationsbewegung begleitet war(es wird geschätzt, daß in den 80ern ca. 200.000 AlbanerInnen und 40.000 SerbInnen den Kosovo verließen).
Die Gefangenen des Aufstands, zumeist junge Männer, wurden als Konterrevolutionäre zu extrem hohen Zuchthausstrafen verurteilt. Die Kriminalisierung der politischen und sozialen Opposition und ihre Verurteilung zu langjährigen Zuchthausstrafen bereits für kleinste »Vergehen« bzw. geplante und nicht ausgeführte »Delikte« (wie z.B. Flugblattverteilen und Parolenmalen) ist die einzige Form des administrativen Umgangs mit der sozialen und politischen Krise des Kosovo. Schon 1983 sind über 40% der politischen Gefangenen Jugoslawiens AlbanerInnen, und die meisten sind noch keine 25 Jahre alt.
Am einschneidensten aber ist die Ethnisierung des sozialen Konflikts. Sie ist die Klammer zwischen der sozioökonomischen Deklassierung und Entrechtung der AlbanerInnen und der serbischen Neuordnungspolitik, die ein bevölkerungspolitisches Programm durchsetzt, welches sich in den 90ern zum drohenden Genozid an den AlbanerInnen zuspitzen soll.
Unmittelbar nach der Liquidierung des Aufstandes setzte in sämtlichen serbischen Medien eine gezielte Kampagne gegen die AlbanerInnen des Kosovo ein. Im Mittelpunkt steht dabei der angebliche Genozid an den Serben im Kosovo, d.h. das reale Faktum der Abwanderung von Serben aus dem Kosovo während der bis 1981 laufenden Modernisierungsperiode wird dahingehend umgedeutet, daß die Serben im Kosovo von den Albanern gedemütigt, beleidigt, verfolgt und von Vertreibung und Vernichtung bedroht würden. Tatsächlich ist es die mediale Inszenierung einer serbischen Opfergemeinschaft, die mithilfe der Kolportage von Vergewaltigungen serbischer Frauen, der Schändung serbischer Kirchen und Friedhöfe, des Abbrennens der Felder serbischer Bauern etc. durch »die Albaner« einen Vernichtungsangriff auf die geistige, kulturelle und materielle Identität »der Serben« suggeriert, der einem Genozid gleichkomme.
Für die nationalistischen Serben war der Kosovo seit eh und je serbisches Kernland (die serbische Bezeichnung für den Kosovo, die bis 1968 und seit 1989 wieder die offizielle ist, ist »Kosovo-Metohija«. Metohija leitet sich ab vom griechischen Begriff »metoh«, der soviel wie »Kirchengut« bedeutet. Kirchen und Klöster sind im Kosovo im wesentlichen Stiftungen der serbischen Könige aus dem 13. und 14. Jahrhundert. Es ist einleuchtend, daß dieser Begriff von den Albanern abgelehnt wird, zumal die Bedeutung der Kirche für die Albaner im wesentlichen in der Opposition gegen das kommunistische Regime bestand. Wichtig für den serbischen Nationalismus ist sicherlich auch die Revitalisierung des Mythos der Schlacht vom Amselfeld, welcher geradezu klassisch die Inszenierung einer Opfergemeinschaft als Identitätsstiftung darstellt.). Die Kosovo-Problematik nimmt nun auch im Memorandum der »Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste«, welches als programmatisches Grundsatzprogramm des serbischen Nationalismus gilt, eine herausragende Bedeutung ein. Damit kündigt sich an, was kurze Zeit später im Kosovo bittere Realität werden sollte: Der Beginn der projektierten Liquidierung der Kosovo-Frage. Ein Jahr nach Veröffentlichung des Memorandums, auf dem Höhepunkt der sozialen Krise Jugoslawiens und dem endgültigen Scheitern der Modernisiererfraktion der Jugoperestroika, übernimmt eben jener nationalistische Flügel um Milosevic die Parteiführung.
Schon vor der Machtübernahme im September 1987 demonstriert Milosevic, welche neue Qualität der serbische Nationalismus in den nächsten Jahren erreichen wird: Im Mai 1987 kommt es in Kosovo Polje, einem mehrheitlich von Serben bewohnten Ort in der Nähe von Pristina, zum ersten organisierten nationalistischen Massenmeeting, einem »mitinsi« der Serben gegen ihre »gewaltsame Vertreibung« aus dem Kosovo.
Die nationalistischen Massenmeetings der Serben im Kosovo hatten ihre Funktion in der populistischen Flankierung der Serbisierungspolitik der Milosevic-Fraktion. Die Angriffe auf die ökonomischen, politischen und kulturellen Überlebensmöglichkeiten der AlbanerInnen verwandelten sich im Konzert von administrativer Serbisierungspolitik, ökonomischem Aushungern, nationalistischen Massenmeetings und anti-albanischen Pogromen zu einer vollständigen Einkreisung, die jetzt auch mehr und mehr dem Nationalismus bei den Albaner, als ideologischer Restgröße des Anspruchs auf Überleben, zur Durchsetzung verhalf. Nur aus diesem Zusammenhang ist es zu verstehen, daß die Initialzündung des erneuten Aufbegehrens der AlbanerInnen die Serbisierung der KP-Führung des Kosovo war, gegen die sie noch 1981 gekämpft hatten.
Aus Protest gegen die Ablösung der albanischen KP-Führer Jashari und Vllasi brachen am Morgen des 17.11.1988 ca. 3000 Bergarbeiter des Bergwerks »Stari Trg« zu einem Protestzug, dem »Marsch des Zorns«, ins 52 km entfernte Pristina auf. Im Laufe des Tages schlossen sich immer mehr Menschen dem Zug an. Die Stimmung wurde immer brisanter und konnte auch nicht durch das Auftreten von Vllasi beruhigt werden. Aus allen Teilen des Landes kamen immer mehr Menschen nach Pristina, und am nächsten Tag waren es schon 70.000. Am 19.11. demonstrierten schließlich 250.000 Menschen in Pristina für das Selbstbestimmungsrecht der Kosovo-Albaner. Erst als die Parteiführung zusagte, die Absetzung der beiden Politiker erneut zu »prüfen«, löste sich die Demonstration wieder auf.
Die Serbisierungspolitik ging jedoch unverändert weiter ebenso wie der ökonomische und repressive Druck auf die AlbanerInnen, und in der Folgezeit kam es immer wieder zu kleineren Streiks und Demonstrationen im gesamten Kosovo.
Als nun Rahman Morina, der »Lakai Belgrads«, zum neuen Parteichef des Kosovo bestimmt wurde, eskalierte die Stimmung aufs Neue. Am 20.2.1989 weigerten sich 1300 Bergleute von »Stari Trg« aus Protest gegen die Serbisierungspolitik, die Untertageschächte zu verlassen. Die Welle der Solidaritätsstreiks erfaßte zunächst fast alle Bergleute des Kosovo, und am 23.2. befand sich der gesamte Kosovo in einem nicht erklärten Generalstreik, dem sich auch mehr und mehr die lokalen Partei- und Verwaltungsinstitutionen anschlossen. Die Sicherheitskräfte hielten sich total zurück, während das Staatspräsidium mit der Einführung des Ausnahmezustands drohte. Schließlich begab sich Azem Vllasi zu den Bergleuten und versuchte sie zum Abbruch des Streiks zu bewegen. Dies gelang aber erst, als Morina zurückgetreten war.
Noch während der Generalstreik lief, wurde am 23.2. in Belgrad die Verfassungsänderung beschlossen, die die Autonomie des Kosovo aufhob.
Als das Provinzparlament des Kosovo am 23.3. die Verfassungsänderung annahm, eskalierte der Konflikt endgültig. Es kam zu tagelangen militanten Auseinandersetzungen, und erstmals wurde von Seiten der Demonstranten zurückgeschossen. »Sondermaßnahmen«, d.h. der erste Schritt zur Einführung des Ausnahmezustands, und die paramilitärische Unterdrückung des Aufstands führten zu massiven Verhaftungswellen, und tausende wurden in Schnellverfahren zu Haftstrafen verurteilt. Allein 1032 Arbeiter aus Urosevac wurden verurteilt, weil sie nach Einführung der »Sondermaßnahmen« nicht zur Arbeit erschienen waren. Mindestens 2oo Menschen wurden getötet.
Die Serbisierung aber ging weiter ebenso wie die Massenmeetings, die gerade jetzt auch immer größer wurden: Allein am 28.6.1989, dem 6oo. Jahrestag der Schlacht auf dem Amselfeld, mobilisierten die serbischen Nationalisten 1 Million Menschen.
Ende Januar 1990 kam es bei einem Sonderparteitag des BdJK, dem letzten gemeinsamen in der Geschichte Jugoslawiens, zur Ablehnung aller Liberalisierungsforderungen, u.a. derjenigen, die die Situation im Kosovo entschärfen sollten. Im Kosovo setzte daraufhin eine erneute Streikwelle ein, die das ganze Land erfaßte. Der sich anschließende Aufstand konnte erst nach Tagen heftigster Auseinandersetzungen von den paramilitärischen Polizeieinheiten zerschlagen werden. Erstmals wurde zur Unterstützung der Polizei die JNA aufgefahren, ohne jedoch vorerst direkt in die Kämpfe einzugreifen. Ab Anfang Februar übernahm aber das Militär sukzessive die Verwaltung des Kosovo, und am 2.6. kam es, nach der Absetzung des Provinzparlaments, zur Einsetzung eines serbischen Ausnahmeregimes im Kosovo. Die Militärdiktatur war damit auch de jure eingeführt.
Als erstes wurde die Reisefreiheit der AlbanerInnen innerhalb des Kosovo eingeschränkt sowie den außerhalb des Kosovo arbeitenden AlbanerInnen die Rückreise zu ihren Familien verboten. Der Streik hielt jedoch weiter an und konnte erst unter den Bedingungen des Ausnahmeregimes langsam zerschlagen werden.
Die Systematik der Unterdrückung der AlbanerInnen nahm unter dem Kriegsrecht die Form des strukturiert geplanten drohenden Genozid an. Sämtliche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens im Kosovo wurden einer ethnischen Säuberung unterzogen. Schulen, Betriebe, Kleingewerbe, Gesundheitswesen, Wohnungssektor...., überall wurden die AlbanerInnen per Gesetz oder direkt gewalttätig »herausgesäubert« und durch SerbInnen ersetzt, die zumeist direkt aus dem »Engeren Serbien« umgesiedelt wurden. Die Energieversorgung, das ökonomische Herzstück des Kosovo, wurde umgehend unter direkte Militärverwaltung gestellt: Damit war erstmals ein Organ der Arbeiterselbstverwaltung in einem großen Betrieb militärisch weggeputscht. Aber nicht allein im städtischen und industriellen Sektor wurde ethnisch gesäubert. Auch auf dem Land wurden die AlbanerInnen von ihren Höfen vertrieben und durch serbische Neusiedler ersetzt. Dies erfüllte gleichzeitig den Zweck der Rationalisierung der Landwirtschaft, indem der personelle Besatz gesenkt und der technologische erhöht wurde.

Vertreibung
Den AlbanerInnen blieb nichts als die Verteidigung ihrer nackten Existenz und die Flucht. Der Krieg im Kosovo ist entgegen den Beschönigungen in Presse und Politik längst im Gange, ein Ende nicht abzusehen und damit auch nicht das Ende der Umsiedlungen und der ethnischen Säuberungen, d.h. der Vernichtung und Vertreibung der AlbanerInnen. Es kommt zwar ständig und überall im Kosovo zu mehr und mehr auch bewaffneten Auseinandersetzungen, angesichts der militärischen Lage erscheint dies momentan aber aussichtslos. Wieviele AlbanerInnen im Kosovo noch leben und wieviele schließlich überleben werden ist nicht voraussehbar.
Der drohende Genozid an den AlbanerInnen hat ganz sicherlich zu einer Verfestigung des Nationalismus bei ihnen geführt und die radikalen Nationalisten um Cosja gestärkt, was auch im Interesse des serbischen Regimes ist, lassen sich doch nationalistische Eliten besser funktionalisieren als soziale Ansprüche einer »überflüssigen« Bevölkerung. Allein die Dimension der Flucht und das Fehlen einer bewaffneten nationalen Befreiungsbewegung weisen darauf hin, daß die sozialen Aspirationen noch nicht komplett das Opfer nationaler Selbstvergessenheit geworden sind. Noch immer scheinen das Überleben und die Emanzipation der Menschen das Hauptmotiv der Kämpfe der AlbanerInnen zu sein und nicht die Opferbereitschaft für eine mythisch bestimmte nationale Befreiung des Landes.


II. Serbien
Anders als der Prozeß der Zwangsethnisierung der AlbanerInnen des Kosovo, in dem diese auf den Status einer trikontinentalen »Überschußbevölkerung« reduziert und ihrer Überlebensmöglichkeiten beraubt werden (Ethnisierung als Bestandteil eines bevölkerungspolitischen Programms von »Oben«), ist die Entwicklung des Nationalismus in Serbien ein korporatistisches Konzept der Transformation sozialer Aspirationen von »Unten« in einem Modernisierungsprozeß, der als Prozeß von »Oben« nur unzulänglich beschrieben ist und in dem wesentlich die »freiwillige« und auch die »unfreiwillige« Selbstethnisierung einen Teilhabeanspruch von »Unten« formuliert, der nun innerhalb einer serbischen »Volksgemeinschaft« direkt aus der Partizipation , d.h., der Verbindung von Raub- und Vernichtungsstrategie mit den sozialen Aspirationen, an der Durchsetzung der serbischen Okkupations- und Vertreibungspolitik seinen Anteil vom Kuchen einlösen will. Der Ethnisierungsprozeß in Serbien mündet direkt in ein Modernisierungsprojekt, welches die spezifischen Bedingungen des Scheiterns des jugoslawischen Entwicklungsmodells in Serbien aufnimmt und in ein geradezu klassisches faschistisches Projekt überführt. Die Spezifik dieser serbischen Entwicklung liegt in dem rapiden und unvollkommenen Prozeß der Transformation einer überwiegend agrarischen Gesellschaftlichkeit in eine moderne industrielle Arbeitsgesellschaft. Zusätzlichen Anschub erhält der neue serbische Nationalismus dadurch, daß neben dem »engeren Serbien« zwei autonome Regionen, die Vojvodina und der Kosovo, Bestandteil der Republik Serbien sind. Diese liegen nun auch im ersten Zugriff der serbischen Neuordnungspolitik, und der jeweilige spezifische Zugriff dokumentiert gleichzeitig die beiden Entwicklungspole des serbischen Nationalismus.

Deagrarisierug
Noch nach dem 2.Weltkrieg war Serbien mit einem Anteil von 70% Agrarbevölkerung ein wenig industrialisiertes Agrarland. DIe nachholende Entwicklung führte zu einer Mobilisierung der Landbevölkerung, die in eine rapide und unkoordinierte Verstädterung mündete. Bei einem 30%igen Zuwachs der Gesamtbevölkerung leben aber immer noch über 30% der Serben auf dem Land und verdienen ihren Lebensunterhalt im Agrarsektor. Die Abwendung von der Landwirtschaft betrifft v.a. die junge Generation und erfaßt sowohl die unfruchtbaren Bergregionen als auch die fruchtbaren Beckenregionen. Als erstes wanderten junge Männer aus den fruchtbaren Regionen in infrastruktureller Nähe zu den Städten und neuen Industriezonen in die Städte, v.a. nach Belgrad. Die mittleren Jahrgänge und die jungen Frauen schloßen sich an, und als nächstes folgte die Migration aus den Bergregionen. Diese wanderten aber zunächst nicht in die Städte, sondern im ersten Schritt vorzugsweise in die Beckenregionen, wodurch der hier durch die Migration der ansäßigen aktiven Bevölkerung in die Städte entstandene Abwanderungsverlust zusätzlich zum generativen Bevölkerungswachstum ausgeglichen werden konnte. Die Bergregionen werden entvölkert, und in der Regel bestehen die Dörfer nur noch aus Restfamilien, ohne erwachsene Kinder und Männer oder gar nur noch aus alten Menschen, sofern überhaupt noch jemand dort lebt. Die Landwirtschaft in den Ebenen wird hauptsächlich von privaten Kleinbauern betrieben, Agrokombinate gibt es kaum. Der Bevölkerungsaustausch bewirkte aber insgesamt ein Aufbrechen der traditionellen, entwicklungsfeindlichen Gesellschaftlichkeit der Bevölkerung der Beckenregionen und führte zu einer wachsenden Marktorientierung der Landwirtschaft und auch zu einer langsamen Intensivierung der Agrarproduktion.
Gesamtgesellschaftlich kam es aber durch den Modernisierungsprozeß und den damit einhergehenden besseren Informationsfluß zur Ausbreitung und Ausbildung neuer, am urbanen Zuschnitt orientierter Wertvorstellungen auf dem Land, die eine Sogwirkung besonders auf die aktiven Teile der ländlichen und kleinstädtischen Bevölkerung in die großen Städte ausübten, die ursächlich aus der Unzufriedenheit und Beschwerlichkeit im ländlichen Herkunftsbereich resultiert und getragen wird von der Hoffnung auf ein besseres Leben, ohne die Plackerei in der Landwirtschaft und der Eintönigkeit des ländlichen Lebens. Diese optimistische Einschätzung der großstädtischen Sphäre kontrastiert aber scharf mit den tatsächlich vorgefundenen Existenzbedingungen und -möglichkeiten in den Städten.

Industrialisierung
Die Industrialisierung verlief, nach der politischen Vorgabe der Umwandlung der Agrargesellschaft in eine sozialistische Industriegesellschaft, im wesentlichen initiiert über die Errichtung von Großunternehmen oder zumindest mittelgroßen Betrieben v.a. der Grundstoff- und Investitionsgüterindustrie an allen zentralen Punkten der Beckenregion. Die Standorte sind aber in der Regel so weit voneinander entfernt, daß es trotz eines relativ starken Industriebesatzes nirgendwo zu Verdichtungen oder gar Ballungen kommt. Der Inselcharakter wird noch dadurch gestärkt, daß selbst dort, wo einzelne Branchen eine herausragende Bedeutung besitzen, die industrielle Ausstattung meist relativ breit über viele Branchen gestreut ist und ein Verbund unter den Zentren relativ unterentwickelt ist. Das Wachstum dieser zentralen Orte war und ist rapide, und die durch die Migration induzierte durchschnittliche Verdreifachung der Einwohnerzahl der Städte seit Kriegsende führte dazu, daß der Anteil der Zugezogenen heute überall den Anteil der autochthonen Einwohnerschaft übersteigt. Zentrale Orte im Sinne einer Urbanisierung, d.h. der Ausweitung städtischer Verhaltensweisen auf das Land, sind sie allerdings nicht. Die Städte funktionieren hauptsächlich als in sich geschlossene Sozialräume, und es gibt nur einen sehr begrenzten, äußerlich bleibenden, unstrukturierten Kontakt und Impuls zum Umland: Stadt und Land existieren nebeneinander und sind nicht funktional aufeinander bezogen.
Der enorme Bevölkerungszuwachs führte dazu, daß weder ausreichend Wohnraum noch genügend Arbeitsplätze in den Städten zur Verfügung stand. Dies führte zu einer starken Überbelegung des begrenzten Wohnraums (bis zu drei Generationen in einer 3-Zimmer-Wohnung) sowie zum Wildwuchs der Stadtentwicklung, der v.a. im Zentrum und den Randzonen bemerkbar ist. Während die Stadtzentren zu Dienstleistungszentren modernisiert wurden, verblieb der innerstädtische Wohnbereich am Rande der Zentren unverändert. Am Stadtrand entstanden die bekannten Betonsiedlungen, und ihnen vorgelagert umschließt die Städte ein Kranz illegaler, in Eigenarbeit gebauter Behelfsbauten, in denen oftmals über 10% der Stadtbevölkerung leben. Andererseits führt das nicht ausreichende Arbeitsplatzangebot zur Sichtbarwerdung der vormals verdeckten ländlichen Arbeitslosigkeit, und dies wird damit zu einem gravierenden sozialen Problem.

Belgrad
»Aus Sehnsucht nach der Stadt, eher aber wohl aus Verzweiflung, strömen in diesem Augenblick ganze lokale `Völkerwanderungen' in die großen - reichen, weniger reichen und armen - städtischen Siedlungsräume. Jede dieser `Wanderungen' scheint mir demographisch folgenreicher zu sein als jene, die in protogriechischen Zeiten, in den sogenannten `dunklen Jahrhunderten', die Achäer bis nach Kleinasien vordringen ließen. Aber schon in allernächster Zukunft werden diese `Völkerwanderungen', noch immer verdeckt und unsichtbar, größer und gewaltiger sein als jene Wanderung, die, zwei Millennien nach der Zerstörung Trojas, Rom vernichtete und die mediterrane Welt ins Chaos stürzte...
Es ist freilich wenig wahrscheinlich, daß die Menschenmassen, die jetzt in die Städte strömen, diese Städte anzünden und in Ruinen verwandeln werden. Und doch, die Bevölkerungsimplosion zerstört die Städte oder trägt doch zumindest zu ihrer Selbstzerstörung bei: Die Städte wuchern in anormale, bösartige Dimensionen aus; vor uns liegt eine schon weithin sichtbare oder zumindest ganz leicht vorstellbare Welt aufgeblähter, fiebernder Städte, ein unumkehrbar vergiftetes architektonisches Magma in ständigem Verfall, in zeitweiliger Erneuerung, eine ganze Welt eingezwängt in einen aschgrauen Betonpanzer! Aber das ist nur der Anfang, nicht das Ende des Prozesses.« (Bogdan Bogdanovic, ehemaliger Bürgermeister von Belgrad)

Die Wirkungen, die der Industrialisierungsprozeß auf die Modernisierung der Gesellschaftsstruktur Serbiens ausübte, waren begrenzter Natur. Die Industrialisierung blieb merkwürdig lokal zentriert und wirkte nicht als Impuls einer Verbreiterung moderner Verhaltensmodi. Die damit einhergehende rapide Verstädterung führte nicht zur Urbanisierung der Gesellschaft - Stadt und Land blieben wesentlich voneinander getrennt. Die Zerstörungskraft, die der Modernisierungsprozeß auf die traditionelle Gesellschaftlichkeit ausübte, war zwar enorm, die begrenzten und zeitweise bewußt begrenzt gehaltenen Integrationskapazitäten des modernen Sektors verhinderten aber die Herausbildung einer modernen produktiven Gesellschaftlichkeit. Stattdessen entwickelte sich eine Gemengelage von Verhaltensweisen und gesellschaftlichen Verhaltensmodi, die eine Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit beinhalten und einen stetigen, blockierten Transformationsprozeß zwischen Tradition und Moderne darstellen. Am Beispiel Belgrads soll dies nun im folgenden exemplarisch expliziert werden.
Die Bevölkerungszahl von Belgrad hat sich seit dem Ende des 2. Weltkriegs von 300.000 auf heute ca. 1,6 Mio erhöht. V.a. ist dies Resultat von Zuwanderungsgewinnen durch den rapiden Ausbau der Industrie und durch den Reiz, den Belgrad als Hauptstadt ausübt. Das Areal der Stadt hat sich im gleichen Zeitraum mehr als verdoppelt. Seit 1977 übertrifft die Zahl der industriellen Arbeitsplätze diejenige Zagrebs und ist damit die höchste in Jugoslawien. Jedoch sind nur etwa 20% der Beschäftigten Belgrads in der Industrie tätig und weitere 20% in der Bauwirtschaft, so daß Belgrad nur schlecht als Industriestadt charakterisiert ist. Daß Belgrad, v.a. im industrialisierten und urbanen Norden, abwertend als »großes Dorf« oder »das Dorf« bezeichnet wird, ist aber v.a. der Ausdruck der soziokulturellen Entwicklungsdifferenz, der Spezifik der Herausbildung von Gesellschaftlichkeit in Serbien und speziell in Belgrad im Zuge des durch Industrialisierung und Migration in Gang gesetzten Transformationsprozesses, im Gegensatz zu der im Norden.
Die Migration nach Belgrad verläuft einerseits in Etappen und andererseits als direkter Zuzug vom Land. In der Regel sind es Einzelpersonen, v.a. Männer, die ihre Familien, soweit vorhanden, oft erst nach Jahren nachkommen lassen. Und doch ist der Migrationsprozeß keine Individualangelegenheit, sondern vollzieht sich als Kettenmigration, in deren Verlauf sich regelrechte Communitystrukturen in Belgrad herausgebildet haben. Meist kommen die neuen Migranten zunächst bei Verwandten und Nachbarn aus ihrem Herkunftsort unter, die vor ihnen nach Belgrad migriert sind. Hier erfahren sie sowohl in materieller als auch in psychosozialer Hinsicht erste Hilfen, um sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden.
Da das Ausmaß der Zuwanderung den Bestand an zur Verfügung stehenden industriellen Arbeitsplätzen bei weitem übersteigt und die Zuwanderer zumeist unqualifiziert sind, gestaltet sich die Suche nach einem Arbeitsplatz als ungemein schwer, und in der Regel müssen sie sich die erste Zeit, die oftmals Jahre dauern kann, mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser halten.
Noch schwieriger ist allerdings die Suche nach geeignetem Wohnraum. Sofern sie nicht bei Bekannten oder Verwandten unterkommen, sind sie gezwungen, in Notunterkünften oder sogenannten Kolonien, d.h. Barackenlagern, unterzukommen, oder sie müssen auf die umliegenden Dörfer ausweichen. Da es auf dem privaten Wohnungsmarkt in Belgrad keine Preisbindungen gibt, sind diese Wohnungen für Zuwanderer unerschwinglich; eine kommunale Wohnung zugewiesen zu bekommen dauert Jahre und kommt somit auch nicht in Betracht. Die einzige »realistische« Möglichkeit, legal an Wohnraum zu kommen, der nicht in abbruchreifem Zustand ist, ist eine Werkswohnung zu bekommen, wozu allerdings eine Festanstellung im jeweiligen Betrieb erforderlich ist. Und auch bei einer Festanstellung ist die Wartezeit auf eine solche Wohnung immer noch sehr lang, da deren Vergabe nach Maßgabe der Werkszugehörigkeit und der Qualifikation erfolgt.
Aufgrunddessen sind die ersten Jahre in Belgrad für die Migranten von Interimslösungen geprägt, und es dauert lange, bis der gewünschte bzw. benötigte Wohnraum gefunden wird. Der Migrationsprozeß ist also in der Regel nicht mit der Ankunft in Belgrad abgeschlossen, sondern verlängert sich hier als innerstädtische Mobilität, die in Belgrad enorm ausgeprägt ist.
Die reale materielle Situation vieler Migranten in Belgrad ist also keineswegs besser als auf dem Land. Die Unsicherheit und Instabilität des städtischen Lebens führt nun dazu, daß die Verbindungen zum Land bzw. zum Herkunftsort außerordentlich stark bleiben und sich diese materielle und soziokulturelle Rückbezüglichkeit auch ins städtische Leben transformiert. So ist die Verbindung zum angestammten Dorf und den zurückgebliebenen Familienmitgliedern noch Jahre nach dem Wegzug geprägt von häufigen Besuchen im Urlaub, zur Ernte, etc., verbunden einerseits mit Konsumgeschenken und andererseits mit Nahrungsmittelzuwendungen. Zurückgelassener Grundbesitz wird im Dorf verbleibenden Familienmitgliedern zur Nutzung überlassen oder, wo diese nicht vorhanden sind, für einen bestimmten Anteil an der Ernte verpachtet, aber selten verkauft.
Die starke Verbindung zum Land und der kontinuierliche Austausch führen dazu, daß sich trotz fortschreitender Eingliederung ins städtisch-industrielle Leben der Akkulturationsprozeß vieler MigrantInnen verzögert und sie sich eher als eine Art urbane Erweiterung der ländlichen Familie, gewissermaßen als deren städtischen Außenposten, empfinden. Die Migration erscheint somit häufig eher als räumliche und berufliche Veränderung mit der Herausbildung einer im Transformationsprozeß steckengebliebenen intermediären Stadt-Land-Identität denn als abgeschlossener soziokultureller Standortwechsel im Sinne der Herausbildung einer urbanen Identität.
Dieses gebrochene Hereindrängen des »Dorfes« kennzeichnet nun wesentlich weite Bereiche des gesellschaftlichen Lebens in Belgrad. Zum einen durch die schon eingangs erwähnte Herausbildung von Migrantencommunities: Für die Aufnahme sozialer Kontakte ist, neben dem Arbeitsplatz und dem Wohnort, v.a. die Herkunft aus demselben Dorf oder derselben Region maßgeblich, wobei dem zugute kommt, daß die Herkunftsgebiete der Neubelgrader fast ausschließlich im »Engeren Serbien« oder den serbischen Enklaven in anderen Republiken liegen. Zum anderen ist es das Hereintragen traditioneller ländlicher Verhaltensmodi, die am offensichtlichsten in den traditionellen Hochzeitsfesten und der »Slava«, einem Fest zum Namenstag des »Hausheiligen«, deutlich werden. Eine Transformation, nicht aber die Aufgabe der ländlichen Traditionen findet in dem Maße statt, wie diese Traditionen mit den Anforderungen der Moderne konfrontiert werden, wie das Beispiel des »Totenkults« zeigt: Während die Beerdigungszeremonie noch relativ traditionell, mit üppigem Leichenschmaus und bezahlten »Klageweibern«, abläuft, ist die Erlangung eines Begräbnisplatzes entsprechend der städtischen Platznot, die eben auch die Friedhöfe betrifft, äußerst schwierig. Da Gräber Mangelware sind und in der Regel alle verfügbaren Plätze vergeben sind, ist ein Begräbnisplatz oftmals nur durch ein Tauschgeschäft mit Verwandten oder Bekannten zu bekommen. Die Totenfeiern sind meist ein gesellschaftliches Ereignis, bei dem nicht nur die Verwandten, sondern Freunde, Nachbarn bis hin zu Arbeitskollegen und -kolleginnen teilnehmen. Nach 40 Tagen, 6 Monaten und nach 1 Jahr wird die Zeremonie nochmals, mit denselben Beteiligten, wiederholt. Entsprechend den materiellen Möglichkeiten werden die Gräber ausgestaltet, vom Holzkreuz bis hin zu den »vikendice«, kleinen Bungalows, die auf die Gräber gebaut werden und mit allerlei Gebrauchs- und Konsumgegenständen der Toten bestückt sind. Eine besondere Form der Totenehrung sind auch die »krajputasi«, Steinsäulen, die an Straßen und Wegen rund um Belgrad aufgestellt werden und mit gemeißelten Reliefs über Charakter, Beruf und die Todesart des Verstorbenen Auskunft geben sollen.
Ein weiteres Merkmal ist die relativ starre Trennung der Geschlechter, die oft selbst dann noch anhält, wenn die Frau einer Lohnarbeit nachgeht, und die auch weitgehend bei hoher beruflicher Qualifikation der Beteiligten andauert. So ist das Haus weitgehend der Bereich der Frau, auch um sich mit anderen Frauen zu treffen und auszutauschen, während die Männer in der Regel in Kneipen, mit anderen Männern zusammen, den öffentlichen Raum bestimmen.
Der unstrukturierte Zusammenprall von Tradition und Moderne zeigt sich nicht zuletzt auch in der städtebaulichen Physiognomie Belgrads und in dem Ausufern Belgrads in das Umland. Im Schatten moderner Hochhäuser finden sich nicht selten verslumte Altbauten mit Hinterhöfen und diversen Anbauten, die auf ihren Abriß warten und bis dahin zumeist von neuangekommenen Migranten bewohnt werden. Die Ausweitung der Wohnbebauung geht weit über die ursprünglichen Randbereiche hinaus, überrollt Dörfer und überformt sie zu semiruralen Inseln. Die ursprünglichen Bebauungslücken sind mittlerweile durch ein Netz illegal errichteter Behelfsbauten verschwunden. Die Ausstrahlung Belgrads geht aber noch weit darüber hinaus, und die tägliche Pendelreichweite des Zustroms nach Belgrad reicht bis zu 70 km von Belgrad weg.

Die Durchsetzung des Nationalismus
Die geopolitische Sonderstellung, die es Jugoslawien bis dahin erlaubt hatte, die Unproduktivität der Gesellschaft durch eine steigende Außenverschuldung zu kompensieren, ist durch das Ende des Ost-West-Konflikts quasi »über Nacht« verschwunden. Der faktische Staatsbankrott Jugoslawiens machte eine Deregulierungspolitik im Konzert mit den internationalen Finanzinstitutionen zur Überlebensfrage des Regimes. Für Serbien, die am höchsten verschuldete Teilrepublik, gilt dies im besonderen Maße. Der Deregulierungsbedarf beschränkt sich bei weitem nicht nur auf den produktiven Bereich, sondern dessen Unproduktivität ist, wie wir oben gesehen haben, nur der ökonomische Ausdruck einer Unproduktivität der gesamten Gesellschaftsstruktur, die im Prozeß der Modernisierung in allen Bereichen der Gesellschaft zu einer Blockade der Inwertsetzungsstrategie geführt hat. Die Besonderheit Serbiens liegt nun aber darin, daß es das herausragende Machtzentrum des Landes ist und das serbische Regime aufgrunddessen bemüht ist, einen Weg zu finden, der einerseits dem Deregulierungsbedarf genügt und andererseits in der Lage ist, den Erosionsprozeß des politisch-ökonomischen Kommandos aufzuhalten.
Im Kosovo-Kapitel haben wir gesehen, daß der ökonomische Zusammenbruch und der Aufstand der Peripherie einen untrennbaren Zusammenhang bilden, der in den globalen Neuordnungsprozeß eingebettet ist. Die nationalistische Aufladung des sozioökonomischen Entwicklungsgefälles zwischen Serbien und dem Kosovo, der Teil der Republik Serbien ist, durch die medial inszenierte Konstruktion einer »zivilisatorischen Differenz«, die Revitalisierung des alten »Genozid-Traumas« der Serben sowie die Polemik einer nationalen Unterdrückung der Serben durch die Herauslösung der zwei autonomen Republiken Kosovo und Vojvodina aus dem »urserbischen« Anspruch sind vorerst nur die Begleitmusik der Umlenkung der Investitionen aus dem Kosovo zur Minderung des Deregulierungsdrucks in Serbien. Zugute kommt diesem Prozeß zum einen das historisch entwickelte spannungsgeladene Verhältnis zwischen Serbien und den AlbanerInnen und zum anderen die räumliche und soziale Separierung der albanischen MigrationsarbeiterInnen in Serbien, für die die Bezeichnung »Siptaren« allgemein ist - als Synonym für Drecks- und Gelegenheitsarbeit verrichtende Menschen, die in primitivsten Massenquartieren »hausen«. Deren Situation unterscheidet sich zwar nicht wesentlich von der vieler serbischer MigrantenInnen die neu in die Städte kommen, die jedoch ideologisch geschickt durch die anti-albanische Hetze der Nationalisten ein Gefühl vermittelt bekommen, tatsächlich zum modernen städtischen Bereich zu gehören und somit einen berechtigten Anspruch auf dessen erhoffte Vorteile zu haben, während die »rückständigen« und »unzivilisierten« »Eindringlinge« aus dem Kosovo als »Schmarotzer« erscheinen, die sich unberechtigterweise einen Anteil am serbischen Reichtum erschleichen. Daß diese Meinung sich umso stärker verallgemeinert je jünger die Menschen sind, stellt einen entscheidenden Anknüpfungspunkt des serbischen Nationalismus an die soziale Bewegung der Jugendlichen dar, die in besonderem Maße von Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot und dem Verlust von Lebensperspektiven im Krisenprozeß betroffen sind. Die mediale Aufarbeitung des 81er Aufstandes im Kosovo und die ausschließlich repressive Verarbeitung der sozialen Spannungen des Kosovo unterstützen diese Kolportage, indem sie eine »zivilisatorische Differenz« suggerieren und damit eine sukzessive Faschisierung der serbischen Gesellschaft und besonders der deklassierten oder von Deklassierung bedrohten Jugendlichen und Neumigranten befördern.

[...]


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Die Ethnisierung des Sozialen

Die Transformation der jugoslawischen Gesellschaft im Medium des Krieges

Teil IV - Nationalismus und Ethnisierung


Verlag der Buchläden Schwarze Risse - Rote Strasse
Berlin Göttingen 1993
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Vorwort
Jugoslawien im Kontext des ost- und südosteuropäischen Umbruchs
Bemerkungen zur Kampfgeschichte der moralischen Ökonomie
Zur Kampfsituation 1987
Nationalismus und Ethnisierung
Krieg als Transformationsmechanismus
Die EG-Migrationspolitik und die Flüchtlinge aus Südosteuropa
Zur Rolle des Imperialismus in der jugoslawischen Krisen- und Kriegsdynamik
Anhang


[Anfang Nationalismus und Ethnisierung]

Dieser Prozeß vollzieht sich aber in den ersten Jahren zunächst eher untergründig, bedingt durch die »inneren« Hemmnisse, die der serbische Nationalismus auf gesamtjugoslawischer Ebene noch erfährt. Diese gegenseitige Blockade von Nationalisten und Anhängern der Jugoperestroika führt aber Anfang der 80er nur zu einer Aufweichung der Deregulierungsstrategie, die zwar eine Inflationierung der Einkommen in Gang setzt, darüber hinaus aber keine Mechanismen entwickelt, um die Einkommenskämpfe und den Niedergang der Arbeitsproduktivität zurückzudrängen, und somit eine »Morgendämmerung« der sozialen Kämpfe befördert, in der die nationalistische Aufladung zunächst peripher bleiben sollte.
In Serbien etablieren sich, bedingt durch die Politk der »harten Hand« in der Kosovo-Frage, die radikalen Nationalisten, die sich personell zusammensetzen sowohl aus nationalistisch gewendeten alten Regimekadern als auch aus der nationalistischen Opposition gegen das sozialistische Regime, als hegemoniale Kraft, und 1986 beginnen diese mit dem »Memorandum der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste« den Angriff auf die fragilen Machtstrukturen einzuläuten, und nur ein Jahr später haben sie alle entscheidenden Positionen des Regimes unter Kontrolle.
Das »Memorandum« ist im Kern der programmatische Entwurf eines »Großserbien«, und damit kündigt sich an, daß Jugoslawien in den bis dato bestehenden Strukturen keine Überlebenschancen mehr hat, denn nur »ein schwaches Serbien bedeutet ein starkes Jugoslawien«. Die »Lösung der Kosovo-Frage« als einer Überlebensfrage des gesamten serbischen Volkes, die Zurückdrängung der Arbeiterselbstverwaltung und die Revision der Verfassung von 1974 sollen die Stationen der Liquidierung der »slowenisch-kroatisch antiserbischen Koalition« sein, die das serbische Volk entrechte und sie zwinge, über mehrere Republiken verteilt zu leben, ihre geistigen und kulturellen »Wurzeln« einschränke, um damit letztlich die eigentliche unterdrückte Nation Jugoslawiens zu sein. Ein »Großserbien«, das alle serbischen Gebiete außerhalb der Republik Serbien mit umfaßt, unter Ausschaltung der Mitspracherechte anderer Nationalitäten erst würde die Gleichberechtigung Serbiens mit den anderen Republiken ermöglichen.
Was im »Memorandum« nicht ausgesprochen wird, ist damit aber zumindest theoretisch besiegelt, denn für die nationalistischen Serben sollte es nunmehr nur noch zwei Optionen der jugoslawischen Erneuerung geben: entweder Jugoslawien als ein »Großserbien« oder die Sezession.
Die Programmatik des »Memorandums« bestimmt nun weitgehend die politisch-strategische Vorgehensweise der serbischen Neuordnungspolitik. Damit wird aber auch deutlich, daß die eigentliche Problematik die soziale Situation im »Engeren Serbien« ist. Die soziale Krise, die im Verlauf des Transformationsprozesses nicht nur in eine Verwertungskrise mündete, sondern sich zu einer Krise der gesamten Gesellschaftlichkeit entwickelte und damit eine Hegemoniekrise der Macht selbst wurde, welche sich in einer Handlungsunfähigkeit bezüglich der produktiven Rekonstruktion von Gesellschaftlichkeit äußerte, verlangte nach einer konzentrischen Lösung, die die produktive Zerlegung der serbischen Gesellschaft in einem neuen Konzept der Hierarchisierung der Regionen sozial und materiell abfederte und einen neuen Korporatismus initiierte, der sich aus der aktiven Partizipation der Menschen an der Neuordnung ergeben sollte, um so zu einer sozial produktiven Rekonstruktion der gesellschaftlichen, politischen und militärischen Machtstrukturen zu gelangen. Dieser Prozeß verlief nun als Konzert von unterschiedlichen Aktivitäten, in denen der »Druck der Straße«, der zum Teil vom Regime selbst erzeugt wurde, und eine funktional bestimmte Integration oder Zerschlagung der sozialen und politischen Opposition konstruktiv verarbeitet und zum Motor der Rekonstruktion der Gesellschaftlichkeit gemacht wurde.
Dieser Prozeß läßt sich nun in drei Teile gliedern: 1. die nationalistische Mobilisierung der Massen zur Unterstützung der Serbisierung außerhalb des »Engeren Serbiens«, 2. die Integration und Ausschaltung der sozialen und politischen Opposition und 3. die Ethnisierungspolitik im Medium des Kriegs.

Die Massenmeetings und die »Strategie der Spannung«
Im Kosovo-Kapitel sind die nationalistischen Massenmeetings der Serben schon erwähnt. Sie hatten eine außerordentliche Mobilisierungskraft. Regelmäßig ließen sich Hunderttausende bis zu einer Million Menschen mobilisieren. Die Massenmeetings waren ursprünglich eine der Hauptbewegungsform der Einkommenskämpfe der autonomen ArbeiterInnenbewegung. Taktisch außerst geschickt verknüpfte das serbische Regime die Bewegungsform der Massenmeetings und die sozialen Einkommensforderungen mit einer nationalistischen Durchsetzungsperspektive, die darin bestand, die Vorstellungen und den Wunsch nach einem besseren Leben an die Vertreibung der Albaner zu koppeln, damit der Reichtum des Kosovo endlich wieder den Serben zugute komme, denen er historisch begründet zustehe.
Die Massenmeetings waren aber nur der herausragende Teil eines gesamten Szenarios und der medial inszenierte kollektive Bestätigungsmythos zur Legitimation der administrativen Entrechtung und Unterdrückung der AlbanerInnen, der anti-albanischen Pogrome und der Zunahme der alltäglichen gewalttätigen Angriffe auf die AlbanerInnen. Die Verteidigung der AlbanerInnen, die aufgrund dieser Bedingungen mehr und mehr zu direkten gewalttätigen Angriffen auf SerbInnen und einer Verfestigung des albanischen Nationalismus führte, bildet das beabsichtigte Komplement dieser Strategie und läßt diesen Prozeß als einen sich selbst perpetuierenden Circulus vitiosus erscheinen. Tatsächlich ist diese Konfliktualität aber beabsichtigter Bestandteil einer »Strategie der Spannung«, die im Kosovo erstmals angewandt wird und in Serbien direkt in die Partizipation der mobilisierten Massen am kriegsmäßig organisierten Vertreibungs- und Vernichtungsangriff auf die AlbanerInnen mündet.
Die Massenmeetings als Durchsetzungsinstrument der Serbisierung bleiben aber nicht auf den Kosovo beschränkt. Im Juli 1988 setzen sie sich in der Vojvodina fort, der agroindustriell organisierten »Kornkammer« Jugoslawiens, in der der Großteil des agrarischen Exports Jugoslawiens produziert wird, um im Oktober die Provinzregierung durch einen »Putsch der Straße« zu Fall zu bringen. In der Vojvodina setzt, ähnlich wie im Kosovo, sofort anschließend die Serbisierung der Gesellschaft ein, und ein Großteil der nichtserbischen Bevölkerung, fast 40% der Gesamtbevölkerung, wird zur Flucht gezwungen.
Produkt dieser »Strategie der Spannung« ist einerseits die Vertreibung hunderttausender NichtserbInnen, deren Wohnungen und Arbeitsplätze umgehend durch umgesiedelte SerbInnen aus dem »Engeren Serbien« besetzt werden. Andererseits mündet dies in eine Verstärkung sowohl des Nationalismus als auch der Identifikation mit dem Regime durch die zumindest partielle materielle Einlösung der Versprechen. Für das Regime eröffnen sich zudem durch die Umsiedlungen Rationalisierungs- und Modernisierungsmöglichkeiten besonders im agrarischen Sektor.
Eine weitere Variante der Massenmobilisierung beginnt im Oktober in Montenegro und bringt die dortige Republiksführung, wegen angeblich mangelnder Unterstützung Serbiens in der Kosovo-Frage, nach drei Monaten zu Fall und ersetzt sie durch eine serbienfreundliche.

Integration und Ausschaltung der Opposition
Die Verfestigung des Nationalismus durch die Integration der Massenbewegung in die serbische Expansionspolitik führte aber nicht automatisch zum Rückschlag in einen Korporatismus der die Bereinigung der sozialen Unwägbarkeiten im »Engeren Serbien« quasi im Vorübergehen vollziehen konnte. Oftmals sind es die gleichen Subjekte, v.a. die deklassierten und von Deklassierung bedrohten männlichen Jugendlichen und Neumigranten, die einerseits Träger des expansiven Nationalismus und andererseits Bestandteil der städtischen Sozialbewegung sind, die sich direkt gegen das Regime und die Deregulierung richtet.
Das Milosevic-Regime hatte nach der Erlangung der Macht Ende 87 und den anschließenden Säuberungen im Parteiapparat beständig und autoritär die Konfrontation mit den anderen Republiken als auch mit der Opposition in Serbien angeschoben. Der damit initiierte Zerfallsprozeß Jugoslawiens mündete in eine Verschärfung der ökonomischen Krise und ballte die ehedem latent explosive soziale Konfliktualität extrem zusammen. Die Ausschaltung selbst der nationalistischen serbischen Opposition, deren Programmatik sich nur um Nuancen von der der Milosevic-Fraktion unterschied, verhalf diesen und hier besonders der »Serbischen Erneuerungsbewegung« von Draskovic zu einer starken Mobilisierungsfähigkeit bei den am stärksten von der Krise betroffenen städtischen Bevölkerungssegmenten.
In der zweiten Märzwoche 1991 initiierte die »Serbische Erneuerungsbewegung« eine Demonstration in Belgrad gegen die Medienpolitik des Regimes, die sich zur größten Demonstration in Jugoslawien seit 1968 entwickeln sollte. Die »Serbische Erneuerungsbewegung« verlor aber rasch die Kontrolle über die Demo, und v.a. die deklassierten Jugendlichen verwandelten sie in eine Kampfdemonstration gegen das Regime. Bei der Zerschlagung durch die paramilitärischen Polizeieinheiten wurden mindestens zwei Menschen getötet. Daraufhin kam es zu Barrikadenkämpfen und Plünderungen in der Belgrader Altstadt. Die JNA fuhr mit Panzern auf, und die Miliz ging gegen die rioters vor und zerschlug die Unruhen. Zwei Tage dauerte der »nicht erklärte Ausnahmezustand«, und als das Militär endlich abzog, strömten die Menschen erneut auf die Straßen. Abermals wurde die Miliz eingesetzt.
Der Aufstand war damit zwar zunächst zerschlagen, verdeutlichte aber die Unfähigkeit des Regimes, die sozialen Spannungen nichtmilitärisch zu kontrollieren. Wie bedrohlich das Regime die Situation einschätzte, wird daran deutlich, daß die Führungsspitze die Verhängung des Ausnahmezustands in ganz Serbien diskutierte und der Generalstabschef der JNA gar für eine »militärische Lösung« plädierte. Das Regime aber ging einen anderen Weg.
Zum einen war es eine quasi militärische Lösung: Direkt nach dem Aufstand wurde eine kolportierte Aufstandsdrohung im Kosovo dazu benutzt, die jugendlichen Reservisten der JNA in den Kosovo zu mobilisieren. Dieser Mechanismus sollte auch weiterhin Bestandteil des repressiven Umgangs mit dem männlichen Teil der sozialen und politischen Opposition bleiben und nahm im Krieg die Form der drohenden physischen Vernichtung an, indem vorzugsweise Kriegsgegner, Aktivisten der ArbeiterInnenkämpfe und Angehörige von nationalen Minderheiten zu besonders gefährlichen Kampfeinsätzen an die Front geschickt wurden.
Die andere Seite war die Funktionalisierung der politischen Opposition durch das Regime. Die Verhaftung Draskovics während des 91er Aufstands erwieß sich dabei als besonders glücklich. Zum Märtyrer stilisiert, wurde er von den Medien zum wichtigsten Führer der Opposition und der »Unzufriedenen« aufgebaut. Während Tausende für seine Freilassung demonstrierten, verhandelte das Regime aber schon mit der Opposition, um diese an der Macht zu beteiligen. Der »Preis«, den die Opposition für diese Beteiligung zu zahlen hatte, bestand in einer »Politik der nationalen Versöhnung«, in der der Opposition die Aufgabe zukam, über eine Hegemonisierung der sozialen Bewegung dieser die Stoßkraft gegen das Regime zu nehmen und gleichzeitig Serbien international durch den Anschein der Liberalisierung des politischen Lebens aufzuwerten. Die Inszenierung des politischen Symbolismus der Opposition zeigte sich v.a. in der Hegemonisierung der verschiedenen Teile der Antikriegsbewegung und hatte ausschließlich ihre Einbindung in die Macht zum Ziel, die über ihre Kompetenz als Kontrollinstanz der sozialen Bewegung erreicht werden sollte. Diese »Zähmung« der Sozialbewegung verlief über die Initiierung einer ganzen Reihe riesiger Antikriegsdemonstrationen, bei denen am Ende selbst der amerikanische Botschafter mitlief und ihnen damit eine erstaunliche internationale Reputation verschaffte. Die Zersetzungskraft, die ihr Symbolismus im Inneren der Sozialbewegung entwickelte, zeigte sich aber spätestens am Jahrestag des 91er Aufstandes, an dem zwar eine Petition zum Rücktritt des Regimes von fast 600.000 Menschen unterschrieben wurde, die Demonstrationen aber klein blieben und fast nur noch StudentenInnen umfaßten.
Im Mai 1992 gründete sich die DEPOS als parteienübergreifendes Bündnis der sogenannten demokratischen Bewegung. Diese Bündelung der oppositionellen Kräfte scheint rückblickend ein entscheidender Pluspunkt auf Seiten des Regimes zu sein. Im Vertrauen auf ihre gewachsene Stärke versuchte die DEPOS einen stärkeren Konfrontationskurs mit dem Regime einzuschlagen und begann eine Demonstration zu organisieren, die ein Ausdruck dieser Stärke sein sollte. Milosevic hob daraufhin Cosic, einen alten Nationalisten, Mitverfasser des »Memorandums« und jetzigen DEPOS-Führer, ins Amt des Präsidenten der Bundesrepublik Jugoslawien. Nach dieser Integration in das Zentrum der Macht sagte die DEPOS die geplante Demonstration wieder ab, die daraufhin aber autonom weiterorganisiert wurde und die DEPOS zwang, die Organisation der Demo wieder an sich zu reißen. An der Demo nahmen schließlich 100.000 Menschen teil, und es folgten weitere Demos in ähnlicher Größenordnung, die allesamt den Rücktritt des Regimes verlangten. Am 8.7. werden schließlich in Belgrad wieder Barrikaden gebaut. Der Integrationskurs der DEPOS, der in der öffentlichen Verkündung Cosics gipfelte, nunmehr eine »Politik der nationalen Kompromisse« zu machen, hatten aber die Fronten gegen das Regime schon zu stark eruiert. Die Barrikaden wurden von den DemonstrantInnen wieder abgebaut, und das Militär brauchte nicht einzugreifen. Unmittelbar danach wurde unter Cosic ein neues Versammlungsgesetz beschlossen, das alle Ansammlungen von mehr als drei Menschen unter Strafe stellte.
Mit Panic, einem Kriegsgewinnler aus der Chemiebranche, stellten die sogenannten »gemäßigten« Nationalisten nun den Ministerpräsidenten, während die Milosevic-Fraktion, im Hintergrund die eigentlichen Fäden spinnend, sich in der Öffentlichkeit nicht mehr die Hände schmutzig machen mußte.
Die DEPOS verlor in diesem Prozeß immer mehr an öffentlichem Ansehen, und als ab Mitte 92 die ultranationalistische Radikale Partei den Konfrontationskurs zur DEPOS verschärfte, war die Unterstützung der DEPOS nur noch spärlich und ihre Demos blieben unbedeutend. Anläßlich des Rücktritts Panics kam es im Januar zwar nochmals zu starken Auseinandersetzungen auf der Straße, die DEPOS aber war überflüssig geworden und das Regime unterdrückte den Aufruhr innerhalb eines Tages, ohne daß sich die Opposition davon wieder erholen konnte.
Gerade die Bündelung der oppositionellen Kräfte, die sich in der DEPOS ausdrückte, und ihre Hereinnahme in die Regierungsverantwortung, war der entscheidende Vorteil, den das Regime bei der Zerschlagung der DEPOS hatte. Die Breite der DEPOS ermöglichte ihnen, in weite Bereiche der Opposition gegen das Regime vorzudringen und diese zu hegemonisieren und schließlich zu kontrollieren. Die Übernahme der Regierungsverantwortung aber führte dazu, daß sie den oppositionellen Schleier abnehmen und als offensichtlicher Teil des Regimes ihre Unglaubwürdigkeit selbst sichtbar machen mußten. Damit verlängerten sie aber ihre Depression in eine Depression der Sozialbewegung, nachdem sie diese vorher zerschlagen hatten.
Dies kontrastiert nun die kriegsmäßige Mobilisierung des männlichen Teils der Opposition, der entweder an der vordersten Front der Vernichtung ausgesetzt ist oder sich dem Militärdienst durch Flucht entzieht. Das gigantische Ausmaß der Desertationen in Serbien verdeutlicht auch den Aderlaß, den die Sozialbewegung verkraften mußte und der ihre Zähmung wahrscheinlich erst ermöglichte.

Ethnisierung im Krieg
Die Bedeutung und Breite der Ethnisierung im Medium des Kriegs wird im Beitrag über den Krieg als Transformationsprozeß gesondert beschrieben. Hier soll nur zusätzlich darauf hingewiesen werden, daß die serbische Okkupationspolitik gezielt mithilfe ethnischer Säuberungen Raum schafft um Umsiedlungen aus dem »Engeren Serbien« und die Ansiedlung der serbischen Kriegsflüchtlinge v.a. aus den »ethnisch gesäuberten« kroatischen und muslimischen Gebieten zu ermöglichen. Fast ausschließlich agrare Regionen sind das Ziel dieser Politik, und das Beispiel des Kosovo zeigt, daß mit den Umsiedlungen gleichzeitig eine Rationalisierung der Landwirtschaft in Richtung des Ausbaus der Agroindustrialisierung erreicht werden soll, wie überhaupt das fast vollständige Desinteresse der serbischen Eroberungspolitik an den industrialisierten Städten und Regionen wohl kaum »ethnisch« begründet werden kann, sondern darauf hinweist, daß möglicherweise gerade die Agroindustrialisierung der eroberten und ethnisch bereinigten Gebiete die Lösung des Migrationsdrucks sowie den Abbau der städtischen »Überbevölkerung« in einer neuen ethnisch homogenisierten und repatriarchalisierten Gesellschaftsordnung bewerkstelligen soll.

Perspektiven
Das Konzert dieser Maßnahmen konnte die soziale Konfliktualität zwar begrenzen, nicht aber zähmen, und die Angst des Regimes vor erneuten sozialen Eruptionen äußerte sich beispielsweise in der Einschränkung des öffentlichen Personenverkehrs in Belgrad mit dem Ziel, mögliche Massenansammlungen zu erschweren.
Der Krieg wirkte auch in Serbien als gigantisches Deregulierungsprojekt. Die Militarisierung der Gesellschaft und der kriegsökonomische Umbau zertrümmerten die Überlebensbastionen und -ressourcen der Bevölkerung, die sie sich selbst im Krisenangriff der 80er nicht hatten nehmen lassen, im Zeitraffer.
Nahezu 500.000 Kriegsflüchtlinge aus den umkämpften und ethnisch gesäuberten Gebieten leben mittlerweile zusätzlich zur eingesessenen Bevölkerung in Serbien, und es scheint sich zumindest in den Städten eine neue Konfliktlinie um die mehr und mehr begrenzten Überlebensressourcen abzuzeichnen zwischen der eingesessenen Bevölkerung, den Kriegsflüchtlingen und den immer noch v.a. nach Belgrad strömenden MigrantInnen aus den ländlichen Regionen des »Engeren Serbien«.
Das Regime versucht durch Umsiedlungen in die serbisch okkupierten und ethnisch gesäuberten Gebiete einen Teil dieser städtischen »Überbevölkerung« abzuschmelzen, und es ist zu erwarten, daß sich dies noch weiter steigern solle um den Druck, der besonders auf Belgrad durch die gewaltige »Überbevölkerung« liegt, die einem funktionalen und produktiven Umbau der Städte im Wege steht, durch eine Reagrarisierung einer großen Anzahl der jetzigen städtischen Bevölkerung zu mindern. Daß damit gleichzeitig eine Ausbreitung der agroindustriellen Basis betrieben wird, ergibt sich aus den Erfahrungen der bisherigen Umsiedlungen.
Dies wäre zumindest die Logik der Okkupationen, der ethnischen Säuberungen sowie ein Schluß, der sich aus den Konstellationen des blockierten Transformationsprozesses in Serbien ergeben könnte.
Ob es allerdings die Logik der Umzusiedelnden sein wird, ist zu bezweifeln. Sie sind schließlich nicht ohne Grund in die Städte gezogen und werden voraussichtlich auch nicht freiwillig zurück aufs Land gehen. Aber womöglich wird das Modell der brasilianischen Triage-Stationen auch bald in Europa zu finden sein: Als Kontrollstellen der Landflucht in Serbien.
Der agroindustrielle Ausbau Serbiens und der eroberten Gebiete würde aber perspektivisch auch eine neue Kampffront zu den immer noch sehr traditionell agrarischen Dorfzusammenhängen besonders im »Engeren Serbien« eröffnen.
Als stabilisierend im Prozeß der immer rapideren Entwertung der Überlebensressourcen erweist sich einzig die Embargopolitik gegen Serbien, die eine äußerst wichtige Unterstützung des Regimes darstellt. Durch sie erscheint die erhoffte aber ausbleibende materielle Verbesserung der Subjekte als durch einen Angriff von Außen verschuldet. Damit wird die serbische Gesellschaft auf ein Neues als Opfergemeinschaft zusammengeschmiedet und dies allein scheint dem Regime noch die nötige Luft zum Atmen zu verschaffen.

III. Bosnien-Herzegowina
Ähnlich wie im Kosovo und in Serbien entspringen Ethnisierung und Nationalismus auch in Bosnien-Herzegowina direkt dem Krisen- und Kriegsverlauf und sind mit ihm stetig verbunden. Anders aber als in Serbien, wo die ethnische Homogenität im internen Krisenverlauf durch externe Faktoren und interne Prozesse in ein großserbisches, nationales Entwicklungsprojekt transformiert wird, und anders als im Kosovo, wo die Zwangsethnisierung die Konstitution einer neuen Pariaschicht und ihre produktive Vertreibung, im Sinne eben dieses serbischen Entwicklungsprojekts, ideologisch und materiell begleitet, beide Ethnisierungsprozesse also ihre Modernität im Rückgriff auf geradezu klassische »nationale« bzw. »ethnische« Differenzen und durch die Vitalisierung nationaler Mythen ideologisch absichern, gibt es diesen Prozeß der sinnkonstituierenden Rückbezüglichkeit als konstitutives Element der Ethnisierung in Bosnien-Herzegowina so gut wie gar nicht. Stattdessen verläuft die Ethnisierung hier direkt entlang den gewalttätigen, räuberischen Suchlinien im Findungsprozeß des serbischen und kroatischen Okkupationsprozesses, der eng an den Bedarf des jeweiligen Entwicklungsmodells angekoppelt ist. Auch historisch rückblickend gibt es keine kontinuierliche Linie der ethnisch-nationalistischen Separierung und Aufspaltung oder eine Kontinuität des Zusammenhangs von Serben und Kroaten in Bosnien-Herzegowina mit den jeweiligen Republiken bzw. Hauptsiedlungsgebieten. Einzig im NS gab es dies, als stark außengeleiteten, gewalttätigen und im Medium von Krieg und Befreiungskrieg prozessierenden, aber stark gebrochenen Differenzierungsprozeß. Die kulturelle und religiöse Unterschiedlichkeit erhob sich selten zu einer politischen Differenz, und im Zuge der Nachkriegsindustrialisierung Bosnien-Herzegowinas werden diese Unterschiede noch weiter nivelliert.



Rapide Verstädterung
Die Nachkriegsindustrialisierung Bosnien-Herzegowinas zentrierte sich fast ausscchließlich auf das zentralbosnische Becken um Sarajewo und Zenica, das einzige Gebiet Bosnien-Herzegowinas, in dem schon vor dem Krieg eine bescheidene Industrialisierung stattgefunden hatte. Entsprechend den riesigen Roh- und Energiestoffvorkommen entwickelte sich hier eine Schwerindustrie und eine darauf bezogene Sekundärindustrie, die das zentralbosnische Becken zu einer massiv konzentrierten Industrieregion mit starker Anziehungskraft auf die ländlichen Regionen machte.
1945 lebten noch ca. 80% der Bevölkerung von der Landwirtschaft, vor Ausbruch des Krieges waren es nur noch ca. 20%. Der Anteil der Stadtbevölkerung von ca. 40% der Gesamtbevölkerung verdeutlicht auch die enorme Ausstrahlung, die gerade die Industrialisierung des zentralbosnischen Beckens auf die umliegenden Regionen ausübte. Die Bevölkerungsdichte hat sich im Bereich des zentralbosnischen Beckens seit 1945 mehr als verdoppelt, und neben zahlreichen neugegründeten industriellen Retortenstädten explodierte in den industrialisierten alten Städten das Bevölkerungswachstum v.a. durch Zuwanderung. So hatte Sarajewo 1945 kaum 100.000 EinwohnerInnen, Ende 80 dagegen mit Randgemeinden fast 700.000; Zenica 1945 gerade 10.000 und Ende 80 fast 80.000 EinwohnerInnen. Das enorme Wachstum der Industriestädte führte dazu, daß sich die städtebauliche Physiognomie vollends veränderte. Mit Ausnahme von Sarajewo gab es keine Industriestadt im zentralbosnischen Becken, die noch mehr als Rudimente traditioneller Stadtarchitektur besaß. Der Anteil der Bevölkerung, der in den verslumten Außenrandsiedlungen der Städte wohnte, war hier noch größer als in Serbien.
Diese vollkommene Neubegründung der Städte war aber gerade hier nur der sichtbarste Ausdruck der soziokulturellen und sozioökonomischen Neubegründung von Gesellschaftlichkeit im Modernisierungsprozeß, deren wohl wichtigster Ausdruck der zunehmende Funktionsverlust der traditionellen Familienbeziehungen durch die Ausweitung der gesellschaftlichen Hausarbeit und die Veränderung der Rolle der Frau durch deren Integration in den industriellen Sektor, war. Die fehlende ethnische Differenzierung war hier die Regel und bei einem Großteil der StadtbewohnerInnen entwickelte sich eine Identität als »Stadtmensch«, die nicht mehr serbisch, kroatisch oder muslimisch, sondern für jugoslawische Verhältnisse kosmopolitisch war.

Industrialisierung
Ein weiterer wichtiger Punkt, der die nichtkriegerische Umwandlung sozialer Erwartungen in nationalistische Bewegungen im industrialisierten städtischen Bereich des zentralbosnischen Beckens verhinderte, scheint dem Umstand geschuldet zu sein, daß es hier, im Gegensatz zum Rest des ehemaligen Jugoslawien, nicht zu einer vollständigen Durchsetzung der Arbeiterselbstverwaltung kam, sondern daß sich gerade in den größten und modernsten Betrieben eine typisch kapitalistische Betriebshierachie durchgesetzt hatte.
Noch stärker als in Serbien entvölkerte die durch den Industrialisierungsprozeß ausgelöste »Revolution der Erwartungen« in Bosnien-Herzegowina den ländlichen Raum, der geprägt war von subsistenzwirtschaftlicher arbeitsintensiver Agrarwirtschaft im traditionell organisierten Großfamilienzusammenhang. Anders aber als in Serbien war die Industrialisierung hier massiv konzentriert auf einen zusammenhängenden Raum, und mit der Veränderung des siedlungsgeographischen Charakters des Raums verändern sich auch die sozioökonomischen Determinanten der Konstitution und Reproduktion von Gesellschaftlichkeit. Die totale Dominanz des industriellen Sektors, die sich im Migrationsprozeß verstärkende Abnabelung von den agrarischen Herkunftszusammenhängen, fügten sich zusammen zu einer Konstitution der Städte als Zentren von Massenarbeit, in denen die ethnischen Differenzen immer weitgehender nivelliert wurden. Die eigentliche Problematik der Städte war somit nicht die ethnische Differenzierung, sondern die massive Zuwanderung, für die weder ausreichend Einkommensmöglichkeiten noch genügend Wohnraum vorhanden war, die Auflösung der traditionellen ethnischen, religiösen und nationalen Bande und die Konstitution einer klassischen MassenarbeiterInnengesellschaftlichkeit der Städte.

Der Krieg gegen die Städte
Die Städte waren nun auch zu Beginn des Krieges die Orte, an denen sich sowohl der Widerstand gegen den Krieg manifestierte, als auch die Orte, in denen die Ethnisierung der Gesellschaft vorerst nicht gelingen sollte. Sämtliche Bestimmungsmerkmale des Gelingens der Ethnisierungstrategie im ehemaligen Jugoslawien waren hier nicht oder nur rudimentär ausgebildet: weder war die Arbeiterselbstverwaltung breit durchgesetzt und konnte somit auch nicht in ein nationalistisches Projekt übersetzt werden, noch gab es die Dominanz einer sich ethnisch definierenden Bevölkerungsgruppe. Die räumliche Konzentration der Ethnien war im Prozeß der rapiden Verstädterung weitgehend verschwunden, und eine Vielzahl sogenannter Mischehen machte die freiwillige Ethnisierung zur Absurdität. Genau dieser Zusammenhang bildet nun aber auch den Erklärungshintergrund, warum jede Stadt in Bosnien-Herzegowina einer Belagerungs- und Aushungerungspolitik ausgesetzt war oder noch ist: sie werden regelrecht ethnisch zurechtgeschossen. Und wichtig ist es zu wissen, daß die Belagerung einzelner Stadtteile zwar ethnisierend als Belagerung bspw. muslimischer Stadtteile bezeichnet wird, die Menschen, die dort wohnen, sich aber häufig nicht ethnisch definieren, und wenn doch, daraus keine Differenz ableiten und den Widerstand gegen die Belagerung sowie den Überlebenskampf dementsprechend gemeinsam organisieren.
Durch den Krieg gegen die Städte wird aber nun die Frage des Überlebens direkt an die Zugehörigkeit zu einer sich ethnisch definierenden Gruppe gekoppelt, und die Städte werden in ihrer bisherigen sozialen und sozialräumlichen Konstitution vollständig aufgelöst und neu zusammengesetzt. Ein Ziel dabei ist der Abbau der sogenannten städtischen Überbevölkerung. Hauptsächliche Opfer dieser kriegsmäßigen bevölkerungspolitischen Neuordnung sind die Muslime, die ca.40% der Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas ausmachen und nun innerhalb der ethnischen Neuordnung zur Überbevölkerung deklariert werden, durch die ethnischen Säuberungen aus ihren Wohnorten vertrieben, in Hungermärschen einem Ausleseprozeß unterworfen und durch das Land gehetzt werden, um schließlich in den belagerten muslimischen Städten und Gebieten, für die die Bezeichnung territoriale »Konzentrationslager« zutreffender ist als Schutzzonen, zu enden. Die Belagerung dieser Städte erfüllt nun nicht mehr den Zweck, die Bevölkerung zu mobilisieren, sondern sie gerade an der Mobilität zu hindern, um in faktischer Korrespondenz mit den spärlichen internationalen Hilfslieferungen den Ausleseprozeß weiter zu verlängern. Die Perspektive liegt dabei relativ eindeutig in der Zurichtung zur Weltmarktarbeitskraft in zu freien Produktionszonen transformierten und militärisch abgesicherten territorialen Arbeitslagern, die zudem , in Anlehnung an die Erfahrungen in Irak-Kurdistan, zum Versuchsfeld der sozialpolitischen Kompetenz von NGO`s werden.

Durchsetzung des Nationalismus
Der eigentliche soziale Ursprungsort der Ethnisierungspolitik in Bosnien-Herzegowina ist das Land. Mit Ausnahme der Beckenregionen, die sehr fruchtbar sind und im Laufe des Modernisierungsprozesses, ebenso wie die Industriestädte, Auffangbecken des Zustroms aus den übrigen agrarischen Regionen waren, ist das Land meist nicht sehr fruchtbar und wird in der Regel noch in traditioneller Weise bewirtschaftet. Vorherrschende Form ist der kleinbäuerliche Mehrgenerationenfamilienbetrieb mit starker subsistenzwirtschaftlicher Ausrichtung. Gerade im Umkreis der Industriestädte war die Landwirtschaft, bedingt durch die vorwiegend außerlandwirtschaftliche Tätigkeit der Männer, fast ausschließlich die Domäne von Frauen.
Die niedrigen staatlichen Abnahmepreise für landwirtschaftliche Erzeugnisse führten hier wie überall in Jugoslawien zu einem ständigen Wertetransfer von der Landwirtschaft in den modernen städtischen Sektor. Erschwerend kam hinzu, daß trotz des immensen Abstroms in die Industrieregionen, der einen Verlust gerade der aktivsten und produktivsten Teile der Bauernökonomie darstellte, immer noch eine starke »Übersetzung« der Landwirtschaft vorhanden war.
Im Zusammenhang mit den Autonomiebestrebungen der Serben in Kroatien und der Durchsetzung der Ethnisierung als bevölkerungspolitischer Neuordnungsstrategie im gesamten restlichen Jugoslawien transformierte sich zuallererst in der bosnischen Krajina, einem der Hauptsiedlungsgebieten der SerbInnen in Bosnien, und von da ausgehend im ganzen Land, dieser Prozeß in eine ethnisch definierte Frontstellung sowohl des Landes zur Stadt als auch zu den anderen Ethnien.
Daß dieser Prozeß in seinem Wesenskern auf einer gewalttätigen Repatriarchialisierung beruht, wird an den Massenvergewaltigungen deutlich, die von den Männern aller Kriegsparteien begangen werden und die nicht auf die Vergewaltigungslager begrenzt sind, sondern einen unbegrenzten gesellschaftlichen Normalzustand darstellen.
In Bosnien-Herzegowina wird nicht nur die Macht der Frauen im Agrarsektor und die gesellschaftliche Stellung und Macht der Frauen insgesamt gewaltsam zertrümmert, sondern die Zerstörung der Frauenmacht vollzieht sich direkt durch physische und psychische Vernichtung der Frauen.

Die Aufteilung Bosnien-Herzegowinas
Die bevölkerungs- und geopolitische Zielsetzung des Krieges in Bosnien-Herzegowina ergibt sich nun genau aus der Auflösung der doppelten Blockade, einerseits der der Städte und andererseits der des Landes. Und zwar im Sinne der bevölkerungspolitischen Zertrümmerung der alten unproduktiven Gesellschaft und der Initiierung einer produktiven Gesellschaftlichkeit, da die Geschichte gezeigt hat, daß die Verfügungmacht der Regimes über Rohstoffe und Maschinen allein nicht ausreicht. Wichtigste Instrumente dieser Politik sind die ethnischen Säuberungen bzw. die Ethnisierung der Gesellschaft im Medium des Kriegs und die geopolitische Neuaufteilung des Raums als Resultat der Okkupationspolitik.
Das Hauptinteresse des serbischen Regimes ist, wie im vorigen Kapitel beschrieben, v.a. auf agrarische Regionen konzentriert, um den Raum zu haben, die eigene Gesellschaft durch Umsiedlungen produktiv neu zusammenzusetzen. Das gleiche gilt, im beschränkteren Maße, auch für Kroatien, wobei hier noch das Interesse der Verfügungsgewalt an der herzegowinischen Hochkarstregion hinzukommt, die mit ihren ausgebauten künstlichen Bewässerungssystemen lebensnotwendig für die Energiewirtschaft an der dalmatinischen Küste ist, die immerhin 30% des kroatischen Energiebedarfs produziert.
Für die Muslime bleibt, wenn überhaupt, im wesentlichen nur das zentralbosnische Becken übrig. Diese Region ist zwar stark industrialisiert und reich an Bodenschätzen, die Dominanz der Schwerindustrie und des Bergbaus konfrontiert sie aber in ihrer produktiven Struktur mit fast allen anderen Regionen Ost- und Südosteuropas, die im Zerfallsprozeß gerade hier gezwungen sind, ihre Produkte zu Dumpingpreisen auf dem Weltmarkt zu verschleudern.
Es liegt nahe zu vermuten, daß sich das serbische Regime nicht noch mehr kaum zu deregulierende Schrottindustrie aufhalsen wollte als es eh schon hat und den Wertetransfer aus Bosnien eher über Nahrungsmittellieferungen organisieren wird. Denn egal wie groß die Region sein wird, in ihr werden bis zu 40% der verbleibenden Einwohnerschaft Bosnien-Herzegowinas leben müssen, und das ohne eine auch nur annähernd ausreichende eigene Agrarproduktion.
Desweiteren besitzt Serbien das absolute Monopol an Transportwege um die möglichen muslimischen Regionen, sdaß dort nicht einmal eine Stecknadel herauskommt ohne serbisches Gebiet passieren zu müssen.

IV. Schluß
Das weite Ausholen, um den Prozeß der Ethnisierung im ehemaligen Jugoslawien zu veranschaulichen, sollte das Ausmaß der sozialen Blockaden des Deregulierungsprozesses verdeutlichen, die zu einer Sozialität besonders des Südens geführt hatte, die in allen Bereichen und in ihrer ungeheuren Breite und Tiefe nicht auf nichtkriegerischen Wege zu zerlegen war. Auch wenn sich in Jugoslawien, bedingt durch die internationale Situation, eine besondere Situation entwickelte, so ist diese doch in ihrem Kern paradigmatisch für den gesamten ehemaligen sozialistischen Raum und es ist daher anzunehmen, daß Jugoslawien nur das Laboratorium der Relevanz der sozialen Zerstörungskraft künftiger Deregulierungskriege ist.
Die eigentliche Dynamik dieses gewalttätigen Zerlegungsprozesses, und dies geht in den moralinsauren metropolitanen Diskursen um Intervention und Nichtintervention völlig unter und verdeutlicht deren Bestimmung als politischer Betroffenheitsinszenierung, die im wesentlichen auf den metropolitanen Sozialprozeß selbst gerichtet ist, ist aber keineswegs aus den verschiedenen Konstellationen des Sozialprozesses im ehemaligen Jugoslawien allein zu entschlüsseln, sondern nur in deren Konfrontation mit den Imperativen der Neuordnung des europäischen Großraums. Egal ob in den industriellen Regionen und Übergangsregionen Sloweniens und Kroatiens oder in den prospektierten agro- und rohstoffproduzierenden südlichen serbisch kontrollierten Regionen und in den zu erwartenden Weltmarktproduktionsinseln in den muslimischen Gebieten, überall sind die Konflikte nur zu entschlüsseln aus der Funktionalität und der Konfrontation mit dem Großraum. Und auch die verschiedenen Kommandoformen der Subzentren, ob »faschistisch«, »nationalistisch« oder »demokratisch«, sind nur begreifbar aus der Konfrontation mit den globalen Determinanten des Großraums, die den Weg autozentristischer Experimente endgültig abgeschafft haben und mit einem System der selektiven Verwertung der Regionen die Handlungskompetenzen der Regimes im Sinne der Durchsetzung der Wertraubbedingungen fixieren.
Die Ethnisierung des Sozialprozesses ist dabei keineswegs, das war der Sinn der Ausführungen, aus dem »Inneren« des Sozialprozesses selbst entsprungen, sondern wesentlich ein sozialpolitisches Rationalisierungs- und Herrschaftsprojekt, was sich im übrigen schon ergibt aus der Globalität und der Relevanz von Ethnisierungstendenzen in den unterschiedlichsten Sozialräumen, und vermittelt sich nur in einem äußerst gewalttätigen Prozeß, in dem die ethnischen Säuberungen und der Krieg nur die Spitze darstellen.
In der krisenhaften Zuspitzung und Verengung der Handlungs- und Überlebensperspektive der Subjekte eröffnet die Ethnisierung Perspektiven des Überlebens, und damit kommt der Prozeß überhaupt erst in Gang. Die Verbindung von Herrschaftsinteresse und subjektiven Erwartungen transformiert die sozialen Aspirationen direkt in Aspirationen auf Teilhabe an Herrschaft, und dies bildet die Basis des ethnischen Korporatismus, der sich nun stark auf die Eigenbewegung der Subjekte stützt, um den blockierten Sozialprozeß zu zertrümmern.
Wieweit sich dieser Prozeß aber nichtkriegerisch verlängern läßt ist momentan noch nicht abzusehen. Die blockierte Deregulierung in Slowenien und Kroatien und besonders die Situation in Serbien, wie sie hier beschrieben ist, zeigt aber, daß dies durchaus schon an Grenzen gestossen ist, und es ist durchaus möglich, daß daher der Krieg als Dauerzustand diesen Prozeß auf lange Sicht immer wieder neu und in den diversesten Variationen inszeniert. Der rapide und massive Umbau der serbischen Polizei zu einer paramilitärischen Aufstandsbekämpfungsarmee deutet darauf hin, daß zumindest im Süden der Krieg als permanente Perpetuierung einer »ethnischen« Neuordnung in den unterschiedlichsten Varianten des Transformationsprozesses erwartet und geplant ist. Die »Ethnie« erweist sich damit als modernster politischer Kontrollbegriff der sozialpolitischen Neuordnung und Herrschaftssicherung im Prozeß der Konstruktion des europäischen Wirtschaftsraums.

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Die Ethnisierung des Sozialen

Die Transformation der jugoslawischen Gesellschaft im Medium des Krieges

Teil V - Krieg als Transformationsmechanismus


Verlag der Buchläden Schwarze Risse - Rote Strasse
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Jugoslawien im Kontext des ost- und südosteuropäischen Umbruchs
Bemerkungen zur Kampfgeschichte der moralischen Ökonomie
Zur Kampfsituation 1987
Nationalismus und Ethnisierung
Krieg als Transformationsmechanismus
Die EG-Migrationspolitik und die Flüchtlinge aus Südosteuropa
Zur Rolle des Imperialismus in der jugoslawischen Krisen- und Kriegsdynamik
Anhang


Krieg als Transformationsmedium

Die Umbrüche in Ost- und Südosteuropa laufen gewaltförmiger ab als es der Begriff der »friedlichen Revolution« suggeriert. Unter der medialen Oberfläche »ziviler« Massenproteste, legaler Abwahlen und erzwungener Abdankung oder Absetzung von Regimen erweisen sich die Umbrüche real als latente und offene Formen des sozialen Krieges, die sich in sozial- ,finanz- und wirtschaftstechnischen Instrumentarien der Transformationsregime gegen soziale Ansprüche und Erwartungen artikulieren, wie wir es am Beispiel der ehemaligen Sowjetunion aufgezeigt haben (s. Materialien Nr.4). Daß die Transformation aber im strategisch wichtigen Balkanraum die Form eines langanhaltenden offenen Kriegs annimmt, ist eine andere Variante des sozialen Kriegs gegen den osteuropäischen Sozialprozess im Laboratorium des südosteuropäischen Krisenszenarios. Es ist u.a. den spezifischen Eigenheiten des sozialen Antagonismus in Jugoslawien (s. Kap.4) geschuldet, daß in der jugoslawischen Region die Zertrümmerung sozialer Beziehungen und noch rudimentär vorhandener subsistenzwirtschaftlicher Alltagsverhältnisse die »Ethnisierung des Sozialen« als Sozialtechnik in brutalster Form ihre Anwendung fand - initiiert und durchgesetzt im Medium des Kriegs.
Am Beispiel Zentralamerikas haben wir herausgearbeitet, wie in der neuen Doktrin des »low-intensity-warfare« der Krieg gegen die Bevölkerung strategisch als eine verwertbare Zwischenlösung eingesetzt werden kann, solange »der Zustand des Fehlens eines neuen Modells der Kapitalakkumulation anhält (...) - Krieg als augenblicklich rentabelste Form der sozialen Kontrolle über die Region«, der die Ansprüche der Bevölkerung niedrig hält (vgl. Materialien 1 S.22-26). In der Phase des Umbruchs des sozialistischen Akkumulationsregimes hingegen hat der entfesselte Krieg weitaus mehr als soziale Kontrolle zu gewährleisten - er wird zum Motor der Zerstörung und Transformation sozialer Geflechte, der Deindustrialisierung und der Vernichtung »sozialer Überschüsse« bzw. deren Vertreibung und Internierung, und er wird produktiv in dem Sinne, daß er über ethnische Differenzierung und nationale Homogenisierung eine neue Zwangsvergesellschaftung (Kriegswirtschaft, zentralisierte Regulation etc.) gegen die Wucht der sozialen Antagonismen durchsetzt und die Anpassungsleistungen an die Weltmarktrationalität gewaltsam vergesellschaftet - das scheinbar irrationale Chaos des Bürgerkriegs erzeugt flexible ethnisierte Ordnungen in der Zwangsvergesellschaftung des Kriegs. Dabei setzt die globale Ordnung nur den Rahmen, in dem die Subjekte durch ihre autonome Eigenbewegung die »Ordnung« den Umständen entsprechend selbst neu definieren.
Die radikale Absenkung der gesellschaftlichen Reprokuktionskosten ist nicht eine unabänderliche Begleiterscheinung des Krieges, sondern Kriegsziel selbst (vgl. Res Strehle, Dossier Ökonomie des Krieges, im Anhang). Von daher ist der jugoslawische Bürgerkrieg ganz eindeutig ein Krieg gegen die jugoslawischen Frauen (Zersetzung ihrer Reproduktionsmacht). Die gesellschaftlichen Investitionen in die Vernutzung und Ausbeutung der jugoslawischen Frauen, mit denen das jugoslawische Regime die produktive Rationalisierung als ganze zu forcieren hoffte, hatten sich offensichtlich nicht rentiert und werden jetzt im patriarchalen Angriff auf die jugoslawischen Frauen zurückgenommen und von nackter Gewalt gegen sie abgelöst. (Es ist zu vermuten, daß die Frauen die soziale Systematik ihrer Ausbeutung unterlaufen hatten.) Das scheint der funktionale Kern des im Krieg entfesselten Machismo, der systematischen Massenvergewaltigungen und der durchgehenden Repatriarchalisierung des gesellschaftlichen Kommandos zu sein.
Der formale Ablauf des jugoslawischen Krieges kann kurz zusammengetragen werden (vgl. ami 5/93, S.40, auf gegenüberliegender Seite), allerdings ohne großen Erkenntnisgewinn. Auffällig ist die sukzessive Verlagerung der Kriegsregionen vom Norden in den Süden. Mit jedem z.T. in UN-Peacecorps abgesicherten Waffenstillstand wandern die freigesetzten Kriegsmittel und -banden weiter, um neue Gebiete mit kriegerischer Zerstörung zu überziehen - ein feingesteuerter Dominoeffekt. Dabei nimmt der Krieg an Intensität und Brutlität zu, je mehr er sich mit gesellschaftlich verankerten Strukturen wie in Bosnien-Herzegowina konfrontiert, die sich nicht ohne großen Widerstand aufbrechen und ethnisch neuordnen lassen.
Die Akteure des Kriegs sind fast ausschließlich Männer, die kämpfenden Verbände sind extrem unübersichtlich: sie reichen von der ehemals viertgrößten Armee Europas, der jugoslawischen Volksarmee JNA, Territorialarmeen, wildwüchsigen Nationalgarden über parteigebundene Milizen und Freischärler in z.T. historischer Kostümierung und unter Beteiligung von Söldnern bis hin zu diversen Banden und Wochenendmilizen.
Spätestens mit der Unabhängigkeit Sloweniens hat die jugoslawische Volksarmee JNA ihre Hauptfunktion, die einer Klammer der jugoslawischen Republiken, eingebüßt - sie wird zerlegt. Schon in den 80er Jahren, mit dem Ende der Kalten-Kriegs-Subventionen aus dem Osten und dem Westen, war ihr Etat beträchtlich gekürzt worden, aber erst der Krieg machte die JNA zur serbisch-montenegrinischen Rumpfarmee, und die abgespaltenen Einheiten ethnisierten und verselbständigten sich. Dezentral organisiert, war bereits seit 1968 die territoriale Verteidigung - bis hin zur Dezentralisierung der Befehlsgebung (vgl. G. Wagenlehner, Landesverteidigung. in: K.-D. Grothusen, Jugoslawien. - Göttingen 1975, S.193 ff) - eine nationalistische Aufladung v.a. der Offizierscorps erfolgte schon in der Vorkriegszeit. In Serbien findet parallel zur Schrumpfung der JNA ein Ausbau der Polizei zu einer paramilitärischen Truppe statt, deren Größe und Etat den der JNA übersteigt (vgl.TAZ vom 17.8.93, im Anhang dokumentiert).
Gänzlich unübersichtlich ist die Anzahl der Milizen. In Bosnien z.B. formieren sie sich als »Revolutionäre Ustascha Front«, »Kroatische Kreuzritter«, »Revolutionäre Kroatische Bruderschaft«, als »Tschetniks«, »Serbische Tiger«, »Antigermanische Allianz«, »Vaterlandsarmeen« oder als »Bosnisch-muslimanische Widerstandsbewegung«, »Muslimanische Bruderschaft« und »Grüne Barette«. Und bewaffnete Banden reisen nach verschiedenen Berichten an den Wochenenden nach Bosnien, um am Morden, Plündern und Vergewaltigen teilzuhaben. So bizarr sich die Namen ausnehmen - die Banden sind doch keine jugoslawische Besonderheit, sondern ein neues transnationales Phänomen, wie J.F. Bayart es an Beispielen aus Afrika verdeutlicht (s. Anhang).
Die Diversität der Verbände spiegelt auch die Ebene der Kriegsführung wider. Mindestens vier Formen von Kriegsführung können unterschieden werden, die sich hier miteinander verbinden: die fordistische Kriegsführung, der Partisanenkrieg, der War-Lord-Krieg und der low-intensity-warfare. Die Verknüpfung dieser vier Formen des Kriegs, die von Region zu Region mal die eine Form, mal zwei oder drei Formen miteinander vermischt und sich bis zum Vernichtungskrieg verdichtet, hat eine völlig neue Kriegsführung hervorgebracht.
Zum einen gibt es den klassischen Krieg um Eroberung und Kontrolle von Territorien und Status (Unabhängigkeit/Republikzugehörigkeit), am offensichtlichsten in der Annexion von Teilen Kroatiens durch die JNA und in der Besetzung weiter Teile Bosniens durch kroatische und serbische Verbände. In der zermürbenden Belagerung bzw. Zerstörung von Städten ((Vukovar, Mostar, Sarajevo...) werden urbane Strukturen angegriffen, in denen die Produktion ethnischer Zwangsidentitäten auf erhebliche Widerstände stößt - eine Auseinandersetzung, in der womöglich der in der immer noch stark agrarisch geprägten jugoslawischen Gesellschaft virulente Gegensatz Stadt-Land neu reaktiviert wird.
Seinen offenkundigsten Ausdruck findet der Krieg als Vernichtungskrieg gegen die Zivilbevölkerung in den als »ethnischen Säuberungen« bezeichneten Massenvertreibungen, Zwangsumsiedlungen, Internierungen und Pogromen. Zwangsmobilisierung und radikale Entwurzelung sind das Programm, und Massenvergewaltigungen in speziellen Lagern gehören zum System dieses Kriegs.
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Systematische Massenvergewaltigungen
Einiges ist mittlerweile bekannt geworden über die systematischen, massenhaften Vergewaltigungen von Frauen im ehemaligen Jugoslawien. Wenn auch in den hiesigen Medien von interessierter Seite fast ausschließlich über den von serbischen Männern begangenen Krieg gegen die Frauen berichtet wird (die anti-serbische Front reicht von FAZ-Reißmüller über CDU bis zur GfbV, die pro-interventionistischen Stimmen finden sich quer durch die Parteienlandschaft, auch BRD-Frauen-Gruppen sind kriegsparteiisch im nationalen deutschen Konsens gegen Serbien ...), belegen doch zahlreiche Interviews und Berichte von betroffenen Frauen aller Nationalitäten Ex-Jugoslawiens, daß von allen Kriegsparteien die Waffe Vergewaltigung als unmittelbarster und brutalster Akt gegen Frauen vom Beginn des Krieges an eingesetzt wurde.
Innerhalb des gesamten Lager- und Internierungssystems (vermutlich mehr als 120 Lager) gibt es mindestens 20 spezielle Vergewaltigungslager, in die Frauen und junge Mädchen aller Nationalitäten zwangsverschleppt, ausgeplündert, systematisch vergewaltigt, geschwängert und oft auch getötet werden. Ort und Funktion sind weitgehend bekannt, auch UN-Menschenrechtsbeobachtern, die jedoch vorgaben, nichts zur Befreiung der internierten Frauen unternehmen zu können, weil es nicht genug Länder gäbe, die diese aufnehmen würden.
»Die Vergewaltigungen gehören zur Kriegsstrategie, sie sind eine intelligente Waffe, für die man kein Benzin und keine Munition braucht«, sagt Asija Armanda von der Zagreber Frauengruppe »Kareta«. »Die Geschichten über die Vergewaltigungen verbreiten sich, und die Menschen fliehen, und eine vergewaltigte Frau kehrt nie an den Ort ihrer Vergewaltigung zurück.« Dies ist ganz im Sinne der Kriegsstrategen, die »ethnisch reine« Gebiete schaffen wollen.
Der Einsatz von Massenvergewaltigungen für eine Politik der »ethnischen Säuberungen« wird mit Sicherheit am radikalsten und brutalsten im serbisch besetzten Teil Bosnien-Hercegowinas umgesetzt, sowohl in den von serbischen Verbänden eingerichteten Vergewaltigungslagern, aber auch durch Gruppenvergewaltigungen in den Dörfern vor den Augen von Nacharn und Familienangehörigen. Akteure sind Soldaten und Freischärler, Lagerwächter und Söldner, aber auch Nachbarn und ehemalige Freunde. Vergewaltigung wird durch Nichtbestrafung legitimiert und befördert, geschieht zum Teil auf Befehl von oben, und einige verdienen sogar daran. Im Juni '92 erzählte ein Soldat der »Green Berets« (eine der paramilitärischen muslimischen Einheiten im Krieg in Bosnien) im Fersehen: Für jeden Bus, den er gefüllt mit Frauen zu den Soldaten brächte, erhalte er umgerechnet 200 DM. Könne er ihn nicht mit genug serbischen Frauen auffüllen, so genügten auch muslimische und kroatische Frauen. Wichtig sei nur, daß es Frauen sind, daß der Bus voll wäre und er 200 DM erhalte. Dieselbe Summe, erhielt nach einer anderen Zeugenaussage ein Soldat anderer Couleur von seiner Gang dafür, daß er die Kellnerinnen einer Bar dazu brachte, sie nackt zu bedienen. Die Frauen konnten nirgendwohin fliehen, das Maschinengewehr lag auf dem Tisch. Ob die Frauen ehemalige Schulfreundinnen waren oder nicht, jedes Anzeichen von Widerstand wurde mit Anspucken bestraft. Neben dem Aspekt des Terrors und der Vernichtung von Frauen kommt den Vergewaltigungslagern auch eine direkte bevölkerungspolitische Bedeutung zu: zum einen werden die Frauen systematisch geschwängert und erst zu einem Zeitpunkt freigelassen, zu dem eine Abtreibung nicht mehr möglich ist, zum anderen sind es zumeist Mädchen und junge Frauen, die in ihnen festgehalten werden. »Es ist der reproduktivste Teil der (...) Bevölkerung. Sogar wenn sie dort lebend herauskommen, Sie glauben ja wohl nicht, daß sie je normale sexuelle Beziehungen und Kinder haben werden«, sagt eine Zagreber Feministin.
Selbstverständlich wurde und wird in allen Kriegen (und nicht nur dort) vergewaltigt. In Phasen politischen Zerfalls und zunehmender Militarisierung von Gesellschaften sowie generell bei Auflösung traditionell patriarchaler Männerrollen nimmt offene Gewalt gegen Frauen zu, auch außerhalb des unmittelbaren Kriegsgeschehens.
»Die Zahl der Vergewaltigungen an allen Fronten in Bosnien und Kroatien ist gewaltig, aber auch die in allen Städten der zurückkehrenden Krieger in Ex-Jugoslawien. Die `Notrufe für Frauen und Kinder' in Zagreb und Belgrad stellten fest, daß die Zahl der registrierten Vergewaltigungsfälle seit Kriegsbeginn um 100% gestiegen ist. Und in 100% mehr Fällen als zuvor wurden Todesdrohungen ausgestoßen, trugen die Täter Waffen. Die Täter sind meistens Kriegsveteranen, Nachbarn, die mit ihrer Kalaschnikov griffbereit zu Bett gehen. Sobald sich die ewigen Soldaten nicht mehr unter Feinden befinden, machen sie ihre eigene Frau zum Objekt von Vergewaltigung und Verstümmelung. Und dies unabhängig von der Nationalität der Frau, ihres Alters oder des Grades ihrer Begierde.« (L. Mladgenovic, Belgrad in: Schehezerade Nr.4)
Als »Nach-dem-Fernseh-Syndrom« bezeichnen Belgrader Notruf-Frauen Berichte von Frauen, sie würden oft unmittelbar nach der Hauptnachrichtensendung von ihren Ehemännern überfallen. Ähnliche Phänomene wurden von Feministinnen zum Beispiel während des Golfkrieges in Israel, Irak und Kanada (!) beschrieben.
Systematische Vergewaltigungen sind der offensivste und brutalste Ausdruck des patriarchalen Kommandos über Frauen.
Aber sie sind zugleich eine Botschaft von Mann zu Mann. Nicht zufällig war der Beginn der gewaltsamen Auseinandersetzung in Kroatien '91 und im Kosovo begleitet von Fernsehberichten über Vergewaltigungen. Die Vergewaltigung von Frauen wurde propagandistisch gleichgesetzt mit der Vergewaltigung einer Nation, und damit wurde ganz wesentlich das nationalistische Klima aufgeheizt.
Selbst viele ehemals feministische Frauengruppen Ex-Jugoslawiens saßen dieser nationalistischen Propaganda auf.

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Kennzeichnend für diesen Krieg ist der direkte Krieg gegen die (vor allem weibliche) Zivilbevölkerung. Die Produktion von Chaos, Terror gegen Zivilbevölkerung und allgemeiner Unsicherheit und Unübersichtlichkeit greift tief: der Krieg erzielt seine »zerstörerischste Wirkung darin, die regionalen und lokalen Traditionen zu unterbinden« (Drago Roksandic in: Aufrisse 3/1992 S.9). Es ist ein Krieg nach innen, der seine Destruktion bis in die Subjekte hinein treibt - eine Voraussetzung für neue Zwangsvergesellschaftung.

Krieg und Medien
Ohne die Medien wäre dieser Krieg kaum vorstellbar. Nicht erst seit dem Umsturz in Rumänien und dem Golfkrieg wissen wir, wie effektiv mediale Inszenierungen reales Geschehen vorbereiten, überlagern und legitimieren können - bis hin zur medialen Produktion von »Realitäten«. In Jugoslawien haben das Fernsehen, aber auch Radio und die Zeitungen dem Krieg zunächst den Boden bereitet und dann an vorderster Front zu seiner Brutalisierung beigetragen.
Seit 1991 existierte das JRT (Jugoslawisches Radio und Fernsehen) faktisch nicht mehr. Die schon vorher relativ autonomen Fernsehanstalten der Republiken hatten sich vollständig voneinander abgekoppelt und - mit Ausnahme Bosniens - alle Austauschsendungen eingestellt. Damit war die Voraussetzung für eine nationalistische Aufladung geschaffen, die nun gezielt angegangen wurde: Kritische JournalistInnen wurden entlassen, in Zwangsurlaub geschickt oder in schwarzen Listen als »Verräter« und »Antipatrioten« geführt, und die Informationspolitik wurde faktisch unter Kriegsrecht gestellt. Damit wurden die Medien generell zu »Kriegshetzern« (wie Le Monde eine informative Artikelserie vom 22.7.-24.7.93 treffend überschreibt; vgl. auch den Artikel »Medien im Krieg - Krieg in den Medien » von Vesna Kesic, in: Krieg in Europa, hg. v. Johann Gaisbacher u.a.- Graz 1992). Die Medien wurden so zu einer aktiv strukturierenden Determinante des ganzen Kriegsprozesses: Homogene Volksgruppen wurden sprachlich konstituiert - »die Serben«, »die Kroaten«, »die Bosnier«, und wenn es die Kriegsgegner waren, unter Manipulation des historischen Gedächtnisses kollektiv als »Tschetniks«, »Ustaschas« oder »von Sadam Hussein bewaffnete Fundamentalisten und Mudjahedin« bezeichnet, die schon immer auf »Genozid« aus waren (vgl. Interview im Anhang). Wie in aller Kriegspropaganda ging die Dämonisierung des Gegners einher mit einer kriegerischen Mythologie, in der der Feind »feige«, »schmutzig« und »drogenabhängig« war, während »unsere Soldaten« das Land mit »außergewöhnlichem Mut« »verteidigen«.
Der wirkungsvolle Mechanismus der alltäglichen Kriegspropaganda, dem sich kaum jemand zu entziehen vermag, kann als Konstitution einer national definierten Opfergemeinschaft beschrieben werden: Die Kriegshandlungen zielen auf die eigene Person als Angehörige einer immer schon unterdrückten Ethnie, die nun Opfer eines Komplotts wird. Der Bildschirm bombardiert die Menschen mit grausamen Bildern von historischen wie aktuellen Massakern, deren alleinige Opfer die Ethnie sei; zum Teil sind es sogar die gleichen Bilder, die je nach Republik ethnisch umdefiniert werden. Diese mediale Inszenierung von Massakern kennt weder Täter in den eigenen Reihen, noch Opfer auf Seiten des Gegners; Vertreibungen ethnischer Minderheiten aus der »eigenen« Republik scheint es nicht zu geben - oder sie werden als allein durch gegnerische Propaganda ausgelöste Flucht gedeutet.
Die so erzeugte kollektive Opfermentalität nimmt Formen einer massenhaften »`patriotischen' Hysterie« an (Le Monde v.23.7.93), die die Kriegsmaschinerie mit immer neuem Treibstoff versorgt.
Diese grobe Phänomenologie des Kriegs in Ex-Jugoslawien verweist schon auf die ihm eigene Logik, die Ökonomie des Kriegs.
Der kriegerische Angriff auf die Zivilbevölkerung senkt drastisch deren soziale Ansprüche und somit die gesellschaftlichen Reproduktionskosten insgesamt. Am Durchschnittslohn ist dieser Zusammenhang noch direkt greifbar: vor dem Krieg lag er bei ca. 1.000 DM, heute bei 50 DM. Das gewaltsame Herabdrücken der Gesamtkosten der gesellschaftlichen Reproduktion ist nicht quantifizierbar (auch wenn es als Gewinn einer Differentialrente in die gesamtgesellschaftliche Profitrate eingeht) - das ungezählte Leiden unzähliger Frauen ist ihr Gradmesser.
---------------KASTEN ANFANG---------------------------

Frauen in Ex-Jugoslawien
Um zu verstehen, welche gesellschaftlichen Machtpositionen von Frauen im ehemaligen Jugoslawien im und durch den Krieg angegriffen werden, ist ein kurzer Rückblick auf die Situation von
Frauen in der »Vorkriegszeit« notwendig.
Sie hatten enorme gesellschaftliche Macht. Im industrialisierten Norden, in dem nahezu die Hälfte der berufstätigen Bevölkerung Frauen waren (Slowenien 46%), entwickelten sie Selbstbewußtsein und gesellschaftliche Stärke als »moderne« Arbeiterinnen. Nicht zufällig hatte sich hier Anfang der 80er Jahre eine autonome Frauenbewegung entwickelt.Schon seit 1974 gab es das Recht auf Abtreibung ohne Indikation (gesamtjugoslawisch war das Verhältnis Geburt:Abtreibung 1:1, das südliche Kosovo hatte allerdings die höchste Geburtenrate Europas). Sie hatten ein Anrecht auf bezahlten Mutterschaftsurlaub (in Slowenien 12 Monate, in Mazedonien 7 Monate), auf Bildung (Frauenanalphabetismus in Slowenien 0,9%, im Kosowo 23%). Vergewaltigung in der Ehe war seit Mitte der 70er Jahre in Slowenien strafbar, und schon seit den 60er Jahren konnten hier Frauen ihren Namen nach der Eheschließung frei wählen, auch ohne den Namen des Mannes anzuhängen. Formalrechtlich gab es die volle Gleichstellung der nichtehelichen Gemeinschaft und der nichtehelichen Kinder.
Im agrarischen Südosten war die agrarische Großfamilie die vorherrschende gesellschaftliche Produktionsform, da eine Kollektivierung der Landwirtschaft nach '45 gescheitert war (vgl. Kapitel 2). Durch Landflucht und den Zwang vieler Männer zur Arbeitsmigration (nach Nordeuropa oder innerhalb Jugoslawiens) blieben seit Mitte der 60er Jahre v.a. Frauen, Kinder und Alte als Trägerinnen der Landwirtschaft, der Familien- und Sozialstruktur zurück (Feminisierung der Dörfer). Die Männer kamen für ein oder zwei Monate im Jahr, zum Urlaub oder um bei der Ernte zu helfen. Ansonsten waren die Frauen die alleinigen Trägerinnen der auf Subsistenz ausgerichteten, kaum für den Markt produzierenden Landwirtschaft. Es existierte quasi eine vom Markt gänzlich abgekoppelte Frauenökonomie. Nur durch direkte Gewalt im Krieg gegen die Frauen, durch Terror und Vertreibung, Zerstörung des gesamten sozialen Gefüges kann diese dominante Position der Frauen gebrochen und so die Voraussetzung geschaffen werden, die bisherige »unproduktive« Landwirtschaft durch rationellere Strukturen (Agrokonzerne, Großflächenbewirtschaftung, cash-crops etc.) zu ersetzen.
Auch im industrialisierten Norden kam der von Frauen getragenen Subsistenzlandwirtschaft seit der Krise der 80er Jahre eine zunehmende gesellschaftliche Bedeutung zu. Oftmals konnte allein sie die Ernährung der durch Entlassungen und Inflation prekär gewordenen Familie noch gewährleisten. Zudem war gerade die Möglichkeit des Rückzugs auf die Subsistenz eine Basis der Widerständigkeit der IndustriearbeiterInnen gewesen.
Im und durch den Krieg werden Frauen in eine extrem mobile und instabile soziale Situation gezwungen. Sie verschwinden quasi allerorten aus dem öffentlichen Leben. Sowohl politisch (ihr Anteil in den Parlamenten ist von 11% auf 3% gesunken), als auch im Alltag. »Es ist für mich schwierig, in Zagreb abends auszugehen«, schreibt eine kroatische Pazifistin ihrer Belgrader Freundin, »diese allumfassende Männerwelt; du kannst es in der Luft riechen, dieses Bruderschaftsgefühl, dieser Heroismus. Nicht nur Uniformen, auch der Geist riecht nach Militär.«
Auf ideologischer Ebene sollen Frauen vom Quasi-Subjekt der Arbeiterklasse (Arbeiterfrauen) sozusagen zum »Naturferment« der Reproduktion des Lebens der Nation werden.So gibt es öffentliche Aufrufe (auch von Frauengruppen) zum Gebärzwang (»für jeden gefallenen Soldaten hundert Söhne gebären«). Frauen gelten als die »Mütter der Nation«, auch die verschiedenen zu Kriegsbeginn entstandenen Mütterbewegungen ließen sich nationalistisch aufladen und forderten die Herausgabe »ihrer Söhne«, die nicht für »die Serben« oder »die Kroaten« fallen sollten, sondern ihre Familien verteidigen.
Die Selbstethnisierung reicht bis weit in die jugoslawische Frauenbewegung hinein. Eine Zagreber Feministin sagt: »Früher habe ich mich als Jugoslawin gesehen, aber seit Kroatien angegriffen wurde, fühle ich mich als Kroatin.« Frauengruppen spalten sich auf in »Pazifistinnen« und »Patriotinnen«, eine Zusammenarbeit ist nach eigenen Angaben kaum noch möglich. Dies alles vor dem Hintergrund, daß die Anfang der 80er Jahre entstandene Frauenbewegung eine relative Stärke erreicht hatte und z.B. noch 1991 in Slowenien und 1992 in Kroatien die Installierung eines neuen reaktionären Familiengesetzes verhindern konnte.
Jetzt sind Frauen politisch weitgehend paralysiert, mit der Organisation des Überlebens beschäftigt und konfrontiert mit einer extrem reaktionären Neudefinition ihrer gesellschaftlichen Stellung.

-----------------KASTEN ENDE------------------------------------

Je nach Region stellt sich der gewaltsame Enteignungsprozess unterschiedlich dar: in den Vertreibungen, v.a. in ländlichen Regionen, als Zerstörung der Subsistenzgrundlagen, in nicht vom offenen Krieg betroffenen Gegenden als Lohnsenkung, Wegnahme sozialer Leistungen und Wertraub durch kriegsbedingte Inflation - eine rasante Bevölkerungsrationalisierung, wie sie in Form von aufoktroyierten IWF-Auflagen nicht durchsetzbar war.
Zur Ökonomie des Kriegs gehört aber auch die andere Seite der Medaille: die Teilhabe am Krieg erst schafft den (fast ausschließlich männlichen) Soldaten und Milizionären Zugang zu Ressourcen und sichert so ihr Überleben: sei es als regulären Sold - war doch die JNA schon vor dem Krieg eine der größten Einkommens-Geber - sei es als Kriegsbeute - Plünderungen gehören zum integralen Bestandteil der Kriegshandlungen, und so erklärt es sich auch, daß der prozentuale Anteil jugendlicher Arbeitsloser an den Milizen sehr hoch ist. Städtische Wochenendmilizen lockt die Aussicht auf Beute - Plünderungen und Vergewaltigungen gehen dabei meist miteinander her. Erst die Teilnahme am Krieg eröffnet die Möglichkeit, an Macht und Politik zu partizipieren, und sie bietet Aussicht auf wirtschaftlichen Gewinn.
So wird der Krieg zu einem Unternehmen, das sich zunehmend und in wechselnden Allianzen mafiös organisiert: »Zahlreiche Einheiten hören inzwischen nur noch auf ihren Kommandanten und akzeptieren keine Befehle aus Belgrad mehr. So ist denn die Verwirrung groß entlang der ausgedehnten Fronten zwischen Serbien und Kroatien, und der Krieg, wie er heute geführt wird, wird zu einem Bandenkrieg. Diese Banden verfolgen präzise, jedoch ausschließlich regional begrenzte Ziele und betrachten alle militärischen und politischen Strategien als Verrat.« (FR 29.8.91)
Profiteure des Kriegs sind andererseits alle, die die Mechanismen der Spekulation, des »grauen Markts« und des Schwarzmarkts beherrschen und für sich nutzen. Dieser parallele Markt blüht im Krieg auf und entwickelt sich zu einem der profitträchtigsten Segmente der Kriegsökonomie. Einer seiner Kernbereiche ist der Waffenmarkt. Über den internationalen Waffenmarkt wird Ex-Jugoslawien - trotz aller offiziellen Embargos - kontinuierlich bedient, und die einheimische Rüstungsindustrie, die sich auch vor dem Krieg auf den internationalen Märkten » gut behaupten konnte«, produziert Waffen auf dem neusten technologischen Stand. Die Rüstungsindustrie ist quer zu allen ethnischen Grenzziehungen überregional organisiert: ca. 60% der Rüstungsschmieden liegen auf serbischem, fast 40% (!) auf bosnisch-herzegowinischem Territorium, und die Zulieferindustrie ist über ganz Ex-Jugoslawien - incl. Kroatien und sogar Slowenien - verteilt. Schon heute, während des Kriegs, wird bereits auch - sogar in umkämpften Regionen - für den Export produziert, und für die Nachkriegszeit steht zu erwarten, daß die Rüstungsbetriebe zu den ersten auf Export und damit Devisen ausgerichteten produktiven Kernen der Nachkriegsordnung werden (vgl. Anhang »Woher kommen die Waffen?«).
Kriegsökonomie umfaßt nicht nur das unmittelbare Kriegsgeschehen, also Raub, Plünderungen, Waffenhandel etc. sondern erstreckt sich auf die Gesellschaftsorganisation als Ganze. Insofern transformieren sich bspw. Politik, Kultur, Medien etc., in Agenturen des Kriegs, die die Zwangsvergesellschaftung im Krieg betreiben. Schon in der Auflösung, Zerstörung alter Machtstrukturen formieren sich neue Linien der Ordnung. Dieser gleichzeitige Zerstörungs- und Transformationsprozeß erfaßt die ganze Gesellschaft, und er hat viele Facetten: In der Mutation vom nationalen Kommunismus zu einem kriegskommunistischen Nationalismus besetzen nationalistisch gewendete kommunistische Machteliten weiterhin die Schaltstellen der Macht; in der kriegerischen Desintegration des jugoslawischen Territoriums wird eine neue Zonierung des Raums erzwungen, in der Ökonomie des Kriegs soll der jugoslawische Raum nach produktivitätsorientierten und bevölkerungspolitischen Gesichtspunkten auf den EG- bzw. Weltmarkt hin neu geordnet und zugerichtet werden (vgl.Kapitel 7). Zivile wie militärische Produktion werden unter Kriegskommando zum Betandteil einer umfassenden Kriegswirtschaft, die nach allen historischen Erfahrungen Motor eines forcierten Modernisierungsschubs (d.h. einer neuen Qualität der Unterwerfung sozialer Prozesse unter die Akkumulationsanforderungen) wird. So erzwingt der Krieg eine gewaltige Gesellschaftsrationalisierung, wird zum brachialen Medium einer Zwangsvergesellschaftung, die nach dem Scheitern früherer Reform- und Neuordnungspläne die Transformation Jugoslawiens in dem Weltmarktdiktat unterworfene Einzelregionen gewaltförmig durchzusetzen versucht.
Dieser kriegsförmige Umbruchsprozeßs dringt in alle Poren der Gesellschaft ein, und er kann Gesellschaftlichkeit nur strukturieren, wenn er in den handelnden Subjekten selbst materielle Anknüpfungspunkte findet. Die Konstitution der Subjekte selbst verändert sich im Krieg und wird durch ihn verändert: die Brutalisierung aller gesellschaftlichen Beziehungen und Verhältnisse, die Materialisierung struktureller Gewalt in offene prägt die Menschen in ihrem Bild von sich selbst und ihrem Bezug zu anderen bis ins Innerste. Muster der Identitätsbildung und des Alltagsverhaltens werden außer Kraft gesetzt und zerstört, neue Identitäten bilden sich heraus. Hervorstechendstes Merkmal dieses Prozesses ist die extreme Repatriarchalisierung der ganzen Gesellschaft. Die neue Macht der Männer, die sich nicht nur im Waffenbesitz und in Vergewaltigungen, sondern schon im medialen Bild davon und in der Reaktivierung von Männerphantasien (Theweleit) manifestiert, setzt in Verbindung mit der Auflösung traditioneller Familienstrukturen einen Machismo frei, der selbst wieder zu einem Moment sozialer Kontrolle wird. Dem männlichen Machtzuwachs entspricht eine Entmachtung der Frauen auf allen Ebenen: die alltägliche Entwürdigung und Demütigung, die den jugoslawischen Frauen in ihren eigenen Erfahrungen und schon in den Berichten über Massenvergewaltigungen angetan wird, die Beschneidung materieller, sozialer und politischer Rechte und die Reinstallierung eines von Mutterschaft und Sexualobjekt geprägten Frauenbildes destruiert die gesellschaftliche Machtbasis, die Frauen in Jugoslawien sowohl in den durch Migration feminisierten Dörfern wie in den städtischen Lebenswelten zukam. Die extreme physische psychische Verletzung der Frauen schlägt so tiefe Wunden, daß sie kaum artikuliert werden kann; sie mauert die Frauen in ein auch ideologisches Gefängnis der Ohnmacht, Selbstbescheidung und Opferrolle ein, so daß die kriegerische Repatriarchalisierung eine dauerhafte zu werden verspricht, die weit über ein mögliches Ende des Krieges hinausreicht. So konstituieren sich Subjekte im Krieg neu und reproduzieren sich in ihren alltäglichen Beziehungen. Die Neustrukturierung der Geschlechterverhältnisse, also die Unterwerfung, gewaltsame Erniedrigung der Frau ist die Voraussetzung für ihre gesteigerte Ausbeutung und die Bedingung dafür, die gesellschaftlichen Reproduktionskosten auf ein kriegswirtschaftliches Minimum zu beschneiden - gesellschaftliche Verhältnisse, die den Krieg überdauern.
Aber nicht nur in der Neuverteilung der Geschlechterrollen schafft der Krieg neue Muster der Selbstdefinition: Identitätsbildung nach ethnischer Zuschreibung, Zugehörigkeit zu städtischer oder agrarischer Lebenswelt, das Kriterium militärisch oder zivil internalisieren tendenziell die Ordnungslinien, nach denen die jugoslawische Gesellschaft aufgesplittet und zur Steigerung gesamtgesellschaftlicher Produktivität neu zusammengesetzt werden soll.
Es gibt keine Erhebung gegen den Vernichtungskrieg - mit wenigen Ausnahmen zu Beginn der Kriegshandlungen, als eine breite Antikriegsbewegung existierte. Noch 1992 kamen 150.000 TeilnehmerInnen zu einem Rockkonzert in Belgrad, das unter dem Motto stand: »Wir sehen, wer lügt, plündert, schlägt und mordet, wer die unbewaffneten Zivilisten in die Schutzunterkünfte treibt, die bewaffneten Männer an die Front zwingt und die Eingeschüchterten zu Flüchtlingen werden läßt« (ZEIT v.19.6.92). Inzwischen aber sind Gegenbewegungen nur schwer auszumachen, und sie können unter Kriegs- und Ausnahmerecht sich kaum entfalten. Im unmittelbaren Kriegsgeschehen selbst (Kampfhandlungen, Front, Kaserne etc.) scheint es keine Chancen für Bewegungen zu geben, die sich diesem entgegenstellen könnten, allein das Sich-Entziehen, die Flucht, der Kriegs-Absentismus kann der Logik des Kriegs zumindest teilweise entgegenarbeiten. Die Desertion hat zu Beginn des Kriegs gewaltige Dimensionen angenommen, ermöglicht wurde sie z.T. durch von Frauen geknüpfte Netze des Unterschlupfs und der Versorgung. »Über 50% der serbischen Reservisten mißachteten im Oktober (1991) die Einberufungsbefehle. In der Hauptstadt Belgrad entzogen sich sogar 85% der Volksarmee. Auch in Kroatien erschien angeblich nur die Hälfte der Einberufenen in der neugegründeten Nationalgarde. Viele serbische Deserteure fliehen über die Grenzen, darunter ein hoher Anteil junger Albaner. Die albanische und ungarische Minderheit gelten bei der serbischen Führung als besonders unzuverlässig, ihre Angehörigen werden überdurchschnittlich häufig mit Stellungsbefehlen bedacht« (...). (ami 2/92) Bis zum Februar 92 sind 60.000 serbische Wehrpflichtige ins Ausland geflüchtet (TAZ vom 28.1.92), ca 150.000 Personen flohen bis Mitte 92 vor drohender Rekrutierung ins Ausland (ZEIT 19.6.92). Die Informationen über Desertionen werden bei Intensivierung und Dauerhaftigkeit des Kriegs spärlicher, und es steht zu befürchten, daß die Gewöhnung an den Krieg und seine Perpetuierung die Möglichkeiten der Desertion zunehmend minimiert; sie wird zum Teil der Fluchtbewegung, über die im Kapitel 6 berichtet wird.
Ob sich nicht doch »unterirdisch« Formen sozialer Renitenz entwickeln, die der Kriegsökonomie entgegenarbeiten, vermögen wir nicht zu sagen. Offene Formen des Protestes jedenfalls werden entweder schnell militärisch niedergeschlagen oder, wie ein Teil der Anti-Kriegs-Frauenproteste, nach und nach nationalistisch aufgeladen und damit zu einem friedlichen Arm einer Kriegspartei. Und wo ganze Städte und Regionen sich den Kriegsimperativen nicht unterwerfen, wie z.B. in Sarajewo, werden sie mit einer Strategie des Beschusses und Aushungerns selbst zu einem Mittelpunkt der Kriegshandlungen. Wo der Krieg die ganze Gesellschaft mit seiner brutalen Logik überzieht, scheint kaum ein anderer Weg als die Flucht offen zu bleiben.

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Die Ethnisierung des Sozialen

Die Transformation der jugoslawischen Gesellschaft im Medium des Krieges

Teil VI - Die EG-Migrationspolitik und die Flüchtlinge aus Südosteuropa


Verlag der Buchläden Schwarze Risse - Rote Strasse
Berlin Göttingen 1993
Kontakt zur Redaktion: Buchladen Schwarze Risse,
Gneisenaustr. 2a, 10961 Berlin
Tel. 040-692 87 79 Fax 691 94 63
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Vorwort
Jugoslawien im Kontext des ost- und südosteuropäischen Umbruchs
Bemerkungen zur Kampfgeschichte der moralischen Ökonomie
Zur Kampfsituation 1987
Nationalismus und Ethnisierung
Krieg als Transformationsmechanismus
Die EG-Migrationspolitik und die Flüchtlinge aus Südosteuropa
Zur Rolle des Imperialismus in der jugoslawischen Krisen- und Kriegsdynamik
Anhang


Die Rotationsmigration aus Jugoslawien in der Ara des Kalten Kriegs

Jahrzehntelang erfüllte Jugoslawien die Funktion eines Arbeitskräftereservoirs mit kontrollierter Migrations- und Auswanderungspolitik in die industriellen Metropolen Europas. Seine Sonderrolle in der Konkurrenz des Kalten Kriegs ermöglichte den Export der Ware Arbeitskraft. Die gut ausgebildeten JugoslawInnen waren hochwillkommen; 1973 betrug ihre Zahl allein in der BRD 535.000, Mitte der 70er Jahre arbeiteten 55 % aller jugoslawischen Facharbeiter im Ausland und hielten »damit die Wirtschaft anderer Länder in Gang«.1

Das jugoslawische Regime versprach sich 1968 von dem Anwerbeabkommen mit der BRD ähnliche Vorteile wie auch die Türkei: Export der mobilsten und damit konfliktträchtigsten Arbeiterschichten, Lohntransferleistungen der im Ausland lebenden ArbeiterInnen, Rückkehr industriell geschulter und disziplinierter Arbeitskräfte. Und wenn sich auch die Hoffnungen, daß die Geldtransferleistungen der Arbeitsmigrantlnnen der jugoslawischen Wirtschaft einen Investitions- und gar Modernisierungsschub bescheren würden, genausowenig einlösten wie in allen anderen Exportländern für Arbeitskraft, so war die Arbeitsemigration doch ein wichtiger stabilisierender Faktor. Das Regime und die Armee garantierten einen reibungslosen Ablauf einer Rotationsmigration und der Lohntransfer war ein wichtiger Faktor für das Überleben der administrativen und militärischen Organe. Daß diese das jugoslawische Arbeitskraftpotential den westlichen Zentren als fungible Reservearmee des Arbeitsmarkts zur Verfügung stellten, beruhte, ähnlich wie in der Türkei, auf der Spekulation, daß die Migranten als »ökonomisch erneuerte Arbeiter« ein Hebel für die Modernisierung der eigenen Industrie sein könnten.2 In der Tat funktionierte das System der Rotationsmigration mit den jugoslawischen ArbeiterInnen besser als mit den anderen Nationalitäten. Die meisten von ihnen richteten sich auf eine kurze Migrationsphase ein, nur eine Minderheit holte die Familie nach (34 % gegenüber 70% der Griechen, 48% der Spanier, 38% der Türken), eine sehr hohe Zahl von Jugoslawlnnen ließ sich in Wohnheime oder Wohnlager für Migrantlnnen einquartieren.

Die »Energiekrise« von 1973 und das Auslaufen der Anwerbeverträge führten zu einem Auslaufen der Rotationsmigration. Binnen zwei Jahren sank die Zahl der jugoslawischen ArbeiterInnen um 100.000 auf 436.000, sie blieben aber nach den Migrantlnnen aus der Türkei die zweitstärkste Gruppe, die sich durch den Nachzug der Familien stabilisierte. Zwar verließen zwischen 1975 und 1980348.900 jugoslawische Migrantlnnen die BRD und bis 1986 nochmals 208.100, jedoch wurden in den gleichen Zeiträumen 248.000 bzw. 137.600 Einwanderlnnen gezählt, so daß der Wanderungsverlust bis 1987 auf 180.000 Menschen begrenzt blieb. 1987 lebten bei einer Wohnbevölkerung von knapp 600.000 jugoslawischen Frauen, Männern und Kindern mehr als 400.000 länger als 10 Jahre und mehr als 50.000 länger als 20 Jahre in der BRD. Mit den ersten Anzeichen der Umbruchskrise, mit der jugoslawischen Krise und den Kämpfen der Jahre 1987/88 sank die Rückkehrbereitschaft der jugoslawischen Migrantlnnen, und in den folgenden Jahren begannen die mit dem Umbruch in Ost-und Südosteuropa einsetzenden Flüchtlingsbewegungen, die staatlichen Regulationsmechanismen auszuhebeln. Aus Jugoslawien wurden erstmals ganze Familienverbände in die Emigration getrieben. Sie emigrierten in die Staaten, die bereits eine große jugoslawische »Kolonie« aufwiesen: neben der BRD waren dies Österreich (115.000 Jugoslawlnnen in 1987), die Schweiz (88.000 in 1987) und Schweden (38.000 in 1988). Zugleich verlor Jugoslawien mit dem Zusammenbruch der Ordnung des Kalten Kriegs seine herausgehobene Stellung in Südosteuropa; die Regionalisierung des Balkans in Kleinstaaten an der Peripherie des europäischen Wirtschaftsraums entsprach einer Neuordnung der Arbeitsmärkte im Interesse des europäischen Zentrums.

Die Unterbringung der Kriegsflüchtlinge bei FreundInnen, Bekannten und Verwandten und ihre schnelle Integration auf dem Arbeitsmarkt der BRD - sicher größtenteils zu untertariflichen Bedingungen, aber auch in Österreich und der Schweiz zeugt von intakten sozialen Strukturen in den jugoslawischen »Kolonien«. Waren sie in den 70er und 80er Jahren Anlaufpunkt einer informellen Rotationsmigration, so oblag ihnen nun die Hauptlast für das Überleben der Kriegsflüchtlinge, vor allem aus Kroatien und Bosnien, und sie dienten als - Auffangbecken einer unkontrollierten Einwanderung. Die Form der Unterbringung entlastete die staatlichen Sozialfonds und dem Arbeitsmarkt wurden auf billigste Weise gelernte und ungelernte Arbeitskräfte zugeführt. Auch die physischen und psychischen Schäden der Kriegsflüchtlinge werden größtenteils in den Communities aufgefangen. Sicherlich wird es für die meisten Flüchtlinge keine Rückkehr mehr geben; wie sich das auf die sozialen Netze der Communities auswirken wird, ist noch offen. Jedenfalls müssen sich durch die Einquartierungen ganze Straßenzüge und Stadtteile in den Großstädten der BRD, vor allem in den südlichen Bundesstaaten, neu zusammengesetzt haben; nach staatlichen Schätzungen sind in der BRD 65 000 Flüchtlinge nicht registriert und ihr Verbleib ist offen (FR 21.8.92).




Die unkontrollierte Migration an Ende des Kalten Krieges und die Neuordnung des Großraums

Bald nach dem Zusammenbruch der bolschewistischen Regimes sollte sich zeigen, daß das Aufbrechen des Eisernen Vorhangs zu einer Welle von Migrationen führte, welche die Sozialpolitik in den europäischen Zentren vor zunehmende Schwierigkeiten stellte und die Großraumkonzepte der europäischen Gemeinschaft über den Haufen warf. Die deutschen Botschaftsflüchtlinge und Aussiedler waren noch willkommen, die überfüllten Flüchtlingsschiffe von Bari erschienen wie ein Menetekel, aber noch abwendbar durch den »beherzten« Zugriff der italienischen Polizei - die Migration der Roma und Sinti und dann die jugoslawischen Kriegsflüchtlinge aber führten zu einer rassistischen Neuordnung der Migrationspolitik im europäischen Großraum, die heute noch nicht abgeschlossen ist.

Es ist offenkundig und wir haben es unter dem Stichwort von der »Ethnisierung des Sozialen« dargelegt, daß unter den Ursachen der Migration die Bevölkerungspolitik eine entscheidende Rolle spielt. Die Vertreibungs- oder »Säuberungs«politik gegenüber nationalen Minderheiten stellt einen Angriff dar auf undurchdringliche subsistenzielle Strukturen und eine nicht verwertbare Gesellschaftlichkeit. Hinter der »Serbisierung«, der »Bulgarisierung« oder der rumänischen »agroindustriellen Systematisierung« stehen gleichsinnige bevölkerungspolitische Umsiedlungs- und Rationalisierungsprogramme, die zum Teil schon in der Zeit der bolschewistischen Regimes angegangen worden sind. Nach dem Umbruch ist das nationalistische Gewandt dieses Angriffs krasser, der Rassismus offener und die physische Vertreibung überhaupt erst möglich geworden.

Offen liegt der Zusammenhang von Vertreibung und sozialer Rationalisierung in Rumänien zutage. Mit der Schaffung von »agroindustriellen Zentren« sollten zuerst die ungarische und die deutsche Minderheit zwangsassimiliert oder vertrieben werden. Allein 1987 verließen 20.000 Ungarlnnen das Land. Die sozialistische Entwicklungsdiktatur, in ihrer Krise zu radikalen Maßnahmen verleitet, plante im Zuge der »agroindustriellen Systematisierung« (vgl. Der Spiegel 28/1988) die Einebnung von 7000 Dörfern mit überwiegend deutschstämmiger Bevölkerung und deren Vertreibung oder Neuansiedlung in Plattenbetonsiedlungen an den Stadträndern. Es zeigte sich dann, daß sich die Vertreibung der Deutschstämmigen, für welche die BRD Kopfgelder in Höhe von 8000 DM zahlte, zu einem profitablen Menschenhandel umgestalten ließ. Mit dem Ziel, die Dorfgemeinschaften aufzumischen und die Subsistenzzusammenhänge zu zerschlagen, wurden Roma-Familien systematisch in die verlassenen Häuser der Deutschstämmigen umgesiedelt. Die Einebnungspolitik wurde nach dem Umbruch aufgegeben, jedoch waren die Dorfgemeinschaften schon so zerstört, daß auch die letzten BewohnerInnen bis 1992 das Land verließen; binnen weniger Jahre hatten eine Viertel Million Menschen das Land gezwungen oder »freiwillig« verlassen.

Die Politik der »Bulgarisierung« gegenüber den 1,5 Million Menschen der türkischen Minderheit in Bulgarien liegt auf der gleichen Linie. Auch hier war die Akkumulationsfeindlichkeit der Dorfstrukturen der Hintergrund, daß noch vor dem Umbruch 300.000 bulgarische TürkInnen zur Ausreise in die Türkei gezwungen wurden. Jahrzehntelang war die türkische Minderheit zuvor einem Assimilationszwang ausgesetzt gewesen, der seit 1950 - damals flüchteten bereits eine Viertel Million Menschen - mit der ständigen Bedrohung durch Zwangskollektivierung gekoppelt gewesen war. Der Modernisierungsdruck, der stets von offen rassistischer Gewalt begleitet wurde, eskalierte im Mai 1989 zu massiven Auseinandersetzungen, bei denen mindestens 100 Menschen getötet wurden und die in eine Vertreibung der Türklnnen einmündeten. Damit begann ein Neuordnungsprozeß, welcher der bulgarischen Mehrheit Zwangsarbeit in der Landwirtschaft eintrug, weil zehntausende von Arbeitsplätzen frei geworden waren. Nach dem Sturz des Regimes im Herbst 1989 wurde die Bulgarisierungspolitik kurzzeitig ausgesetzt (man fürchtete die türkische Ökonomie des Partisanenwiderstands, die sich schon an den Nazis erprobt hatte: »Sonst haben wir hier eine Situation wie im Kosovo«) und dann in altem Stil wiederaufgenommen. Trotzdem kehrten viele der Vertriebenen aus der Türkei zurück, weil sie anders als in den Subsistenzstrukturen ihrer Heimatorte dort ihre Existenz nicht sichern konnten. Andererseits führte der Umbruchprozeß in Bulgarien dazu, daß bis zum Herbst 1990 150.000 junge, gut ausgebildete Arbeitskräfte das Land in Richtung Westeuropa verließen.3

Neben den Rassismus der sozialen Rationalisierung tritt auf dem Balkan die Verarmung und Entgarantierung der Bevölkerungen nach dem Sturz der sozialistischen Regimes hinzu. Dies betrifft die Albanerlnnen, von denen seit dem Umbruch 350.000 ihr Land in Richtung Italien und Griechenland verlassen haben, die in Griechenland den illegalen Arbeitsmarkt in der Landwirtschaft speisen und dort andauernden polizeilichen Zugriffen ausgesetzt sind. Beide Faktoren, der Rassismus und die Verarmung, potenzieren sich bei den Roma und Sinti, vor allem in Rumänien, aber auch in den anderen Balkanstaaten und der ehemaligen Tschechoslowakei.

In Rumänien leben zwischen 2 und 3,5 Million Roma (die offizielle Statistik spricht von 410.000), die bis 1856 von den rumänischen Großgrundbesitzern als Sklaven gehalten und gehandelt wurden, die während der Zeit des faschistischen Antonescu-Regimes Mordprogrammen ausgesetzt waren und die im Sozialismus als »asoziale« Randgruppe definiert und behandelt wurden. Durch die Industrialisierung der 60er Jahre wurden sie aus ihren traditionellen handwerklichen Berufen gedrängt, durch die »agroindustrielle Systematisierung« wurden ihre Lebenszusammenhänge weiter zerstört. Nach dem Sturz Ceausescus wurden sie aus dem sich verengenden Arbeitsmarkt weiter verdrängt und fanden allenfalls Zugang zu Arbeitsplätzen mit extrem geringem sozialen Status und entsprechend geringem Lohnniveau. Gleichzeitig ruft die faschistische »Vatra Romaneasca«, die sich der stillschweigenden Unterstützung der neuen Machthaber in Bukarest sicher weiß, wieder zum »blutigen Kampf geg'en die Zigeuner« auf; eine Reihe von Pogromen sind in der westlichen Presse erwähnt worden Natürlich gerieten auch die auf 800.000 geschätzten Roma in allen Teilstaaten des ehemaligen Jugoslawien zwischen die Fronten der sozialen Bereinigungen.

In der BRD wurden die Sinti und Roma noch vor dem Krieg zum ersten Angriffspunkt der neuen Flüchtlingspolitik. Der Hamburger Senat berechnete, daß er durch Vertreibung von 1.000 Roma Sozialkosten in Höhe von 65 Millionen DM sparen könnte. Der Kampf um das Bleiberecht der Roma verdichtete sich seit 1990 in Nordrhein-Westfalen, als zunächst 1.400 Roma in ein Romaghetto bei Skopje umgesiedelt werden sollten. Die Landesregierung hatte mit der Regierung von Mazedonien ein entsprechendes Abkommen, Aufnahme gegen Kopfgeld, abgeschlossen. Es gelang den Roma, der geplanten Deportation letztlich aller 5.000 in NRW lebenden staatenlosen Roma einen hinhaltenden Widerstand entgegenzusetzen; in Anbetracht des Kriegs wurde die Duldung ihres Aufenthalts mehrfach verlängert. Was die Deportierten im ehemaligen Jugoslawien erwartet hätte, wird aus dem Bericht eines 20jährigen Mannes deutlich, der nach Kroatien abgeschoben worden war: »Verhaftung gleich nach der Landung in Zagreb, Handschellen für alle 7 Leute einschließlich seiner l7jährigen Schwester und der l3jährigen Tochter einer anderen Romafamihe, Tritte, Spucken, von Schlägen begleitete Verhöre, Zwangsrasur, endlose Beschimpfüngen, kein Essen, nur Wasser. Am vierten Tag gelang dem jungen Mann die Flucht. Von ständigen gewaittätigen Schikanen gegenüber moslemischen Roma in Mazedonien berichtet ein betroffenes Ehepaar, und immer wieder die Klagen über Vergewaltigungen« (FR 2.1.91).

Um die Migration der Roma zu charakterisieren, reicht es aber nicht, auf die Fluchtgründe zu verweisen. So zwingend diese auch sein mögen - stets enthält die Migration auch Momente der Aspiration und den Anspruch auf Zugang zum Reichtum der Metropolen. Gerade die Sinti und Roma sind es, die diesen Anspruch verkörpern, im Festhalten an ihrer Identität, die sich der industriellen Verwertung entgegenstellt - eine »Überschußbevölkerung« par excellence, welche durch ihre Migration die rassistische Differenzierung im europäischen Großraum konterkariert. Ihre Migration, die Fremdheit ihres Lebensanspruchs außerhalb der industriellen Verwertung und die verbreiteten rassistischen Stereotypen, die sich gegen sie richten, erinnern an die ostjüdische Migration in den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende, die damals den Antisemitismus hervorrief und mit Auschwitz endete. Sich auf diese Menschen und ihre Migration zu beziehen, bedeutet nicht, nur auf die Fluchtgründe zu verweisen, sondern offensiv zu werden für die Beteiligung aller Migrantlnnen am gesellschaftlichen Reichtum der Metropolen.

Auf die Neuordnung des europäischen Großraums, die ja nicht nur Planung und Durchsetzung ist, sondern widersprüchliches Terrain eines sozialen Antagonismus, ein Prozeß von Versuch und Irrtum, von Blaupausen, sozialen Laboratorien und Kämpfen, werden wir in einem folgenden Materialienheft eingehen. Offenkundig nimmt bei dieser Neuordnung die Regulation der Migration eine zentrale Stellung ein, mit ihr steht und fällt die rassistische Staffelung des Großraums. Dabei geht es nicht darum, die Migration zu blockieren, sondern eben sie zu regulieren nach Maßgabe der Arbeitsinärkte, die auf illegale Segmente und Kontingentarbeit längst angewiesen sind. Die BRD verzeichnete im letzten Jahr eine Million ImmigrantInnen (220.000 AussiedlerInnen, 100.000 Personen im Familiennachzug,140.000 osteuropäische Kontingentarbeiterlnnen, 440.000 Asylbewerberlnnen, von ihnen 245 000 aus dem Balkan, und 100.000 Kriegsflüchtige aus dem ehemaligen Jugoslawien); hinzu kamen 200.000 SaisonarbeiterInnen und die illegalen Migrantlnnen, deren Zahl auf eine halbe Million geschätzt wurde. Das Asylverfahren reichte zur Regulation nicht mehr aus, ohnehin war die Anerkennungsquote auf gut 2% gesunken. Die Anderungen der letzten Monate zielen darauf, die Migrantlnnen, die bislang als Asylsuchende kamen, primär in den illegalen Arbeitsmarkt abzudrängen oder ihnen, soweit unverwertbar, den Zugang zu versperren. Diese Politik gilt zuerst den Roma, und in der Perspektive auch möglichen ImmigrantInnen aus der GUS; in diesem Zusammenhang wurde im November 1992 das Deportationsabkommen mit Rumänien geschlossen; es folgten die Konferenz von Budapest (vgl. Der Spiegel 8/1993), auf der Europa in Herkunfts-, Transit- und Zielländer gegliedert und alle beteiligten Länder zu »verfolgungssicheren Drittstaaten« erklärt wurden, und schließlich die bilateralen Rücknahmeverträge mit Polen und der Tschechischen Republik. Die zwölf Innenminister der TREVI- Gruppe beschlossen im November 1992 ein vereinheitlichtes Vorgehen gegen die Flüchtlinge (TAZ 2.12.92), Österreich schloß sich mit einem restriktiven Fremdengesetz an. Es entsteht ein gestaffeltes Grenzsystem, mit Infrarotgeräten und Freiwilligenverbänden an der deutschen Ostgrenze und mit neuen Grenzanlagen an den Ostgrenzen Polens, der Tschechischen Republik, aber auch an den Ostgrenzen Rumäniens und Bulgariens und an der Südgrenze Sloweniens. Die assoziierten Glacisstaaten, die ihrerseits billige Migrationsarbeit aus der Peripherie (vor allem der GUS) verwerten, umgeben die Kernstaaten als »cordon sanitaire« und betreiben, zu diesem Zweck subventioniert, eine vorverlagerte Selektion. Eine analoge Entwicklung findet an der EG-Südgrenze statt, wo allen voran Marokko versucht, sich als Barriere gegen die Migration die Assoziation an die EG zu erkaufen.



Die Politik gegen die Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien

Glacis oder Peripherie, assoziiertes Vorfeld oder zurückgeworfener Lieferant für Billigarbeit? - unter dieser Fragestellung lassen sich auch die Gemetzel im ehemaligen Jugoslawien interpretieren. Von vornherein stand fest, daß das Land als Ganzes nicht integrierbar sein würde, und wohl deshalb preschte die EG unter deutscher Führung vor mit der frühestmöglichen Anerkennung der Teilstaaten. Für Slowenien mit seiner ausgebildeten Infrastruktur war die Sache klar, auch Kroatien mit seinen erholsamen Küsten sollte zum europäischen Glacis gehören, anders als Serbien, Bosnien, Mazedonien oder Albanien, und die erste Probe, welche die assoziationsfahigen Teilstaaten zu bestehen hatten, bestand in der Blockierung der Flüchtlingsströme aus dem südlichen Kriegs- und Krisenchaos. In der Tat erwuchsen aus dem Laboratorium des Kriegs Modelle einer zukünftigen Flüchtlingspolitik: einerseits, in der BRD, das Modell einer sozialkostenfreien Immigration, weil ein großer Teil der Flüchtigen bei Verwandten unterkam und von diesen versorgt wurde, und am anderen Pol die Errichtung territorialer Konzentrationslager in den UN-»Schutzzonen«.

Es entspricht der Natur der Sache, daß ein gravierendes Flüchtlingsproblem aus den assoziationsfähigen Teilstaaten selbst nicht entstand. Slowenien hatte nie ein eigenes Flüchtlingsproblem. Aus Kroatien wurden nach dem Juli 1991 zwar 700.000 Flüchtlinge und Displaced Persons gemeldet, aber die Probleme blieben überschaubar. Von diesen gingen 141.000 nach Serbien, 95.000 nach Bosnien, 45.000 nach Ungarn (aus der Vojvodina vertriebene Ungarlnnen), 20-30.000 nach Slowenien, 15.000 nach Österreich, 5.000 in die BRD, gut 2.000 in die Tschechoslowakei und 1.500 nach Italien, so daß in Kroatien selbst 300.000 Displaced Persons verblieben, die sich in den Hotels an der Küste bequem unterbringen ließen; Engpässe entstanden lediglich in Zagreb mit 100.000 Displaced Persons, aber auch hier entspannte sich die Situation nach dem Waffenstillstand im Januar 92. Viele Flüchtlinge kehrten dann nach Kroatien zurück, andere waren inzwischen in den Communities der BRD, Österreichs und der Schweiz untergekommen, wie oben beschrieben.

Und es entspricht der Natur der Sache, daß es erst die zweite Flüchtlingswelle war, die aus dem nicht integrationsfahigen Bosnien-Herzegowina, die sich zu einem schier unlösbaren Problem entwickelte und die sich mit mehr als 3 Mio. Flüchtlingen schließlich zur ersten Massenvertreibung in Europa nach dem zweiten Weltkrieg ausweitete. Diese zweite Welle begann im April 92; es kamen nicht mehr Landsleute nach Kroatien und Slowenien, sondern als kulturell »minderwertig« deklarierte Bosnier, die im Gegensatz zu den kroatischen Displaced Persons auch nicht mehr in Hotels, sondern in Zeltlagern, Schulen und Turnhallen untergebracht wurden (zunächst in 20 Lagern für je 5.000 Personen, mehr als die Hälfte von ihnen Kinder). In Kroatien schienen im Sommer die Aufnahmekapazitäten mit 600.000 Flüchtlingen, unter ihnen noch 250.000 kroatische Displaced Persons, real erschöpft; Slowenien dagegen bemühte sich, die Flüchtlinge außer Landes zu halten: schon im April, bereits bei 25.000 Flüchtlingen, wurden erschöpfte Aufnahmekapazitäten gemeldet; einen Monat später hatte sich die Zahl verdoppelt und Bosnier ohne Arbeitserlaubnis wurden an der Grenze abgewiesen. Eine zunehmend große Zahl von Flüchtlingen zog es deshalb vor, illegal nach Kroatien und Slowenien einzureisen und auf eine Chance zu hoffen, irgendwie weiter in den Westen zu gelangen.

Nur ein kleiner Teil der Flüchtlinge erreichte die Grenzen der europäischen Kernländer. Am Salzburger Hauptbahnhof und am Grenzübergang Walserberg wurden sie abgewiesen; wochenlang warteten sie vor dem deutschen Generalkonsulat auf ein Visum. Denn anders als bei der Anerkennung Sloweniens und Kroatiens hatte die BRD bei der Anerkennung Bosnien-Herzegowinas die Visumpflicht beibehalten. Aus Kroatien und Slowenien waren zwischenzeitlich 100.000 ImmigrantInnen in die BRD gelangt und bei Angehörigen untergekommen; den Gastfamilien wurde meist ein dürftiges Verpflegungsgeld zugewiesen. Unter österreichischem Druck entschloß sich die BRD im Mai zu einer leichten Kurskorrektur: Bosnierlnnen durften nun, sofern krank oder verwundet, bevorzugt einreisen, ansonsten nur dann, wenn die Aufenthaltskosten durch Verwandte, Bekannte oder Wohlfahrtsverbände gesichert waren; Österreich führte ähnliche bürokratische Schikanen ein.4 Während Italien den Notstand ausrief, als 1320 erschöpfte Bosnier die Grenze erreicht hatten und Flüchtlingsschiffe militärisch aufbrachte und ,zurückschickte, wurde Ungarn zu einem der Hauptaufnahmeländer (60.000 Flüchtlinge, zumeist privat untergebracht).

Auf monatlichen Konferenzen in Wien, Zagreb, Ljubljana und im Juli auf der UN-Flüchtlingskonferenz in Genf wurde der Umgang mit den Vertriebenen zwischen den Anrainerstaaten und der EG verhandelt; dabei wurde immer die »Hilfe vor Ort« favorisiert, von der niemand wußte, wie sie die Bedürftigen erreichen sollte; eine Kontingentierung der Flüchtlinge wurde von allen Staaten abgelehnt; die Kontingente, die schließlich nicht mehr abgewiesen werden konnten, waren in einzelnen Staaten minimal (zum Beispiel Spanien 120, Belgien 879, Großbritannien 1100, Frankreich 1108), und auch die UNO lehnte den Transfer der Flüchtlinge ab, weil damit ja die ethnische Bereinigung nur unterstützt würde. Offenbar fiel es niemand schwer, die »überflüssige« Bevölkerung sich selbst zu überlassen. Diese Konferenzen erinnern in fataler Weise an die Flüchtlingskonferenz von Evian im Juli 1938, auf der international festgestellt wurde, daß das »Judenproblem« als unlösbar gelten mußte, weil es kein Land gab, das seine Grenzen den verfolgten jüdischen Migratlnnen zu öffnen bereit war. In dieser Situation schlug Slowenien vor, nach dem Muster der irakischen Kurdengebiete vier Sicherheitszonen einzurichten - ein Vorschlag, der zunächst zurückgewiesen wurde. Kroatien hingegen entdeckte für sich das Refugee-Business und bot sich als Umschlagplatz der internationalen Hilfsleistungen an, mit denen sich die EG-Staaten von der Flüchtlingsaufnahme freizukaufen suchten. Der Botschafter Kroatiens in Bonn empfahl die »heimatnahe« Unterbringung als die humanere Lösung und rechnete vor, daß die Flüchtlinge in Kroatien 6 DM pro Person, in der BRD aber 50 DM pro Tag kosten würden (FR 1.8.92). Die Verwaltung und Versorgung wurde in Kroatien zum einzigen florierenden Wirtschaftszweig.

Parallel zu den Konferenzen nahmen die Fluchtbewegungen zunehmend dramatische Ausmaße an. Ende Juli wurde die Zahl auf 2,5 Million geschätzt, 10.000 Flüchtlinge wurden täglich registriert, die Illegalen nicht gerechnet. In den Medien wurde von dem Eisenbahnzug mit 5000 Flüchtlingen berichtet, der an der kroatisch-slowenischen Grenze aufgehalten wurde, weil Slowenien die Weiterfahrt verbot, solange kein Aufnahmeland benannt werden konnte. Die Menschen drohten vor laufenden Kameras zu verdursten, und in diesem und einem weiteren Fall nahm die BRD sie auf. Aber hinter diesen Medienereignissen verbarg sich, zum Winter hin zunehmend, eine unglaubliche Not. Im Dezember 92 fristeten in Kroatien 1,2 Millionen Flüchtlinge ihr Dasein. Allein in der Region um Split, dem Auffangzentrum an der bosnischen Grenze, konzentrierten sich 60.000 registrierte Flüchtlinge und eine gleichhohe Zahl Illegaler; der Mangel an Unterbringungs- und Heizmöglichkeiten, Mangel an Decken und Kleidung sowie die Unterversorgung bei der Ernährung führten zu dramatischen Notsituationen (FR 24.10. und 30.10.92).

Es gehört zum Refugee-Business, daß die Not sichtbar wird und erhalten bleibt, weil sonst die Zahlungsmoral der Geberländer nachläßt. Kroatien war an einer Verzögerung des Baus von winterfesten Lagern interessiert, nicht nur wegen eventueller Zinsgewinne aus den Hilfsleistungen, sondern auch, um den Migrationsdruck aufrechtzuerhalten, welcher der Garant zukünftiger

Zahlungen sein würde. Zugleich entwickelte sich in Kroatien ein zunehmender, gegen die bosnischen Flüchtlinge gerichteter Rassismus. »Die Flüchtlinge sind eine genau so große Gefahr wie die Serben«, sagte ein kroatischer Staatsangestellter der FR (12.10.92), weil »die zusätzliche Destabilisierung seines fast zu einem Drittel besetzten Landes durch die ökonomischen, politischen und psychologischen Probleme mit den zu großen Teilen sehr fremdartigen Bosniern, die schon unter frühren Verhältnissen nicht sehr angesehen waren« und die als »nicht integrationsfahig« bezeichnet wurden, den Staat belasten könnten. Eine Arbeitserlaubnis erhielten die Bosnierlnnen ohnehin nicht. Es entsprach also der Ökonomie des Flüchtlingswesens, stets nur Teillösungen anzubieten, und so rotierten seit dem Herbst 1992 eine halbe Million Menschen im Grenzgebiet zu Kroatien auf der Suche nach Nahrungsmitteln und Unterkünften zwischen den Kriegsparteien und Ortschaften, waren ständigem Beschuß ausgesetzt und zur Mobilität gezwungen. Ihre Zahl blieb über den Winter konstant; die Stelle derer, die Kroatien aufnahm, nahmen andere ein.




Die »Schutzzonen«

Je länger sich der Krieg in Bosnien hinzieht, desto besser ist es es den kroatischen und serbischen Milizen möglich, die ethnischen Säuberungen auf einem niedrigen Eskalationsniveau fortzuführen. Denn es geht ja nicht nur darum, die Geländegewinne militärisch zu sichern, sondern auch darum, diese Gebiete bevölkerungspolitisch zu restrukturieren. Das bedeutete im ersten Schritt, die moslemische Minderheit zu vertreiben und in Bewegung zu halten - dazu dienten Terror und Beschießungen der Flüchtlingstrecks. Serbische wie kroatische Milizen blockierten wiederholt die Verteilung von Hilfsgütern für rund 700.000 Menschen in Mittelbosnien; zugleich wurden von den serbischen Milizen im Tal der Drina »humanitäre Korridore« geschaffen, um den Flüchtlingen den Weg in die moslemischen Enklaven offenzuhalten (FR 30.1. und 4.2.93). Also Konzentration der Flüchtlinge in den Enklaven, dann Belagerung, Aushungerung, Einnahme der Enklave und weitere Vertreibung...

Gegenüber dieser Politik, die drei Millionen Menschen »überflüssig« machte und in Bewegung hielt, konnte kein Friedensplan greifen, der nicht das Problem der Flüchtlinge in den Mittelpunkt stellte, die aber niemand haben wollte. Die Politik der westlichen Staaten lief schließlich darauf hinaus, die Säuberungen zu verurteilen, zugleich aber die Milizen gewähren zu lassen. Eine militärische Intervention war unkalkulierbar und wurde insbesondere von den EG-Staaten abgelehnt; die Präsenz der 6.US-Flotte und ihrer Verbündeten in der Adria diente ohnehin mehr dem Zweck, Flüchtlinge aufzubringen und zurückzuschicken, als der Sicherung des Handelsembargos; die Durchsetzung eines Flugverbots über Bosnien und der Abwurf von Hilfsgütern aus Flugzeugen über den belagerten Enklaven markierten schließlich nur eine zivilisatorische Schranke: eine Schranke gegen spektakuläre Formen von Massenvernichtung, aber nicht gegen die Säuberungen selbst. Das Waffenembargo gegenüber den bosnischen Moslems wurde stets aufrechterhalten.

Es entsprach schließlich der Realität, nämlich der Konzentration der moslemischen Bevölkerung in wenigen Enklaven, daß Frankreich den Gedanken ethnischer Großghettos wieder ins »Spiel« brachte, von denen allerdings niemand wußte, wie sie versorgt und verteidigt werden könnten. Der UN-Sicherheitsrat erklärte im Mai 1993 sechs Städte zu »Save Havens«, ohne daß die UN-Truppen je versuchten, die angegriffenen Städte tatsächlich zu verteidigen. Anfang Juni 1993 wurden dann, und hier setzte sich die französiche Initiative gegen die Einwände von Izetbegovic und der US-Regierung durch, acht bosnische Städte, unter ihnen die kurz vor dem Fall stehende Enklave Gorazde, formell zu UN-Schutzzonen erklärt und gleichzeitig wurde beschlossen, diese mit bis zu 10.000 neuen Blauhelmen zu sichern (es handelt sich um die Städte Bilhac, Gorazde, Maglaj, Mostar, Sarajewo, Srbrenica, Tuzla und Zepa).

Der Vorschlag zur Einrichtung territorialer Ghettos mag zu einem Zeitpunkt, an dem die Milizen ihre Angriffe auf Mostar, Sarajewo und Gorazde intensivieren, realistische humanitäre Aspekte haben, aber eben nur dann, wenn man geneigt ist, seine Vorgeschichte zu ignorieren. Es geht uns natürlich nicht darum, alternativ eine militärische Intervention zu propagieren, wie sie in den USA über längere Zeit favorisiert wurde und wie sie als Laboratorium einer neuen Weltinnenpolitik derzeit in Somalia exerziert wird. Aber in Somalia geht es um Öl, in Bosnien um eine bevölkerungspolitische Neuordnung. Es ist hier nur festzuhalten, daß eine großzügige Flüchtlingspolitik dem millionenfachen Elend in Bosnien besser gerecht geworden wäre als zehntausend Blauhelme. Die EG hat, im Gegensatz zu den USA, den Krieg durch frühzeitige Anerkennung der Teilstaaten eskaliert, sie ließ das Flüchtlingsproblem in Bosnien eskalieren, indem sie die Migration blockierte, und sie war es, die schließlich die »Schutzzonen« im UN-Sicherheitsrat durchsetzte. Denn die EG hat, anders als die USA, an der bevölkerungspolitischen Neuordnung an ihrer Peripherie durchaus Interesse, wenn sie nur nicht mit allzu medienwirksamer Grausamkeit abläuft.

Die territorialen Ghettos erfüllen aktuell die Funktion eines Containments gegen die Opfer der bevölkerungspolitischen Rationalisierung, und sie folgen einem Modell, das den europäischen Zentren seit der Kurdenschutzzone im Irak zur Eindämmung der Süd-Nord-Migration zunehmend attraktiv erscheint. Eine Expertise des Bundesinnenministeriums sprach schon vor zwei Jahren von »verfolgungssicheren Zonen«, die in den Heimatländern zu errichten seien und von denen auf nicht politisch Verfolgte ein Abschreckungseffekt ausgehen müßte (Die Welt, 4.7.91). Aber derartige Ghettos können auch Instrumente einer Produktivierung der aus den subsistenziellen Dorfstrukturen vertriebenen Bevölkerung sein; ein historisches Beispiel sind die PalästinenserInnen, die im arabischen Raum eine beispiellose Produktivität entfalteten, nachdem sie ihre Subsistenzbasen verloren hatten; ein weiteres Beispiel sind die chinesischen Flüchtlingsarbeiterlnnen: Hong Kong ist in der Tat ein erfolgreich industrialisiertes Flüchtlingslager, und es ist nicht undenkbar, daß eine ähnliche Entwicklung auch in Sarajewo stattfinden könnte.

Wenn wieder Bilder von den Massakrierten und von der Grausamkeit des Kriegs über die Bildschirme flimmern, staut sich eine Verzweiflung und Wut an, die uns ZuschauerInnen in einem kurzschlüssigen Reflex nach einer höheren Gewalt Ausschau halten läßt, die dem Gemetzel ein Ende bereiten könnte - sei es ein General Morillon, seien es gar die Bomber der NATO. Es ist nicht einfach, sich von diesem Reflex freizumachen, der in den Medien geschürt wird und der den Großmachtinteressen des neuen Deutschland entgegenkommt. Es ist aber nicht an uns, Partei zu ergreifen an einer der Kriegsfronten und sich an der Ethnisierung des Sozialen zu beteiligen. Der Krieg ist eine Rationalisierungsoffensive gegen die Bevölkerung, aber die sozialen Fronten in ihm sind unübersichtlich und gehen nicht in den ethnischen Fronten auf. Die Frauen und Kinder auf der Flucht und die Männer, die sich durch Flucht und Desertation der Beteiligung an der Gewaltmaschine entziehen, sind die Kriegspartei, auf deren Seite wir uns sehen. Im Kampf um offene Grenzen und gegen die Internierung der Flüchtlinge in Lagern liegt ein Terrain, das mit dem ehemaligen Jugoslawien sehr viel zu tun hat.

1 R.C.Rist: Die ungewisse Zukunft der Gastarbeiter, Stuttgart 1980, 5.17 und 24

2 vgl. F.Heckmann, Die Bundesrepublik: Ein Einwanderungsland?, Stuttgart 1981, S.245

3 vgl. FR 8.3.90, 30.10.90 und TAZ 20.6.89,7.77.89

4 Der Spiegel 22/1992; im Übrigen vgl. vor allem die Kapitel Slowenien und Kroatien im Welfflüchtlingsbericht, Edition Parabolis 1992


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Die Ethnisierung des Sozialen

Die Transformation der jugoslawischen Gesellschaft im Medium des Krieges

Teil VII - Zur Rolle des Imperialismus in der jugoslawischen Krisen- und Kriegsdynamik


Verlag der Buchläden Schwarze Risse - Rote Strasse
Berlin Göttingen 1993
Kontakt zur Redaktion: Buchladen Schwarze Risse,
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Vorwort
Jugoslawien im Kontext des ost- und südosteuropäischen Umbruchs
Bemerkungen zur Kampfgeschichte der moralischen Ökonomie
Zur Kampfsituation 1987
Nationalismus und Ethnisierung
Krieg als Transformationsmechanismus
Die EG-Migrationspolitik und die Flüchtlinge aus Südosteuropa
Zur Rolle des Imperialismus in der jugoslawischen Krisen- und Kriegsdynamik
Anhang


Zur Rolle des Imperialismus in der jugoslawischen Krisen- und Kriegsdynamik


In den Medien präsentieren sich die imperialistischen Krisenlenker als neutrale Friedensstifter, die angesichts des »irrationalen« nationalistischen innerjugoslawischen Krieges bemüht sind, die Kontrahenten »zur Vernunft« und zu »friedlichen Lösungen« zu bewegen. Nahezu perfekt wird dem Publikum eine Position der Neutralität und bedauerlichen Hilflosigkeit gegenüber den Konfliktparteien suggeriert.
Bei genauerem Hinsehen jedoch stellt sich heraus, daß im Gegenteil imperialistische Interventionen auf ökonomisch-sozialpolitischer, diplomatischer und militärischer Ebene die Eskalation des sozialen Kriegs gegen die Bevölkerung Jugoslawiens zu einem mit militärischen Gewaltmitteln geführten entscheidend forciert haben.
Durch nationalistische Überformung bzw. Ethnisierung von im Kern sozialen (nicht einfach ökonomischen) Konfrontationen - Ex-Jugoslawien ist diesbezüglich kein Sonderfall - und einem manipulativen Diskurs um auch in Teilen der Linken positiv besetzte Begriffe wie Demokratie, Selbstbestimmungs- und Menschenrechte gelingt es den jeweiligen nationalen Machteliten in Koordination mit Institutionen einer sich konstituierenden »Weltinnenpolitik«, eine »neue Unübersichtlichkeit« zu produzieren, die eindeutige Positionsbestimmungen für solidarisch-unterstützende Parteinahmen verhindert. Resultat: lähmende Ratlosigkeit.
Nicht zuletzt um der rassistischen Formierung einer auch von einigen Linken entdeckten »Interessengemeinschaft des zivilisierten Europas« etwas entgegenzusetzen, ist es notwendig, die sich in Kategorien von Verwertung, Rentabilität und »Überflußbevölkerung« bewegenden imperialistischen Praktiken aus den medienproduzierten Unübersichtlichkeiten zu entschlüsseln.
Zwar gab es nicht den langfristig ausgeheckten imperialistischen Plan zur Zerschlagung und Neuzusammensetzung der jugoslawischen Gesellschaft, aber hinter der sich so hilflos gebenden Verhandlungsdiplomatie verbirgt sich eine knallharte Methodik von Moderation und Steuerung eines Krieges zur gewaltsamen Durchsetzung neuer, weniger widerständiger Sozialstrukturen und zur Reorganisation stabiler nationalstaatlicher Machtgefüge.
Dabei kristallisierte sich faktisch eine gewisse Arbeitsteilung heraus:
- die BRD-Politik forcierte eine an die NS-Großraumkonzeption der gestaffelten und zonierten Verwertungsräume anknüpfende »Neuordnung Europas« die selektive Angliederung derjenigen jugoslawischen Regionen an die EG, welche die »entwickeltesten« Voraussetzungen für ein kapitalistisch zu strukturierendes Akkumulationsregime vorweisen; ihre massive Unterstützung der slowenischen und v.a. kroatischen Führung für deren Absetzbewegung von den »subventionsbedürftigen » südlichen Regionen in einer ethnisch-nationalistisch enorm aufgeladenen Konstellation kalkulierte eiskalt mit dem Neuordnungskrieg und trieb ihn mit den Anerkennungsoffensiven voran;
- USA und EG-Mehrheit sorgen mit Verhandlungen und »Jugoslawien-Konferenzen« dafür, daß der Krieg sich auf einem »low-intensity«-Niveau bewegt und regional begrenzt bleibt; deren zurückhaltenderes Vorgehen in Sachen Zerschlagung und Neuordnung Jugoslawiens, z.B. das serbische Regime nicht zu isolieren, lassen auf konkurrierende längerfristig angelegte und den gesamten Balkanraum einbeziehende Ordnungsvorstellungen schließen (FN 1,), die sich offenbar auch gegen die »Blitzkriegs«-strategie des BRD-Kapitals richtete, einen möglichst exlusiven Zugriff auf die voraussichtlich profitträchtigsten peripheren Regionen Osteuropas vorab sich zu sichern.
- die Einbeziehung der UNO legitimiert eine interventionistische Internationalisierung des Krieges und funktioniert als Vermittlungsinstanz imperialistischer Steuerung und Dosierung des Kriegs in seinem Verlauf. Einige Elemente dieser Moderation sind: Die US/EG-Anerkennungspolitik gegenüber Bosnien-Hercegowina, die den Startschuß lieferte zum Beginn dieses Neuordnungskrieges gegen eine im Teilungsplan sich als »überflüssig« erweisende Bevölkerung. Der Einsatz von UNO-Truppen, mit denen militärische Einheiten der nationalistischen Parteien für Kämpfe anderswo freigesetzt und derweil die zuvor »ethnisch gesäuberten« Gebiete abgesichert werden. Die Sanktionspolitik, die insbesondere die Bevölkerung in »Restjugoslawien« ihrer Existenzgrundlagen beraubt und oppositionelle Bewegungsformen politisch und materiell schwächt, aber keinen Einfluß auf die Führbarkeit des Krieges ausübt. Die diversen »Friedens«pläne und -verhandlungen sanktionieren eine ethnisierende Bevölkerungspolitik mit gezielten Vertreibungen, Vergewaltigungen und Massakern - so wie sie schon vor Kriegsbeginn grob vereinbart worden war - und deren Protagonisten.
Immer deutlicher zeichnet sich ab: der Krieg sollte so lange weitergeführt werden, bis ein Zustand ausgekämpft und ausgehandelt ist, der eine stabile«Neuordnung« der jugoslawischen Gesellschaft und des Balkanraumes verspricht. Und: viele Anzeichen lassen befürchten, daß die Kriege in Jugoslawien als Laboratorium für weitere imperialistisch moderierte »Neuordnungskriege« in Osteuropa fungieren. (1a)


Von der Erosion zur Explosion ...

Seit der Kulmination der sog. Schuldenkrise Anfang der 80er Jahre - und die jugoslawische war eine der verschuldetesten Ökonomien - bestimmten die von supranationalen Finanzorganisationen formulierten Maßnahmen und Auflagen zur Steigerung der gesellschaftlichen Rentabilität zunehmend die innerjugoslawischen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen.
Ähnlich wie in den anderen ehemals sozialistischen Ländern Osteuropas hatte sich in Jugoslawiens herrschender politischen Klasse seit Mitte der 80er Jahre die Position durchgesetzt, allein eine noch stärkere Integration in den imperialistischen Weltmarkt, ein grundsätzlicher Systemumbau und engere Anbindung an den EG-Raum könne die »gesellschaftliche Blockade« - gemeint war die Akkumulationsblockade - aufbrechen. Insofern bestand sowohl zwischen imperialisitischen Interessen und den Vorhaben der verschiedenen jugoslawischen Eliten kein Dissenz - es ging nur darum, wie die »Reformen« gegen die sozialen Widerständigkeiten durchgesetzt werden könnten.(1b)
Konkurrierende Vorstellungen über das Vorgehen, die sich in einer bis 1991 zuspitzenden »Ost-West«-Konfrontation ausdrückten - also serbisches und montenegrinisches Regime contra slowenisches und kroatisches (die Führungen der anderen Republiken verhielten sich widersprüchlich) - beruhten im Kern auf den Unterschieden in der sozialen Zusammensetzung der jeweiligen Bevölkerungen und auf den daraus resultierenden Widerständen, die gegen radikale Marktreformen entwickelt bzw. befürchtet wurden.(2)
So beruhte die Popularität eines Milosevic in Serbien im wesentlichen auf seinem - zumindest verbalen - Festhalten an sozialistischen Existenzgarantien und auf seinen Attacken gegen die Verarmungspolitik der Belgrader Bundesregierung, die er mit nationalistischen Argumentationsmustern zu verbinden suchte, um die auch gegen die serbische Bürokratie aufgestaute Wut wahlweise gegen AlbanerInnen, Slowenien, die jugoslawische Bundesregierung oder westliche Regierungen zu lenken. Und tatsächlich blockierte das serbische Regime in den Bundesorganen immer stärker radikalere Maßnahmen in Richtung Marktwirtschaft, um stattdessen einen Kurs zu propagieren, der der »Selbstverwaltung« mehr Zeit zur Umstellung lassen solle; also statt »polnischem Schockprogramm« eher sozialistische Glasnost- und Perestroika-Marktwirtschaft, eine in der Schärfe des sozialen Angriffs abgemildertete Variante. Parallel dazu forderte das serbische Regime, ebenfalls im Gegensatz zu slowenisch-kroatischen Bestrebungen, eine Ausweitung der zentralstaatlichen Kompetenzen, über deren Majorisierung die serbische Führung dann versuchen würde, ihr Reorganisationsmodell für ganz Jugoslawien durchzusetzen (wozu u.a. die Aufhebung der Autonomie des Kosovos und der Vojvodinas diente).
Dagegen verstärkte sich in Slowenien und Kroatien, nicht nur in herrschenden Kreisen, die zunehmend nationalistisch-chauvinistisch gefärbte Tendenz, sich von den »armen bzw. blockierenden Republiken« zu lösen, um dann eine Programmatik von Deregulation und Weltmarktzurichtung umsetzen zu können.
Aus Sicht imperialistischer Interessen bestand während des ganzen Krisenverlaufs der 80er Jahre bis `90/`91 das Dilemma, daß durch die zentrifugale Dynamik der Ausweitung von Kompetenzen auf Republiksebene es eine zentrale Institution mit realer Machtbasis immer weniger gab, noch eine gesamtjugoslawische »Reformbewegung« aus dem Widerstand sich herausbildete, die aufgrund ihres geselschaftlichen Einflußterrains in der Lage gewesen wäre, den sozialen Unmut in neue produktivere Vergesellschaftungsformen zu überführen (wie z.B. in Polen die Solidarnosc). Eine militärische »Lösung« à la Polen `81 wurde wohl des öfteren diskutiert (z.B. Anfang `88, taz 5.1.88), aber aufgrund der unsicheren Basis der Jugoslawischen Volksarmee (JNA) wohl nie ernsthaft erwogen. Erst nachdem es wenigstens z.T. gelungen war, die zugespitzte soziale Auseinandersetzung um Produktivitätssteigerung und Höhe der gesellschaftlichen Reproduktionskosten ethnisch-nationalistisch zu überformen, konnten die herrschenden politischen Klassen diese Auseinandersetzung in eine mit militärischen Mitteln geführte eskalieren. Aus diesem Dilemma heraus versuchte das internationale Kapital, die Belgrader Zentralregierung zu stärken, die programmatisch für Durchsetzung einer IWF-Politik bei Erhaltung des jugoslawischen Staates stand, was bis Mitte '91 sich mit imperialistischen Vorstellungen deckte. Allerdings war die Zentralregierung ohne reale Machtbasis, allein die JNA und die Bundespolizei waren ihr formal unterstellt.
Auf dem Hintergrund des Zerfalls des realsozialistischen Machtblocks Ende der 80er Jahre brauchte auf frühere westliche Befürchtungen, mit einer zu harten Gangart z.B. bei den IWF-Auflagen das jugoslawische Regime aus der Neutralität in die Arme der SU zu treiben, keine Rücksichten mehr genommen zu werden. Mit der Ernennung des früheren Kombinatsdirektors und sich offen zur Marktwirtschaft bekennenden Markovic im Frühjahr `89 zum Ministerpräsidenten wird der verschärfte imperialistische Druck auch innenpolitisch nachvollzogen. In den Jahren zuvor waren wiederholt Umschuldungsabkommen und Neukredite vereinbart, die damit verbundenen Auflagen zu »Strukturanpassungen« allerdings nicht eingehalten, sondern lediglich mit sog. »orthodoxen« staatsinterventionistischen Maßnahmen wie z.B. Lohn- und Preisstopps oder absprachewidrigem Drucken von Neugeld umgangen worden.
Dagegen propagierte Markovic in seiner Antrittsrede - in enger Anlehnung an IWF/EG-Forderungen - einen zusammenhängenden jugoslawischen Markt, damit sich »Waren, Kapital und Arbeit frei bewegen können«, die Deregulierung von Gesetzen, welche »die Rolle des Marktes und wirtschaftlicher Einheiten unterdrücken«, Zulassung von Privateigentum, mehr Joint Ventures statt Kreditaufnamen für Neuinvestitionen. (NZZ 18.3.89)
Während des Jahres `89 läßt die neue Regierung die Inflation gezielt auf über 1000% steigen - eine massive Entwertung von Sparguthaben und Einkommen (weil die Inflationsanpassungen immer hinterherhinken). Gleichzeitig werden kapitalistische Organisations- und Regulationsformen eingeführt wie z.B. die Gründung von Aktiengesellschaften. Allerdings gibt es weiterhin Streiks und Demonstrationen. Die serbische Führung fordert mehrmals ein Anti-Inflations- bzw. »Schockprogramm«, »um die Verarmung der Massen zu stoppen« (NZZ 13.8.89); sie muß die im Republikenvergleich höchsten Lohnzuschläge zugestehen (NZZ 28.5.89). Im Laufe des Jahres stellt sich heraus, daß die Reallöhne bundesweit im Schnitt doch wieder unabhängig von der Produktivität gestiegen sind (NZZ 22.6.89), und daß statt der erhofften Privatisierung »gesellschaftlichen Eigentums« nur kleine sog. »Nebenerwerbsbetriebe« gegründet werden und eine unkontrol­lierte »Schattenwirtschaft« entsteht (NZZ 13.8.89). Die Wirtschaftreformen werden verschoben (FR 10.10.89), IWF und Pariser Club weigern sich, über neue Umschuldungen zu verhandeln (NZZ 13.8.89).
Es stellt sich heraus, daß einzelne Deregulierungselemente wie z.B. die »Freigabe« vorher staatlich festgelegter Preise, Importe und Devisenzuteilungen für Großbetriebe von den »Kombinaten« bloß ausgenutzt werden, um ihre Schließung weiter hinauszuschieben, obwohl sie nach kapitalistischen Rentabilitätskriterien längst Konkurs hätten anmelden müssen. Dieser »Vakuumzustand zwischen zwei Wirtschaftssystemen« (NZZ 11.10.89) könne solange nicht aufgebrochen werden, wie das Konkurrenzprinzip nicht völlig akzeptiert sei. Ohne Zerschlagung des »vergesellschafteten Sektors«, der noch immer über 90% des BSP erwirtschafte, und der »Selbstverwaltung«, die wirksame Entlassungen verhindere, sei es un­möglich, daß strukturelle Reformen tatsächlich greifen, so der IWF (HB 16.10.89). Solche Positionen wurden seit Mitte der 80er Jahre immer wieder formuliert, doch nun rücken sie ins Zentrum der Krisendiskussion und werden auch vom ZK der KP Jugoslawiens übernommen, wobei nur der relativ isolierte Milosevic »querschlägt« (taz 19.10.89). Allerdings war auch sein als Alternative zum Belgrader Austerity-Kurs gedachter, an die nationalistische Mobilisierung anknüpfender Sanierungs-Coup, eine Volksanleihe zur » Wiedergeburt Serbiens«, ein »eklatanter Mißerfolg« (NZZ 17.11.89), weil sie nicht gekauft wurde.
Gegen Ende des Jahres werden die Forderung des IWF, endlich ein »realistisches Konzept« vorzulegen, immer dringlicher. Zur gleichen Zeit eskaliert der Konflikt zwischen slowenischer und serbischer Republikführung, die zum Boykott slowenischer Waren aufruft (taz 1.12.89); die kroatische Führung stellt sich auf die Seite der slowenischen ( taz 2.12.89).
Während Anfang Dezember in Belgrad neue Verhandlungen mit dem IWF beginnen (NZZ 9.12.89), stellt das serbische Regime den Reformkurs insgesamt infrage (NZZ 10.12.89).
Noch setzen die imperialistischen Agenturen auf die Belgrader Bundesregierung und ihre Durchsetzungskraft, obwohl schon offen diskutiert wird, ob überhaupt zwei verschiedene Wirtschaftssysteme - also konkurrierende Deregulierungsvorstellungen - in einem Staat (»Föderation«) existieren können.
Im Dezember `89 tritt ein mit dem IWF abgestimmtes »rigoroses Stabilisierungsprogramm« inkraft: bis Mitte `90 werden Löhne und (nicht alle) Preise eingefroren, der Dinar im Verhältnis 1:7 an die DM gekoppelt (NZZ 20.12.89). Dieses »Konvertibilitätspaket« gilt als Sachs-Programm - jener Jeffrey Sachs, der schon in Bolivien und Polen die brutalen Verarmungsprogramme entworfen hatte, war nun von der Markovic-Regierung als Berater engagiert worden und sollte als Promotor Jugoslawiens weltweit werben (NZZ 21.1.90). Die serbische Republikführung, die durch die dadurch ausgelöste Verarmungsdynamik am stärksten unter Druck geraten wäre, lehnte das Programm ab - die kroatischen, slowenischen und bosnischen Führungen unterstützen den Plan (FR 21.12.89).
So gilt schon Ende Februar das Programm als gefährdet, denn es fehlt der Bundesregierung, die sich inzwischen von der KPJ losgesagt hatte und deren Direktiven von nun an ignorieren will (FR 23.1.90/*FN 3), die Macht, die vom IWF geforderten Maßnahmen, wie Stillegung »unrentabler« Betriebe, in den Republiken durchzusetzen. Ein Schlaglicht auf die verwertungsmäßig völlig blockierte Situation wirft auch die Meldung, ausländische Kredite zur Entwicklung der Privatwirtschaft (u.a. von EG und Weltbank) würden bei den jugoslawischen Banken angehäuft, weil es keine »sinnvollen Projekte« gebe, in denen zu investieren lohne (NZZ 28.2.90).
Das Jahr 1990 ist gekennzeichnet durch weitere Zuspitzung der vorhandenen Widersprüche: die herrschende politische Klasse der beiden Westrepubliken treiben ihre Unabhängigkeit weiter voran (*FN 4), unterstützen aber das Markovic-Regime in der Umsetzung der IWF-Austeritypolitik; das serbische Regime stellt sich an die Spitze der Reformgegner, agitiert gegen Lohnraub und Verarmung (NZZ 9.9.90) und fordert nach wie vor eine »Föderation« mit starker Zentralregierung (Spiegel 9.7.90); die Bundesregierung ruft zu »Einheit und Geschlossenheit« auf, will mehr Macht zur Durchsetzung einer kapitalistisch ausgerichteten Marktwirtschaft und wird dabei von EG und USA unterstützt.

Bis zum Ende des Jahres spitzt sich die Spaltung Jugoslawiens in zwei Lager, »ein westlich-bürgerliches und ein östlich-sozialistisches« (NZZ 25.12.90) weiter zu; dabei geht es im Kern um die eskalierte Auseinandersetzung der den Verlust ihrer Macht und Privilegien fürchtenden herrschenden politischen Klassen um die effektivere Variante zur Steigerung der Produktivität und Akkumulation. Inzwischen hat der IWF die Auszahlung von vereinbarten Abschlagszahlungen gestoppt (NZZ 25.10.90), und noch immer verschulden sich die Betriebe weiter, um Konkursen auszuweichen (NZZ 25.10.90). Im Januar '91 durchkreuzt das serbische Regime bewußt die vereinbarten IWF-Auflagen, indem es die Notenpresse anschmeißt und damit auf Kosten höherer Inflationsraten staatliche Defizite ausgleicht. März/April `91 eskaliert die Krise »von der Erosion zur Explosion« (NZZ 10.3.91). IWF und Pariser Club verlangen ultimativ, die Bundesregierung solle endlich einen Mechanismus zur Durchsetzung der brutalen Reformmaßnahmen vorweisen, wozu Markovic nicht in der Lage ist (NZZ 6.3.91). Kurz zuvor hatte die serbische Regierung sogar eine Rückkehr zu realsozialistischen Wirtschaftspraktiken gefordert (NZZ 8.2.91). Die sozialpolitische Situation ist dramatisch: 1662 Betriebe mit 725.000 ArbeiterInnen stehen vor dem Konkurs, weiteren 6.000 mit über 2 Mio. ArbeiterInnen droht das gleiche Schicksal; hunderttausenden, v.a. in Serbien und Kroatien, wurden seit Monaten die Löhne nicht ausgezahlt; in allen Republiken gibt es Streiks, Mitte März in Belgrad eine Massendemonstration gegen die serbische Regierung; die Gesamtstaatskassen sind leer und die Teilrepubliken zahlen nicht mehr ein (NZZ 6.3.91). Das Staatspräsidium, höchstes Entscheidungsgremium auf Bundesebene, funktioniert nicht mehr, erst auf Druck der EG kommt es zu einem Treffen der Republikchefs (NZZ 19.3.91). Die jugoslawische Regierung braucht unbedingt Kredite von den internationalen Kapitalmärkten, sonst ist die Außenliquidität ge­fährdet (NZZ 29.3.91). Jeffrey Sachs wechselt von Belgrad nach Ljubljana, weil er die Einführung einer Marktwirtschaft für ganz Jugoslawien abgeschrieben hat, sie aber für Slowenien und Kroatien für möglich hält (NZZ 24.4.91). Wegen der unklaren politischen Lage storniert der IWF die Anfang `91 vereinbarten Kredite (SZ 1.6.91). Die serbische Führung versucht, Regierungschef Markovic zu stürzen, scheitert aber (HB 1.6.91).


... zum Krieg

Die Darstellung der Entwicklung bis Mitte '91 sollte deutlich machen, was gemeint ist, wenn aus imperialistischer Blickrichtung von »gesellschaftlicher Blockade« die Rede ist. Die Blockade war eine doppelte: die soziale Widerständigkeit verhindert alle Angriffe zur Anhebung der gesellschaftlichen Produktivität, und die herrschende politische Klasse ist aus den verschiedensten o.g. Gründen nicht in der Lage, sich auf koordinierte soziale Angrifflinien zu einigen. So zielten die EG/US Einflußnahmen in der Phase 90/91 zunächst noch auf eine Neuordnung der staatlichen Machtorganisierung, um die geplanten kapitalistischen Reformen überhaupt »effektiv« durchsetzen zu können.
Bis Juli '91, also bis zum Beginn der ersten militärischen Auseinandersetzungen in Slowenien, unterstützen USA und EG wie zuvor das Konzept der Zentralregierung in Belgrad und drängten die verschiedenen Republikführungen mit Kreditversprechungen bzw. der Ankündigung forcierter EG-Assoziierungsverhandlungen, sich auf dieses Konzept zu einigen und »nationalistische Alleingänge« zu unterlassen, womit sowohl die kroatischen und slowenischen Unabhängigkeitsbestrebungen wie die nationalistisch-sozialistische Politik der serbischen Führung gemeint waren. Letztere wurde v.a von den USA immer wieder als besonderer Störfaktor kritisiert (u.a. NZZ 22.6.91).(5)
Dieser Kurs begründet sich aus dem Interesse der internationalen Gläubiger an einer geregelten Schuldenrückzahlung und aus der Befürchtung, eine Revision der Grenzen Jugoslawiens könnte weitere unkalkulierbare Entwicklungen in anderen Teilen Osteuropas und besonders in der Ex-Sowjetunion nach sich ziehen. Wohl wurde über Neuordnungsszenarien diskutiert, aber noch war nicht abzusehen, wie ein solcher Neuordnungsprozeß in kontrollierten Bahnen zu vollziehen wäre (5a).
Bestärkt durch die offizielle Haltung von EG und US-Regierungen, wobei letztere sogar ihr Einverständnis zu einer begrenzten militärischen Aktion signalisiert hatte (FN 5b), reagierte die Markovic-Regierung mit der Entsendung von JNA- und Polizeieinheiten auf die slowenische Unabhängigkeitserklärung vom 26.5.91, um die Sezessionsbestrebungen zu beenden. Die Aktion sollte nicht den Charakter einer regelrechten militärischen Auseinandersetzung bekommen, weitete sich aber zu einer solchen aus, nachdem slowenische Territorialeinheiten das Feuer auf die praktisch unbewaffneten JNA-Soldaten eröffnet hatten. Im darauf folgenden sieben Tage währenden Waffengang unter Einsatz schwerer Waffen (mit Jagdflugzeugen und Panzern) erwies sich die JNA als zu desorganisiert, dem slowenischen Alleingang kurzfristig ein Ende zu setzen; die »Jugoslawische Volksarmee« - schließlich eine der größten Armeen Europas, traditionell ein nicht nur militärisch gewichtiger Faktor der jugoslawischen Gesellschaft und neben der Bundespolizei einzig verbliebene Machtstütze der Belgrader Zentralregierung - hatte »versagt«, »ihr Mythos als Garantie der Einheit Jugoslawiens ist in seinen Grundfesten erschüttert« (NZZ 9.7.91). (6)

EG/USA schwenkten in Anbetracht der unerwartet eklatanten Schwäche der bundesstaatlichen Institutionen, auf die sie bisher gesetzt hatten, sofort um: sie verlangten die sofortige Einstellung aller Kampfhandlungen, und mit dem unter EG-Leitung zustandegekommenen »Abkommen von Brioni« ist das alte Zentralstaatskonzept (»Föderation«) vom Tisch, und die Abtrennung Sloweniens schon fast besiegelt (7).
Durch die Konfrontation in Slowenien überdeckt, eskalierten in der Zwischenzeit weitere Entwicklungen. Wie das neue slowenische Regime hatte sich auch das kroatische schon seit längerer Zeit aus Beständen der JNA und auf den internationalen Märkten mit Waffen eingedeckt und mit dem Aufbau einer eigener Armee (»kroatische Nationalgarde«) begonnen - dafür kam der 4 Mia.$-Kredit (Zinssatz: o,7%!) des Vatikans an die kroatische Regierung sicher nicht ungelegen (taz 11.2.91). Seit März d.J. war es wiederholt zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen kroatischen und serbischen Polizeieinheiten gekommen. Schon Mitte Juli `91 (!) werden erstmals Gespräche zwischen dem kroatischen Regierungschef Tudjman und Milosevic über eine Aufteilung Bosnien-Hercegowinas bekannt. (8)
Obwohl diese Entwicklungen allgemein bekannt waren, übte keine westliche Regierung nennenswerten Druck auf die Republikführungen aus, die sich anbahnende militärische Eskalation zu stoppen.
Das Scheitern der JNA in Slowenien verdeutlichte auf eindrucksvolle Weise die Schwäche der bisherigen jugoslawischen Regulationsmechanismen, die auch nicht imstande sein würden, die sozialen Konfliktualitäten, die sich ja gerade auch im JNA-Desaster ausgedrückt hatten, zu beherrschen - auch ein zentral gesteuerter Putsch durch die JNA »zur Rettung der Nation« schied nun endgültig als Möglichkeit aus.
Von nun an plädierten USA und EG-Mehrheit für eine »Konföderation« in Analogie zum EG-Modell, während die BRD-Regierung schon jetzt die Formel vom »Minderheitenschutz und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker« in die internationale Debatte einbringt. (NZZ 30.6.91)(9)


»Neuordnung Europas« und die Jugoslawien-Politik des BRD-Regimes

Ab dem Moment der Niederlage der letzten gesamtjugoslawischen Institutionen zielte die BRD-Regierung auf die Zerschlagung des jugoslawischen Staates und setzte die Loslösung der slowenischen und kroatischen Republik sowie deren projektierte EG-Anbindung gegen andere imperialistische Konzepte offensiv durch. Bei diesem Vorgehen konnte sie sich auf einen Konsens mit der Mehrheit der staatstragenden Opposition stützen.(FN 10) Schon vorher hatte das BRD-Außenministerium insbesondere die kroatische Regierung auf inoffiziellen Wegen dazu ermutigt, die Föderation zu verlassen und die Unabhängigkeit zu erklären (vgl. konkret 6/93). Letztlich gelang es der BRD-Führung Ende '91, andere EG-Regierungen mit politischen Tauschgeschäften im Zusammenhang mit den Maastrichter Verträgen auf BRD-Linie zu bringen. (11)
Die BRD-Politik der forcierten Installierung eines slowenischen und kroatischen Staates eskalierte die einzelnen bewaffneten Auseinandersetzungen in den überwiegend von der sog.«serbischen Minderheit« bewohnten Gebieten in Kroatien zu einem »low-intensity«-Krieg mit Bevölkerungvertreibungen und »ethnischen Säuberungen«. Mit der mehrfach ausgesprochenen Anerkennungsdrohung erhielt die kroatischen Führung den nötigen Rückhalt - auch gegen die Opposition in Kroatien -, den Krieg weiterzuführen und seinerseits zu eskalieren.(12), was wiederum dazu benutzt wurde, die Unabhängigkeit als einzige »Konfliktlösung« zu propagieren. Die Formulierung des damaligen BRD-Außenministers Genscher, mit jedem Schuß rücke die Anerkennung Sloweniens und Kroatiens näher, bringt das zynische Kalkül treffend auf den Punkt.
Das »Recht auf Selbstbestimmung«, das in der öffentlichen Debatte immer wieder als Legitimationskonstrukt bemüht wurde, und das damit (meist völkisch begründete) Nationalstaatskonzept implizieren eine Logik, die unweigerlich zu einer Auseinandersetzung um Zugehörigkeit, aber auch Ausschluß von Teilen der Gesellschaft und zu konkurrierenden Ansprüchen auf Ressourcen führen muß - entlang willkürlich definierter ethnischer, nationalistischer, religiöser ... Kriterien, die jegliche sozialen Widersprüche in den Hintergrund drängen sollen. Und tatsächlich gelang es in Kroatien, in der Vorkriegszeit ein Schwerpunkt der Streik- und Protestbewegung gegen die Austeritypolitik, mit dem Krieg einen weitgehenden nationalen Konsens herzustellen, so daß soziale Forderungen hintangestellt wurden ( vgl. Süd-Ost-Dialog 3/92). Inzwischen ist in fast allen Betrieben durch Verstaatlichung als Zwischenschritt zur zukünftigen Privatisierung die »Arbeiterselbstverwaltung«, ein Ausdruck der jugoslawischen Akkumulationsblockade, ausgehebelt.
Mit der massiven Protegierung des Tudjman-Regimes und seiner nicht ohne Grund als »klerikal-faschistisch« bezeichneten politischen Sozialordnungskonzepte (13) kalkulierte die BRD-Politik eine Verschärfung der nationalistisch-ethnisch formierten Konfrontation auch in Bosnien-Herzgowina ein - selbst der damalige EG-Vermittler Carrington wies Ende '91 darauf hin, daß »mit der Anerkennung Kroatiens die Zündschnur des Krieges nach Bosnien gelegt werde«. (Zeit 11.12.92) Auch gab es von der BRD-Regierung zu den seit März '91 regelmäßig stattfindenden serbo-kroatischen Verhandlungen über die Aufteilung Bosnien-Hercegowinas nie ein Wort der Kritik an »ihrem Schützling«.
Parallel zur Erosion der sozialistischen Regimes und der sich nun vollziehenden »Öffnung der Räume« für den inwertsetzenden kapitalistischen Zugriff auf Osteuropa verlagerte sich die strategische Ausrichtung des BRD-Imperialismus dahin, nicht mehr bloß tonangebender Faktor innerhalb der EG, sondern auch »führend in der Neuordnung Osteuropas« zu werden.
Beginnend mit der »Ostpolitik« der SPD Anfang der 70er Jahre hatten sich BRD-Konzerne den mit Abstand größten Anteil an den Geschäften mit den sozialistischen Regimes gesichert. Seit Mitte der 80er Jahre ging es nun um den Ausbau politökonomischer Abhängigkeiten zur Organisation des Werttransfers aus der neuzuerschließenden Peripherie in die Zentren der Akkumulation. Um diesen Prozess zu gewährleisten, mußte das BRD-Regime - in geringerem Umfang auch im Rahmen von EG-Programmen - mit einem gigantischen »deficit spending« (staatliche Verschuldung für Neuinvestitionen etc.) und mit Privatbankkrediten Projekte zur Deregulierung und Neuzusammensetzung der osteuropäischen Ökonomien und für Elemente begrenzter sozialer Abfederung (z.B. in der Ex-DDR) finanzieren; allein die GUS-Regierungen wurden bis Anfang '92 mit ca. 72 Mia.DM kreditiert. Parallel wurde die Anbindung über EG-Handels- und Kooperationsverträge sowie Assoziierungsabkommen vorangetrieben.(FN 14) Das starke Engagement in Osteuropa setzt das BRD-Kapital unter Druck, alle Möglichkeiten der Beschleunigung des Transformationsprozesses zu sondieren und ggf. forcierend einzugreifen (z.B. der Versuch einer freien Produktionszone Kaliningrad, die Anerkennungsoffensive im Baltikum, die Separatverhandlungen mit dem Ukrainischen Regime, das Projekt Deutsche Wolgarepublik). Denn bis jetzt ist nicht erkennbar, daß es zu umfangreicheren BRD-Investitionen, außer z.T. in der Tschechischen Rpublik, gekommen wäre. Im Gegenteil wird über das langsame Tempo des »Reformprozesses« in Osteuropa lamentiert.
Ex-Jugoslawien hatte für das BRD-Kapital die Funktion eines Standorts »passiver Lohnveredelung«, d.h. Weiterverarbeitung in der »low-tech«-Produktion zu Niedriglöhnen, z.B. im Stahl-, Elektrogeräte- und Textilbereich. »Fast ein Drittel der im deutschen Auftrag im Ausland gefertigten Bekleidung - also Waren im Werte von 2,2 Mia. DM kam 1990 aus dem Balkanstaat.« (Wirtschaftswoche 9.8.91) 1988 gab es über 300 umfangreichere Joint-Venture-Abkommen mit BRD-Firmen (Razumovsky, 1991). Die jugoslawischen Gesamtexporte in die BRD betrugen 1990 7,3 Mia. DM, die Importe 8,3 DM. Der größeren Weltmarkteinbindung der Ökonomien Kroatiens und Sloweniens entsprechend war/ist auch die Bedeutung diser Region für das BRD-Kapital. Auch besteht der größte Anteil der jugoslawischen Auslandsverschuldung aus Krediten von BRD-Staat und -Banken.
Das Osteuropa-Projekt ist dem BRD-Kapital von solcher Wichtigkeit, daß im Sommer '93 darüber wesentliche Elemente der Maastrichter EG-Verträge gekippt wurden: trotz der hohen Staatsverschuldung, v.a. wegen der Ostkreditierung, hielt die Bundesbank die Zinsen für die DM hoch, um die internationalen Kapitalströme weiter zur Finanzierung neuer Investitionen in die BRD zu lenken; das Europäische Währungssystem (EWS), Vorstufe zum »Herzstück« der Einigungsverträge, der geplanten Währungsunion mit Einheitswährung, wurde zum Platzen gebracht, die »starke DM« aber wird Leitwährung bleiben, mit allen damit verbundenen finanzpolitischen Vorteilen gegenüber anderen westeuropäischen Ökonomien (ähnlich wie beim US-Dollar).
Wahrscheinlich war dies der erste Schritt zu einem schon seit geraumer Zeit diskutierten »Europa der zwei Geschwindigkeiten«: eine Gruppe von Staaten, die ihre Finanz- und Sozialpolitik schrittweise angleichen und evtl. eine »Kern-EWS« bilden (FN 15); abgekoppelt würden die südeuropäischen Staaten, deren Regime nicht in der Lage sind, dem sozialen Druck gegen Einkommenssenkungen und Produktivitätssteigerungen standzuhalten. »Im Klartext: Die Reicheren im Norden werden nicht haften für eine zu expansive Finanzpolitik und eine überzogene Lohnpolitik im Süden der EG. (...) De facto heißt das: auf mittlere Sicht keine Chance für Griechenland, Italien und Portugal, (...) und große Schwierigkeiten für Spanien und Belgien«, so der IHK-Vorsitzende H.P. Stihl. Zur Zukunft Osteuropas in seinem Szenario: »Polen, Ungarn und die frühere Tschechoslowakei sind der Gemeinschaft `assoziiert', also handelspolitisch eingebunden. Länder wie Estland, Lettland, Littauen und Slowenien werden folgen. (...) (Sie) sind auch als Produktionsstandorte interessant: sie liegen nah an der EG, die Türen in die EG sind dank der Assoziierungsabkommen weitgehend offen, die Arbeitnehmerschaft ist qualifizierungsfähig, Steuern und Löhne sind niedrig.« Für Europa insgesamt« (...) muß ein Nebeneinander unterschiedlicher Integrationstiefen - nach dem Muster `konzentrischer Kreise' - der Fortentwicklung der Gemeinschaft keineswegs abträglich sein.« (16)
Im Zentrum die BRD: »Unsere Zukunft als Industrieland ist der eines Systemkopfs, aber nicht die eines Herstellers von Profilstahl und Hemdennähers«, so Roland Berger, führender Unternehmensberater. Auf die Frage, welches Land er für eine lohnintensive Fertigung empfehlen wüde: »Für mich kommt derzeit die Tschechoslowakei in Frage, bei klaren politischen Verhältnissen auch Ungarn, Polen und das Baltikum. Die Löhne dort werden nicht so schnell steigen wie in den westlichen Niedriglohnländern Spanien, Portugal und Irland.« (17)
Was hier nur grob skizziert werden kann, zeichnet sich als Projekt des BRD-Imperialismus der 90er Jahre ab. Ex-Außenminister Genscher:«Jetzt geht es darum, eine neue Ordnung für ganz Europa zu schaffen.« (WamS 16.10.91) Diese »neue Ordnung« erinnert nicht von ungefähr an die seit den 20er Jahren entwickelten Planungen vom »Großraum«, die der NS mit seinen Eroberungs- und Vernichtungsfeldzügen umzusetzen trachtete. (18)
»Eine Reihe der klassischen Regulationsmechanismen im Großraum tauchen wieder auf: regionale Leitwährungen, gestaffelte Verwertungsintensität und gestaffelte Masseneinkommen (...) ; im Unterschied zu den 30er Jahren gibt es keinen New Deal, sondern eine Deregulation des Sozialstandards, so daß die regionalen Standorte dezentral um die soziale Rentabilität konkurrieren.« (Thesen zu EG '92, Redaktion Materialien Mai 1992)
Und ähnlich der NS-Strategie werden in Staaten, die keine homogene Gesllschaftsstruktur aufweisen, sondern regionale Arbeitsteilungen entwickelt haben, die Regionen herausgelöst und enger angebunden, die bestimmte Verwertungskriterien erfüllen: die baltischen Staaten aus der Ex-SU, Slowenien und Kroatien aus Ex-Jugoslawien.
Und die nächsten Schritte zur Organisierung des Werttransfers aus Slowenien folgten schon: sog. Kooperationsabkommen zur »Exporterleichterung« in die EG (NZZ 7.4.93) und EG-Umstrukturierungs-Förderprogramme (FR 12.8.92), eine engere EG-Assoziierung ist bereits angekündigt.
Vor diesem Hintergrund der Europa-Neuordnungspläne erklärt sich der »Alleingang« der BRD-Diplomatie innerhalb der EG in Bezug auf die Zerschlagung des jugoslawischen Staates: die Gunst der Stunde nutzend, forcierte das BRD-Regime die Lostrennung der beiden Nordrepubliken, um in diesem Teil Osteuropas (endlich) den kapitalistischen Umstrukturierungsprozess seiner sozialen Blockierungen zu entledigen - dabei wurde gezielt an die ethnisch-nationalistische Konfrontationsdynamik angeknüpft und diese zum Krieg gesteigert.
Erste Kriegsgewinne deuten sich an: unter der Überschrift »Siemens kauft Kroatien« wird in der Zeitschrift Süd-Ost-Dialog (12/92) berichtet, Siemens plane den Ankauf von kroatischen Staatsobligationen (=staatliche Schuldscheine) im Wert von 3 Mia.$ (!). Diese Obligationen kann der BRD-Konzern in großem Stil gegen profitable kroatische Anlagen eintauschen. Schon hat Siemens sein Auge auf den Energiesektor geworfen. Der kroatische Siemensdirektor im Interview: »Der Wert der Energie beträgt 45% des kroatischen Bruttosozialprodukts. Die Energie ist das Vis Vitalis Kroatiens. Hier wird sich Siemens sicher maximal engagieren.«


Imperialistische Moderation des Vernichtungs- und Vertreibungskrieges in Bosnien

Es fällt auf, daß im Unterschied zur Auseinandersetzung um die Zukunft des jugoslawischen Staates es in Bezug auf Bosnien-Hercegowina keine grundsätzlich differierenden imperialistischen Vorstellungen gab. Offenbar herrschte eine gewisse Übereinstimmung, nach der einmal erfolgten Durchsetzung der Ethnisierung des Sozialen im Krieg die »pluriethnische« bosnische Gesellschaft für ein Neuordnungsszenario im Balkanraum zu opfern, von dem perspektivisch stabile Verwertungsbedingungen zu erwarten sein würden. Dieses Szenario scheint keineswegs ein statisches zu sein, sondern aus bevölkerungs- und ordnungspolitischen Vorstellungen und den für uns so wenig sichtbaren Formen von Widerstand in der Verlaufsform des Krieges sich herauszubilden.
Der Krieg als Zerstörungs- und Neuordnungsinstrument allerdings sollte in modifizierten Bahnen verlaufen: die regionale Begrenzung und Steuerbarkeit mußte gewährleistet bleiben - die Befürchtung, ein Krieg in Ex-Jugoslawien könne sich unkontrolliert weiter ausbreiten, war zuvor ein Argument u.a. der US-Administration gegen die BRD-Eskalationspolitik gewesen. Zu diesem Zweck durfte ein gewisses Niveau an militärischen Mitteln nicht überschritten werden (wie z.B. Flächenbombardements der Luftwaffe oder größere Panzereinsätze). Maßgeblicher für den »low-intensity«-Charakter des Krieges ist jedoch, daß es sich nur sekundär um eine militärische Konfrontation konkurrierender Mächte handelt, sondern viel mehr um Terrorisierung, Vertreibung und Ermordung bestimmter Gruppen der Gesellschaft. (dazu Kapitel V) »Die sog. »ethnische Säuberung« ist nicht Folge, sondern Ziel deses Krieges.« (19)
Im folgenden einige der wesentlichen Elemente imperialistischer Steuerung des Krieges in Bosnien:
-Anerkennungspolitik gegen Bosnien
Nach den Wahlen in Bosnien-Hercegowina im November 1990, die die drei, nach ethnischen Kriterien gegründeten Parteien gewonnen hatten (19a), bildeten diese eine Koalition. Ein Viertel der Stimmen war auf Gruppen entfallen, die jedes ethnische Etikett verweigerten, und 20% der WählerInnen hatten sich enthalten. In der Folgezeit setzte eine Aufteilung aller von dieser Koalition eroberten Ämter und Positionen im Staatsapparat je nach ethnischen Mehrheiten in den jeweiligen Ortschaften bzw. Städten ein. »Dieses auf dem Kriterium der Ethnizität fußende Konzept bereitete der Zerstückelung des Landes und dem darauf folgenden Krieg den Weg.« (Dizdarevic , 20) Unter dem Einfluß des »serbo-kroatischen« Krieges setzten die nationalistischen Bewegungen ihre Formierung im Laufe des Jahres '91 weiter fort: Bildung von vier »autonomen serbischen Gebieten« gegen den Willen derjenigen, die sich nicht darunter subsummieren lassen wollten; v.a. hier Aufstellung paramilitärischer Formationen - laut der oppositionellen Belgrader Zeitung Vreme sind schon 250.000 Personen legal oder illegal mit Waffen ausgerüstet worden; Einmarsch von Einheiten der JNA (Jugoslawische Volksarmee), die zum großen Teil in mehrheitlich von »SerbInnen« bewohnten Ortschaften stationiert werden. (NZZ 3.10.91) Als Reaktion auf diese Tendenzen war aber auch eine breite Bewegung gegen Krieg und Nationalismus entstanden. »Zahlreiche Meinungsumfragen haben im Laufe der Jahre '90 und '91 eine deutliche Feinseligkeit gegenüber den neuen Machteliten zum Vorschein gebracht. Nach einer landesweiten Umfrage vom Mai 1990 waren 71% der Befragten gegenüber den 'Institutionen und Parteien, die nach nationalen Kriterien gegründet wurden'ablehnend eingestellt.« (Dizdarevic, ebd.) Gegen Jahresende '91 kommt es zu ersten Konfrontationen verschiedener Milizen. In dieser Zeit »wurde das Projekt der 'Kantonisierung'vorgestellt, und es folgt eine wahre »Kartomanie«, wobei sich jeder bemühte, eine 'gute'ethnische Unterteilung vorzuschlagen. Zum großen Entsetzen der Oppositionsparteien, der Friedensbewegung und der Bürger, Berufsverbände und Nichtregierungsorganisationen wurde dieser Gedanke von der Europäischen Gemeinschaft auf der Lissaboner Konferenz im Februar '92 aufgegriffen.« (Dizdarevic) Schon hatten sog. Experten errechnet, daß rund 2 Millionen Menschen umgesiedelt werden müßten, wenn »nur halbwegs national homogene Regionen« geschaffen würden. (taz 27.2.92)
Die nationalistisch aufgeladene Situation wird durch die EG-«Friedens«politik von zwei Seiten her verschärft: das (faschistische) bevölkerungspolitische Prinzip der nationalistischen Parteien, Siedlungsgebiete nach einer konstruierten ethnischen Zuordnung aufzuteilen, wird übernommen und zur Grundlage weiterer »Lösungen« und Verhandlungen gemacht - parallel wird die bosnische Regierung dazu gedrängt, die Anerkennung als Nationalstaat für Bosnien-Hercegowina anzustreben. Diese beiden von der EG-Diplomatie verfolgten (sich widersprechenden) Linien lieferte den Protagonisten militärischer Aufteilungspläne die Legitimation fürs Zuschlagen.
»Die Regierung Bosniens flehte denn auch darum, ihre Republik zunächst noch nicht völkerrechtlich aufzuwerten. Es half ihr nichts. Die EG verlangte ein Referendum über die Unabhängigkeit.« (Zeit 11.12.92) Es wird am 29.2./1.3.92 mit einem Ergebnis im Sinne der EG durchgeführt.( 21)
Obwohl die bosnische Regierung wegen der drohenden Konflikte verabredete, die Ausrufung der Unabhängigkeit aufzuschieben, ruft sie Präsident Izetbegovic am 3.3.92 dennoch aus. Der Alleingang Izetbegovics ist wohl damit zu erklären, daß er von dem damaligen US-Außenminister Baker zu diesem Schritt ermuntert worden war und dafür bestimmte Zusagen erhalten hat, die allerdings vom nachfolgenden US-Außenminister Eagleburger (Angehöriger der sog. »Belgrad-Connection« in Washington) nicht eingehalten wurden. (taz 21.6.93)
»Der Konflikt zwischen den beiden Bosnien, von denen sich das eine auf die zivile, multiethnische und laizistische Gesellschaft berief, das andere auf den Nationalismus, erreichte im März und Anfang April seinen Höhepunkt. Am 2. und 3.März (dem Tag der Unabhängigkeitserklärung) errichtete die Serbische Demokratische Partei (SDS). Barrikaden in Sarajewo, worin ihr bald ihre beiden `Partner' in der Koalition folgten. Tausenden von Demonstranten aller Nationalitäten gelang es, waffenlos die Straßen der Hauptstadt wieder freizuräumen. Im Laufe der folgenden Tage gingen zehntausend der Bürger in der ganzen Republik und vor dem Parlament auf die Straße, um ihre Verbundenheit mit der Integrität des Landes auszudrücken. Dieser letzte Ausdruck massiver Feindseligkeit gegenüber der Dreiparteien-Koalition, der Unterstützung des laizistischen Gedankens und einer friedlichen Lösung wurde von ‘vereinzelten Schützen' der SDP aufgelöst und von der internationalen Gemeinschaft ignoriert: der Krieg konnte beginnen.« (Dizdarevic) Am gleichen Tag schlagen Milizen der Parteien auch in anderen Regionen zu.
Im März '92 finden weitere Verhandlungen über die Aufteilung unter EG-Vermittlung statt, bei denen sich die Führungen der drei Parteien nicht einigen. Durch die Debatte über »Kantonsgrenzen« forciert, weiten sich die militärischen Aktionen aus. Am ersten Aprilwochenende kommt es in mehreren Städten und Regionen zu Kämpfen mit mehreren hundert Toten zwischen den rivalisierenden Gruppen (FR 7.4.92). Heckenschützen schießen in eine antimilitaristische Großdemonstration in Sarajewo. »Die Eskalation der Gewalt wird allgemein in Zusammenhang gebracht mit der möglichen Anerkennung Bosnien-Hercegowinas durch die Staaten der EG, deren Außenminister ausgerechnet am 6.April, dem Jahrestag des Angriffs Hitlers auf Jugoslawien im Jahre 1941, diese Frage erörtern.« (NZZ 7.4.92) Am 7.4.92 wird Bosnien-Hercegowina von EG - die BRD-Regierung hatte sich wieder besonders profiliert (FR 7.4.92) - und den USA als selbständiger Staat anerkannt. Die Auflösung Jugoslawiens war endgültig besiegelt. (NZZ 9.4.92) Kurz darauf gehen jugoslawisch/serbische Artillerie-Einheiten ungestört von internationalen Protesten in den Bergen um Sarajewo in Stellung. (FR 21.7.93)
Etwa zeitgleich, Anfang April '92, werden die ersten UNPROFOR-Soldaten in den drei »serbisch-kroatischen« Konfliktgebieten stationiert. Die dadurch freiwerdenden Truppenverbände der JNA und kroatische Verbände werden sukzessive nach Bosnien verlegt und unterstützen die dort kämpfenden Milizen.
Endgültig wird zur Gewissheit, daß die kroatischen und serbischen Machthaber nicht den Schutz nationaler Minderheiten bezwecken, wie sie behaupten, sondern einen »Eroberungsfeldzug« zur »Aufteilung und Einverleibung« Bosniens führen, worüber sie sich in seit März '91 stattfindenden »geheimen« Treffen abzustimmen versuchten (Borba, in Spiegel 20.4.92). Allerdings war man sich lange nicht über die Details einig geworden, um die es z.T. bis heute weitere militärische Auseinandersetzungen gibt. (u.a. ak 3.6.92)
Inzwischen sind etwa 1,3 Millionen Menschen zu Flüchtlingen gemacht worden - das BRD-Regime will mit einer verschärften Visumspflicht verhindern, daß bosnische Flüchtlinge in die BRD kommen. (WAZ 21.5.92)


UNO-Einsatz und Embargopolitik

In der öffentlichen Debatte um kriegsbeendende Interventionen wurden regelmäßig Boykottmaßnahmen gefordert. Seit Juli '91 gibt es ein Waffenembargo gegen alle jugoslawischen Republiken. Dies ist insofern irrelevant, weil insbesondere in serbischen und bosnischen Republik genügend Vorräte an Waffen und Munition vorhanden sind - hier befanden sich 60% bzw. 40% der Rüstungsproduktion, des größten Industriesektors Ex-Jugoslawiens. (22)
»Bisher hat die EG bloß die Vergünstigungen aus Handelsabkommen mit dem alten Jugoslawien gestrichen.« (NZZ 17.5.92) Ein umfassendes Handelsembargo, anfangs gegen alle Republiken, später nur gegen »Restjugoslawien«(BRJ) am 31.5.92 von der UNO verhängt, wird von einzelnen Nachbarstaaten »durchbrochen«. Es wird aber v.a. dadurch konterkariert, daß das von den Sanktionen nicht betroffene Bosnien schon bald zu 50% von serbischen Militär und Milizen kontrolliert wird. Dieser Importweg über die besetzten Gebiete liegt somit in deren Hand. In Anbetracht der zunehmend schlechter werdenden Versorgungslage und den rasant steigenden Preisen in Serbien werden sie diese Umstände sicher nutzen, ihre Kriegskassen aufzufüllen. Diese Form des von imperialistischen Gremien verordneten Embargos scheint den kriegführenden Parteien wohl wenig zu schaden, sondern z.T. sogar zu nutzen.Getroffen wird v.a. die Bevölkerung Serbiens, die in ihren Existenzgrundlagen angegriffen wird. Auch werden oppositionelle Bewegungen eher geschwächt, denn das Regime kann Ausnahmezustände und Notmaßnahmen mit dem Hinweis auf das Embargo begründen, außerdem fehlen ihnen dadurch Materialien, die zur politischen Arbeit nötig sind, der Regierung aber nach wie zur Verfügung stehen. (s.Süd-Ost-Dialog, 8/92)
Weitergehende Sanktionen werden später noch auf UNO-Ebene erwogen, aber nicht beschlossen. (NZZ 18.4.93) (23)
Die Stationierung von UNO-Truppen verlief in zwei Etappen. Gemäß dem Anfang '92 ausgehandelten »Friedensplan« für den »serbo-kroatischen« Krieg mit dem allerdings nicht alle Verteilungskonkurrenzen geklärt wurden, etablierte die UNO im April 14.000 Soldaten in sog. Schutzzonen. Doch die vorgesehene Entmilitarisierung und Entwaffnung »illegaler« Einheiten findet kaum statt; die Praxis der »ethnischen Säuberungen« wird in den »Schutzzonen« unter den Augen der UNPROFOR fortgeführt, wie die UNO-Truppen heißen, weiterhin fortgeführt; von geflohenen Familien verlassene Häuser werden geplündert; UNO-Soldaten bessern ihr Gehalt durch Waffen- und Munitionsverkäufe an Milizen auf; in einer internen Bilanz sieht die UNPROFOR den »Friedensplan« und das Konzept der »Schutzzonen« als gescheitert an. Dennoch wird ihr Mandat verlängert. (Zeit 16.4.93)
Im Mai '93 werden 1.500 , im November nochmal 5.500 UNO-Soldaten nach Bosnien entsandt. Ihr Auftrag besteht darin, den Flughafen von Sarajewo und die Auslieferung »humanitärer Hilfsgüter« abzusichern. Doch ob die Hilfslieferungen ankommen, hängt vom Willen der die Straßen kontrollierenden Milizen ab. (Zeit 16.4.93) Anfang Juni werden im Rahmen des »Bosnien-Plans« von EG und USA acht bosnische Städte zu UN-Schutzzonen erklärt, die von der UNPROFOR gesichert werden sollen.
Das von der UNO verhängte Flugverbot über Bosnien (vom 9.10.92) ist praktisch gegenstandslos, weil die belagerten Städte und Ortschaften zur Vertreibung der BewohnerInnen v.a. mit Bodenwaffen beschossen werden.
Um die Kampfhandlungen ganz zu beenden, so haben Friedensforscher errechnet, müßten 100.000 »Blauhelme« eingesetzt werden. (taz 11.5.93) Daß das nicht passiert, liegt nicht etwa an mangelnden Mitteln der »Weltorganisation« (24). Sondern der Zweck des UNO-Beteiligung besteht allein in der Legitimierung der interventionistischen Moderation zur regionalen Eingrenzung und dosierten Weiterführung der Kampfhandlungen, in der Kontrolle und Steuerung des »unkrontrollierten« low-intensity- und Bandenkriegs.


Die Verhandlungspolitik

Nach dem sog. Vance-Owen-Plan, am 4.1.93 erstmals vorgestellt, soll Bosnien in zehn Provinzen aufgeteilt werden. »Diese Teilung entspricht sicherlich eher der Wirklichkeit und der regionalen Tradition Bosnien-Hercegowinas, doch ist die vom Plan vorgesehene brutale Zerstückelung `ein Kompromiß zwischen einer rein ethnischen Teilung und einer Anerkennung territorialer Gewinne`«, die durch Vertreibungen und Massaker erzielt wurden. Der Plan sieht außerdem eine ständige Beteiligung und damit Kontrolle von EG- und UNO-Vertretern bei allen zukünftigen Schritten staatlicher Konstituierung und u.a. wichtiger Verkehrswege (!) vor. »Doch ist der größte Schwachpunkt des Plans, daß er das politische Leben auf zentraler wie auf regionaler Ebene auf die ethnischen Kräfte verengt. (...) Nur die drei Parteien werden das Recht haben, ihre Vertreter (...) in der Zentralregierung zu bestimmen« (alle Zitate Dizdarevic). Von den zehn Provinzen werden je drei den drei nationalistischen Parteien zugesprochen, Sarajewo wird gesondert aufgeteilt. Nachdem der Plan veröffentlicht wird, setzen sofort verstärkte »ethnische Säuberungen« ein, um die im Plan vorgeschlagenen Provinzgrenzen zu verschieben (Zeit 25.6.93). So haben z.B. kroatische Milizen begonnen, »Moslems« aus den ihnen zugedachten Provinzen zu vertreiben. (FR 21.7.93)
Bei unzähligen Verhandlungsrunden um den Plan kommt eine Einigung nicht zustande, die militärischen Einheiten nutzen den jeweiligen Zeitgewinn für weitere Vertreibungs- und Eroberungsaktionen.
Schließlich wird der Vance-Owen-Plan als gescheitert verworfen und Ende Mai '93 ein neuer US/EG-Plan präsentiert: die bisherigen Annexionen werden offiziell anerkannt, und die Gebiete, in denen »islamische« bzw. sich einer ethnischen Einordnung verweigernde Menschen leben sollen, werden auf Ghetto-Zonen in zwei räumlich getrennten Regionen Zentral- und Nordbosniens reduziert: »Schutzzonen als Reservate für Bosniens Muslime« (NZZ 25.5.93). Ein solcher zweigeteilter Staat wäre vollständig von ausländischer Hilfe abhängig. (Zeit 25.6.93)
»Den einheitlichen bosnischen Staat selbst haben die EG-Anerkennungspolitik und, auf ihr fußend, der Vance-Owen-Plan aber zur Fiktion gemacht, ehe das umfassende Erobern, Morden, Vergewaltigen und `Säubern'noch begann. Sie haben das Prinzip der territorialen Aufteilung auf ethnischer Basis als Grundlage allen Handelns und Unterlassens akzeptiert« (FR 2.5.93) - allerdings nicht nur akzeptiert, sondern ganz offensichtlich so gewollt.
Von nun an wird von seiten der US-und EG-Unterhändler massiver Druck auf den Vertreter der moslemischen Partei, Izetbegovic, ausgeübt, den Plan zu unterschreiben. (FN 25)
Unterdessen gehen die Kämpfe weiter, denn auch jetzt ist es wieder so, daß »für die drei Kriegsparteien die zentrale Frage ist, wer wie viele Teile von Bosnien-Hercegowina abbekommt. Und darüber wird im Prinzip nach dem aktuellen Frontverlauf entschieden. Folgerichtig versuchen alle Parteien, sich auf dem Schlachtfeld noch Verhandlungsmasse zu erobern.« (SZ 2.8.93)


Schluß

Bis jetzt, Anfang August '93, deutet alles darauf hin, daß die mit dem Krieg in Ex-Jugoslawien verbundenen Zielsetzungen sich realisieren. Nicht obwohl, sondern weil dieser Krieg so internationalisiert worden ist, wie wohl kaum ein anderer: UNO-Sanktionen, EG-Verhandlungen, Jugoslawien-Konferenzen, Interventionsdrohungen ... täuschten eine Vielzahl von Aktivitäten vor, dem Krieg ein Ende zu bereiten, und verlängerten ihn doch nur. Zu viele Interessen verbanden sich mit seiner Fortführung, und: auf der Seite der Machthabenden konnte es bei diesem »Krieg gegen die Bevölkerung« keine Verlierer geben - die isolierte muslimischen Partei ausgenommen. Hinter der bosnisch/muslimischen bzw. sich einer Ethnisierung verweigernden Bevölkerung stand keine Regional- oder Weltmacht - so konnte sie mit einem Krieg überzogen werden, der auf die Eliminierung einer nach kapitalistischen Verwertungskriterien definierten »Über(fluß)bevölkerung« zielt.
Die Internationalisierung schaffte die Legitimation für diesen Rationalisierungskrieg, in dem die Zonierungs- und Verwertungsinteressen des Imperialismus selbst umgesetzt werden. Sie stärkte zudem die autoritären Regimes in Kroatien und Serbien (FN 5b), die wahrscheinlich nichts so sehr fürcht(et)en, wie einen Stillstand der militärischen Konfrontation, und die jetzt als ebenbürtige Regionalmächte den Ausgangspunkt für eine (durchaus mit dem Mittel des Kriegs geführte) Neuordnung des Balkanraums fungieren werden.
Auf dem Hintergrund nationalistischer Formierung und kriegsbedingten Ausnahmezustandes konnten einige der sozialen und institutionellen Implikationen, die die »gesellschaftliche Blockade« Jugoslawiens ausgemacht hatten, ausgehebelt werden. Zu unterschätzen aber ist nicht die sozialpsychologische Dimension eines solchen Krieges mit seinen massenhaft begangenen und z.T. unvorstellbaren Grausamkeiten: die Zerstörung eines kollektiven Verständnisses von Gesellschaftlichkeit, in der es u.a. als Aufgabe der staatlichen Institutionen angesehen wird, für eine gesicherte Existenz aller zu sorgen. Mit der plötzlich hereinbrechenden und totalen Zerrüttung von Alltagswelten und Bezugssystemen sollen als selbstverständlich geltende soziale Rechte und Ansprüche auch im Bewußtsein in eine entfernt liegende Vergangenheit gebannt werden.
Mittlerweile wird für alle ex-sozialistischen Gesellschaften klagend konstatiert, daß die psychosozialen Voraussetzungen der Subjekte für eine Wendung des Deregulationsprozesses in eine neue, kapitalistisch transformierte Produktivität nur äußerst ungenügend vorhanden seien; denn allein die Umwidmung ehemals staatlicher Verfügungsgewalt über Produktionsmittel in eine private, die formale Einführung des Konkurrenzprinzips etc. reicht nicht. Um neue Formen gesellschaftlicher Rationalität nicht nur äußerlich durchzusetzen, müssen soziale Einstellungen und Wertvorstellungen ebenso »umstrukturiert« werden. Die »Produktivität des Krieges« entlang ethnisch-nationalistisch konstruierter Konfrontationslinien, wie in Jugoslawien vor unseren Augen planmäßig von den herrschenden politischen Klassen in Kooperation mit imperialistischen Vermittlungsagenturen und einem Großteil der Männer vollzogen, wird insofern zu einer Rationalisierungsvariante auch für andere Regionen Osteuropas.
Umsomehr sind wir gezwungen, jenseits der manipulierten Medienrealität die tatsächlichen antagonistischen Prozesse herauszufinden, um uns nicht ob der »Unübersichtlichkeiten« resignierend abzuwenden. Eine auch antiimperialistisch sich begreifende Politik müßte am Widerstand der Frauen, Flüchtlinge, Deserteure anknüpfen und sich um Verbindungen zu widerständigen Organisierungsformen bemühen, aber auch den sich neu formierenden BRD-Imperialismus jenseits eines »Nie wieder Deutschlands«-Mythos' zum Gegenstand der analytischen wie praktischen Auseinandersetzung machen.



1: So gibt es zur US-Balkan-Politik die verschiedensten Spekulationen: das US-Regime strebe einen starken Einfluß in der Großregion an, die dem ehemligen Osmanischen Reich einschließlich der südlichen Balkanländer entspricht - im Mittelpunkt die Türkei als aufstrebende Regionalmacht und als Brückenkopf zur Schwarzmeerregion (...). (WOZ 4.9.92) Bei Stärkung Serbiens durch die US-Diplomatie ginge es darum, den Einfluß der BRD in Südost-Europa einzudämmem (taz 4.1.93). Insbesondere aus französischen Regierungskreisen wurden die BRD-Vorstöße als neue Großmachtambitionen scharf kritisiert.
1a: »Im Kontext sich entwickelnder regionaler Interessen kann der Krieg auf dem Balkan zu einem entscheidenden politischen Instrumentarium werden. Ein Hinweis darauf kam kürzlich von Lawrence Eagleburger, dem amtierenden US-Außenminister, einem Diplomaten, der mehr als viele andere vom früheren Jugoslawien versteht. Er erwartet, daß begrenzte Kriege in der einen oder anderen Form langfristig den Charakter der Politik auf dem Balkan prägen.« WOZ,4.9.92; Siehe dazu auch »Folgeszenarien der jugoslawischen Auflösungskriege« in: Blätter f. dt.u. internat.Politik 8/93, S.982 ff.
1b: Trotz »sozialistischer Propaganda«, wegen derer z.B. die Zeitschrift konkret Sympathien für das serbische Regime entwickelte ging es auch dem serbischen Regime um die »Hauptaufgabe der Beseitigung ideologischer Zweifel« (NZZ 28.4.87), auch »Milosevic ist Befürworter durchgreifender marktwirtschaftlicher Reformen« (WiWo 28.10.88); eine serbische Kommission arbeitete Vorschläge zur Umsetzung von Marktwirtschaft und Demokratie im Rahmen einer Föderation aus (NZZ 24.8.89).
2: Auf serbischem Gebiet lebt anteilsmäßig nach dem Kosovo die meiste Landbevölkerung, gefolgt von der Vojvodina. Hier sind auch 60% des militärisch-industriellen Komplexes angesiedelt. Entsprechend der innerjugoslawischen Arbeitsteilung werden in den »östlichen« Republiken eher industrielle und agrarische Grund- und Rohstoffe produziert, während in Slowenien und z.T. Kroatien sich die Schwerkpunkte der für den EG- und Weltmarkt weiterverarbeitenden Industrien befinden. Von der Sozialstruktur her gibt es also in den »östlichen« Republiken eine größere unmittelbare Abhängigkeit vom Staatsapparat: Regulierung der Ankaufpreise für Agrarprodukte, Aufträge für Waffensysteme und Bezahlung von Pensionen, subventionierter Erhalt von Schlüsselindustrien aus nationalem und nicht ökonomischen Interesse. Dieses Phänomen finden wir auch in Bulgarien, Rumänien, der Slowakei und Albanien wieder - auch hier wurden von vergleichsweise bäuerlich geprägten Gesellschaften mehrheitlich ehemalige kommunistische Parteien gewählt. Die Renationalisierung stellt den problemlosen Übergang kollektivistischer Ideologien dar: vom Klasseninteresse zum nationalen Interesse usw., deren Grundlage die nationalstaatlich organisierte Wirtschaft ausmacht.
3: Anfang Februar `90 steigen die slowenischen Kommunisten aus der KPJ aus (NZZ 8.2.90), gleichzeitig wird die nationalisti­sche Bewegung für Unabhängigkeit in Slowenien und Kroatien immer stärker (taz 6.2.90).
4: bei den Wahlen in Kroatien und Slowenien gewinnen nationalistisch ausgerichtete Parteien, im März `90 beschließt das slow. Parlament Unabhängigkeit in ökonomischen und finanziellen Fragen (taz 10.3.90), am 2.7.90 erklärt es seine staatliche Souveränität (NZZ 5.7.90).
5: Anfang Juni`91 stellt die EG-Kommission einen Kredit über
ca. 1 Mia.$ und ein Assoziierungsabkommen in Aussicht; allerdings nur, wenn sich die Republikführungen »auf den Fortbestand Jugoslawiens einigen« und die »Demokratisierung« sprich: kapitalistische Transformation weiter voran­treiben (taz 1.6.91). US-Außenminister Baker kommt am 21.6.91 nach Jugoslawien. Er besteht ebenfalls auf Einheit und lockt mit einem 50 Mio.$-Kredit, dessen »Gewährung« weitere Kreditzustimmungen der US-Regierung z.B.im IWF zur Folge hätten. Außerdem werde die US-Regierung Kroatien und Slowenien auf keinen Fall anerkennen (HB 22.6.91). Baker soll sogar signalisiert haben, eine begrenzte militärische Intervention zu akzeptieren.
5a: So kursierten in imperialistischen Kreisen schon längere Zeit Überlegungen wie diese: Integrität UND »Reformen« ließen sich in Jugoslawien nicht gleichzeitig »fördern«, denn »eine Umorientierung Rich­tung Marktwirtschaft« sei v.a. in Serbien nicht in Sicht »und auch von der dortigen Opposition in ihrer derzeitigen Verfassung« nicht zu erwarten - eine »Wirtschaftsunion unterschiedlicher Systeme« könne aber keine »Lösung« sein; Kroatien und Slowenien dagegen planten schon, zusammen mit Bosnien-Herzegowina und Mazedonien einen sog. Clearing-Raum zu bilden, »um die bestehenden Handelsbeziehungen zu festigen«; auf diese »Vierergruppe« entfielen denn auch ca. 60% der Auslandsschulden, und nur Slowenien und Kroatien seien als »zahlungsfähige Schuldner« anzusehen, die auch die »Altlasten Mazedoniens und Bosniens« decken könnten und bereit dazu seien. »Diese Gruppe zusammenzuhalten wäre ein lohnenswerteres Ziel als das Streben nach einem von oben `geeinten' jugoslawischen Wirtschaftsraum einschließlich der kommunistisch regierten Landesteile (Serbien und Montenegro).« (alle Zitate NZZ 31.5.91)
5b: vgl. Predag Simic: Bürgerkrieg in Jugoslawien: Vom lokalen Konflikt zur europischen Krise , in: Südosteuropa Mitteilungen Nr. 1/93
6: Die Bundesregierung hatte 2000 Soldaten ohne Schießbefehl und scharfe Munition sowie unbewaffnete Polizisten in Bewegung gesetzt, um die slowenischen Grenzübergänge wieder in Bundesgewalt zu bringen. Die slowenischen Territorialstreitkräfte leisten jedoch überraschend heftigen bewaffneten Widerstand, was zur offenen Intervention der JNA führt, die jetzt Panzer und Luftwaffe einsetzt. Doch »die Aktion war schlecht geplant, die Kommunikation klappte nicht, 780 Soldaten desertierten, 1700 wurden gefangengenommen, davon 179 Offiziere« (NZZ 3.7.91).
7: In dem unter EG-Leitung zustandegekommenen »Abkommen von Brioni« vom 7./8.7.91 wird die staatliche Souverä­nität der slowenischen Republik faktisch bestätigt, wenn auch nicht ihre Sezession; »ein Sieg für Slowenien« (taz-Kommentar 9.7.91).
8: »Enthüllung« des kroatischen Präsidentenberaters Nobilo Mitte Juli '91 in der Londoner »Times«. Der kroatische Oppositionspolitiker Cicak berichtet in einem Spiegel-Interview, daß die ersten Absprachen schon im März stattgefunden haben und daß dabei die Absetzung Markovics und die Teilung Bosniens besprochen worden sei. Auf die Frage, wie konkret die Vereinbarungen waren :«Es existierte eine detaillierte Karte darüber.Gleichzeitig wurde eine Geheimkommission formiert. Den Kroaten wurde gleich beim ersten Treffen mitgeteilt, daß Serbien im Besitz eines NATO-Papiers sei, in welchem die Vertreibung der Moslems als wünschenswert angesehen werde, man also keine internationalen Hindernisse zu erwarten habe.« (Spiegel 28.6.93)
9: Ähnlich wie in der ehemaligen SU, wo sich ein westlicher Suchprozess zwischen Zentralität, Konföderation und Unabhängigkeit bewegte und wo das Notstandsregime vom August '91 anfänglich als »südkoreanische Entwicklungsvariante« akzeptiert wurde. Erst die Schwäche des Regimes ließ die europäische politische Klasse umschwenken.
10: Im Oktober '91 drängen die SPD-Politiker Voigt und Gansel nach einem Aufenthalt in Ex-Jugoslawien zur raschen Anerkennung Sloweniens und Kroatiens und setzen diese Haltung schließlich auch in der SPD-Fraktion durch. Voigt und Gansel gehören mit Gernot Erler und Günther Verheugen auch zu den SPD-Politikern, die im Sommer und Herbst '91 regelmäßig mit Außenminister Genscher die Jugoslawienpolitik erörtern. Am 14.11.91 fordert der Bundestag in einer Resolution mit großer Mehrheit und den Stimmen großer Teile von SPD und Bündnis 90/Grüne die Bundesregierung zur Anerkennung Kroatiens und Sloweniens auf.
FN 11: Die britische Regierung soll als »Gegenleistung« die Zustimmung für ihren Austritt aus der in den Verträgen vorgesehenen »Sozialcharta« und die vier »armen« Staaten Spanien, Portugal, Griechenland und Irland Finanzierungen für den EG-internen Ausgleichsfonds erhalten haben. (taz 6.4.93)
Von Juli '91 bis zur Anerkennung durch die BRD Ende Dezember '91 wiederholte die Bundesregierung ständig ihre Forderungen, wenngleich sie immer auch beteuerte, sich an ein gemeinsames Vorgehen im EG-Zusammenhang zu halten. Gleichzeitig gab es mehrfach offizielle Kontakte zur slowenischen und kroatischen Führung, bei denen ihnen Unterstützung zugesagt wurde. Über den BND wurden Waffenlieferungen zum Aufbau der Territorialeinheiten zu Armeeverbänden organisiert. (vgl. »Frieden«, Heft 9-10, 1991)
12: So warf z.B. die niederländische Regierung Mitte September '91 der kroatische Führung vor, »die Gewalt zu eskalieren«; die deutsche Diplomatie sei mit ihrer Anerkennungsdrohung für die neuen Gewaltausbrüche verantwortlich (FR 16.9.91). Mitte November '91 konstatierte der kroatische Botschafter in Bonn, ohne die Hilfe der BRD »hätten wir bis jetzt gar nicht standhalten können« (FR 18.11.91). Im November '91 gewährte die Bonner Regierung Kroatien einen Kredit über 10 Mio. DM, wobei die symbolische Bedeutung zu diesem Zeitpunkt wichtiger war als die Höhe des Betrags. (FR 26.11.91) Am 16.11.91 stellt ein NZZ-Kommentator fest, die BRD-Regierung »konterkariere die EG-Friedensgespräche« durch ihre Anerkennungsvorstöße. Auf dem EG-Gipfel Anfang November '91 kündigt Kohl an, den slowenischen und kroatischen Ministerpräsidenten nach Bonn einzuladen, um über zusätzliche Hilfsmaßnahmen zu sprechen; Genscher plädiert noch mal für Anerkennung; unmittelbar nach dem Gipfel werden wieder heftige Kämpfe in Jugoslawien geführt. (NZZ 10.11.91) Mit den beiden Ministerpräsidenten wird in Bonn Anfang Dezember '91 das Prozedere des Anerkennungsverfahrens geklärt und, die BRD-Regierung kündigt ihre Unterstützung für zukünftige EG-Assoziierungsverhandlungen an. Eine deutsch-slowenische Wirtschaftskommision wird geplant. (NZZ 5.12.91) Außerdem sollen beide Republiken von den von der EG beschlossenen Sanktionen gegen Jugoslawien ausgenommen werden. (NZZ 77.12.91) Obwohl die von BRD-Staatsrechtlern ausgearbeitete Verfassung Kroatiens nicht die von der EG festgelegten Anerkennungskriterien in Frage der Minderheitenrechte erfüllt, werden Kroatien und Slowenien am 19.12.91 von der BRD (es folgt der Vatikan) anerkannt.
13: Ein symbolischer Ausdruck dafür ist die geplante Einführung einer neuen Währungseinheit in Kroatien: der »Kuna«. Dieser hatte bereits unter der faschistischen Regierung 1941-45 gegolten. (WAZ 12.8.93) S. dazu auch das neueingeführte reaktionär-sexistische Familienprogramm (s. Kap.4)
14:So am 16.12.91 mit Polen, Ungarn und der CFSR - der BRD-Anteil an den EG-Importen und- Exporten mit diesen Ökonomien beträgt 50% bzw. 60%.
15: Vgl. dazu: Jürgen von Hagen: Verwirklichung der Europäischen Währungsunion, in: Politik und Zeitgeschichte, 9.7.93
16: Hans Peter Stihl, »Chance Europa Die europäische Einigung aus der Sicht der deutschen Wirtschaft« in Politik und Zeitgeschichte 1.1.93
17: Interview mit Roland Berger im Spiegel 18/92
18: Vgl. Autonomie Nr.14, S.217 ff, Berlin '87 und »Die Intervention der BRD in den jugoslawischen Bürgerkrieg«, GNN-Verlag 1992
19a: Serbische Demokratische Allianz (SDS) mit Vorsitzendem Karadciz und Kroatische Demokratische Gemeinschaft (HDZ) mit Vorsitzendem Boban - beide arbeiten eng mit den Regierungsparteien in Serbien bzw. Kroatien zusammen und werden von ihnen unterstützt. Aber auch die nationalistische »muslimische« Vereinigung für demokratische Aktion (SDA), die ebenso wie die anderen Parteien für einen eigenen (muslimischen) Staat eintrat (taz 23.11.90), und ihr Vorsitzender Izetbegovic haben auch als Regierungspartei nicht aufgehört, als muslimische Partei zu agieren und in Verhandlungen nur die Interessen ihrer Anhängerschaft zu vertreten. »Hätte Izetbegovic wirklich Bosnien, wie er vorgab, als Staat aller seiner BewohnerInnen erhalten wollen, hätte er sich für eine andere Regierungskoalition mit nicht-nationalistischen politischen Parteien stark machen müssen.« (WOZ 2.4.93)
19: T.Mazowiecki, Beauftragter der UNO, in seinem Bericht über die Lage der Menschenrechte in Ex-Jugoslawien. Dieser Bericht wurde lange Zeit nicht in vollem Umfang veröffentlicht. (Zeit 11.12.92)
20: Svebor Dizdarevic:«In der Geiselhaft der Milizen - Eine bosnische Kritik des Vance-Owen-Plans« in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 5/93 S.553 ff
21: Die Wahlbeteiligung lag bei 63%, die »serbische« Bevölkerung boykottierte die Abstimmung ; 99,4% der abgegeben Stimmen sind für Unabhängigkeit.
22: »Der Krieg in Bosnien-Hercegowina ist relativ autark führbar. Zum einen befanden sich hier etwa 40% der rüstungsindustriellen Kapazitäten Jugoslawiens. Trotz Beschädigung oder Zerstörung von Rüstungsproduktionsanlagen können sich die Kriegsparteien aus eigenen Fabriken 'bedienen'. Hinzu kommt, daß die Kriegsführung relativ wenig treibstoffintensiv ist. Der Kampf wird überwiegend mit leichten, infanteristischen Waffen geführt. Außer der schweren Artillerie, die überwiegend von den Serben in Bosnien eingesetzt wird, beobachten wir eine relative Abwesenheit von militärischem Großgerät (Kampfpanzer).« aus: Kommentierte Chronik des Jugoslawien-Konflikts, Forschungsinstitut für Friedenspolitik e.V. (vgl. Anhang)
23: Der Anfang '93 als EG-Ratspräsident amtierende Ministerpräsident Dänemarks zählt in einem Spiegel-Interview auf, welche zwingenderen Embargomöglichkeiten angewandt werden könnten: Ausschluß aus allen internationalen Organisationen, Abbruch der diplomatischen Beziehungen, völliges Handelsembargo, Unterbrechung aller Kommunikationswege,Telefon, Telefax, Straßen, die Kosten für die Nachbarstaaten müßten »alle« übernehmen. Laut Pressebeichten wurde mit Rücksicht auf die Interessen der russischen Führung in ihrer innenpolitischen Auseiandersetzung mit Reformgegnern auf weitergehende Sanktionen gegen die BRJ verzichtet.
24: Auch an der banalen Tatsache, daß die UNO trotz ihres angeblichen Bedeutungszuwachses als »neutralere« weltweite »Krisenbewältigungsinstitution« ständig in Finanznöten ist und z.B. die US-Regierung ihren Zahlungsverpflichtungen nicht nachkommt, zeigt sich ihre Funktion als relativ machtloses Durchsetzungsinstrument imperialistischer Interessen (Sie hat »kürzlich damit gedroht, sie müsse Bankrott anmelden, weil ihr allein die USA 480 Mio.$, die armen Drittländer weitere 500 Mio.$ Schulden. (Spiegel 2.12.91))
25: Die spektakuläre Androhung der Nato Anfang August, u.U. serbische Stellungen zu bombardieren, bezog sich allein auf die Blockierung von Hilfslieferungen, nicht aber auf Belagerungen und Vertreibungen. Außerdem sollte Izetbegovic, der aus Protest gegen den »Schutzzonenplan« den Verhandlungen ferngeblieben war, wieder an den Tisch gezwungen werden, denn sonst kämen militärische Interventionen zugunsten seiner Partei überhaupt nicht in Betracht. (FAZ 11.8.93)

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